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Dürfen müssen! Thuswald weiß: "Die Frauen eignen sich Überlebenskompetenz an, schaffen sich einen Arbeitsalltag und fühlen sich im Recht, weil sie niemandem etwas wegnehmen." Bespuckt, beschimpft, körperliche Leiden, rapides Altern.

Dürfen müssen!

Schwerpunkt

Betteln ist kein anerkannter Beruf, doch manchen bleibt zum Überleben kein anderer Ausweg. Bettelverbote helfen einzig jenen, die keine Armut sehen wollen.

Die neu gekürte Finanzministerin Maria Fekter nennt als Ziel, den Wohlstand des Landes zu vermehren. Von jeglichem Wohlstand sind Menschen entfernt, die für einige Tage, maximal Wochen, etwa aus der Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Ungarn zum Betteln nach Österreich kommen - sie kämpfen ums pure Überleben. Doch Betteln heißt Armut. Ein Zustand, der nicht willkommen ist. Bis auf das Burgenland (Ausnahme Eisenstadt), haben alle Bundesländer Bettelverbote erlassen. Wer gegen das landesweite oder gewerbsmäßige Bettelverbot in Wien verstößt, darf mit rigorosen Strafen bis zu 2.000 Euro rechnen. Einen Überblick über die Bettelverbote bietet: bettelverbot.at.

Betteln ist lästig

"In letzter Zeit kommt es in Wien wieder verstärkt zu aggressivem Betteln unter dem Vorwand, Zeitungen verkaufen zu wollen. Die 'Kolporteure‘ lauern dabei vor allem vor den Supermärkten auf ihre Kundschaft ...", schreibt "Österreich" am 15. Februar 2011 und schürt Ängste. "Was beim Betteln als aggressiv gilt, ist im Alltag normal und wird nicht als aggressiv wahrgenommen", erklärt die Bildungswissenschafterin und Sozialpädagogin Marion Thuswald. "Ich kann mir vorstellen, dass Betteln lästig sein kann - die Grundrechte dürfen aber nicht beschnitten werden, nur weil einigen etwas 'lästig‘ ist." Unter dem Titel "Betteln als Beruf? Wissensaneignung und Kompetenzerwerb von BettlerInnen in Wien" hat Thuswald, 32, ihre Diplomarbeit verfasst. "Im Nachhinein denke ich, es ist sehr heikel vom Betteln als Beruf zu sprechen, denn das wird gern als Argument gegen BettlerInnen verwendet." Als Mitbegründerin der BettelLobbyWien (http://bettellobbywien.wordpress.com), die 2008 aus einer Arbeitsgruppe der Armutskonferenz entstand, ist Thuswald eine strikte Gegnerin der Bettelverbote. "Ich will nicht betteln, aber dürfen muss ich", lautet das Plädoyer. Verteidigt wird das Grundrecht auf Betteln, gekämpft wird u. a. gegen Vorurteile und Behördenwillkür, geboten werden zahlreiche Informationen und Workshops. Ein Klick auf den Spendenkonto-Button lässt wissen: "Bitte überreichen Sie Ihre Spende persönlich an die nächste Bettlerin, den nächsten Bettler, den Sie treffen!" Thuswald: "Ich finde es wichtig, dass sich die Leute informieren können. Denn selbst in linken Kreisen werden die Bettelmafia-Mythen weitergegeben. Selbstorganisation gibt es überall, aber hier wird sie als organisiertes Betteln kriminalisiert. Wenn drei Leute gemeinsam betteln gehen, ist das ein Verwaltungsdelikt." Eine Hilfestellung für BettlerInnen bieten Informationsblätter in den Sprachen Slowakisch, Ungarisch, Rumänisch und Bulgarisch. Handeln und nicht wegsehen: "Es ist wichtig, bei Übergriffen gegen BettlerInnen einzuschreiten, weil es den Menschen auch zeigt, dass sie uns nicht egal sind."
Das Interview findet im Wiener Museumsquartier statt, unweit von Thuswalds Büro - sie arbeitet als Universitätsassistentin an der Akademie der Bildenden Künste Wien, Fachbereich Kunst und Kulturpädagogik. Zwischen Museen, Touristen und Enzis bitten täglich viele Menschen um eine Spende - von Aggression keine Spur. Marion Thuswald winkt einem Bettler ab: "Ich habe kein schlechtes Gewissen, auch einmal nichts zu geben. Ich finde es aber wichtig, dass die Menschen den öffentlichen Raum nutzen dürfen und gehe bei BettlerInnen nicht von mafiösen Strukturen aus." Als Mutter von zwei Töchtern, acht und fünf Jahre alt, hat Thuswald gelernt, die Hilfe fremder Menschen in Anspruch nehmen zu müssen: "Das war ein langsamer Prozess. Es ist sehr schwer, Menschen anzusprechen und um Hilfe zu bitten."
Sechs Frauen aus Rumänien und der Slowakei hat Marion Thuswald im Juni 2006 für ihre Diplomarbeit interviewt. "Ich bin mit der Übersetzerin und meiner jüngsten Tochter im Tragetuch in Wien herumgezogen. Mein Kind hat sicher als Vertrauensbonus gewirkt." Die Erfahrungen auf der Straße standen bei den Interviews stets im Vordergrund. Wie finde ich einen Schlafplatz, wo setze ich mich hin, was sage ich, und wie gehe ich mit der Polizei um? Thuswald weiß: "Die Frauen eignen sich Überlebenskompetenz an, schaffen sich einen Arbeitsalltag und fühlen sich im Recht, weil sie niemandem etwas wegnehmen." Bespuckt, beschimpft, körperliche Leiden, rapides Altern. Trotzdem: "Frauen, die schon zwei Jahre betteln, sind zwar körperlich fertig, aber sie sind oft selbstbewusst." Wiederholter Verstoß gegen das Bettelverbot kann sogar zu Aufenthaltsverboten führen. "BettlerInnen besitzen die 'Frechheit‘, uns die Armut täglich vor Augen zu führen." Hilfe sieht anders aus: "Manche Leute plustern sich damit auf, dass den BettlerInnen mit dem Bettelverbot geholfen wird - das ist zynisch, denn man nimmt den Menschen die Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten."

Bettelverbot in der Steiermark

An der Karl-Franzens-Universität Graz haben Barbara Tiefenbacher und Stefan Benedik am Institut für Geschichte die Studie "Bettlerflut? Bilder und Kontexte transnationaler Romani Migrationen in die Steiermark" (Leitung Heidrun Zettelbauer) verfasst. Tiefenbacher, 27, stammt aus dem Waldviertel, hat Bohemistik in Wien und Romistik in Prag studiert. Derzeit arbeitet sie an ihrer Doktorarbeit - gemeinsam mit den Kollegen Benedik und Wolfgang Göderle wird das Dissertationsprojekt "Shifting romipen" (DOC-Team-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) erarbeitet. Von 2007 bis 2008 lebte Tiefenbacher in einer Romasiedlung im Dorf Roškovce in der Region Zips, nordöstliche Slowakei. Die Arbeit mit den Kindern der Siedlung (Fotoprojekt www.benedik.cc/owneyes) und Erfahrungen mit Rassismus wie Armut prägen.

Es bleibt nichts übrig, als zu betteln

Gemeinsam mit den Diskussionen um das steirische Bettelverbot Grund genug für die Studie: "Mein Kollege Stefan Benedik hat sich als erster mit den BettlerInnen in Graz auseinandergesetzt, den Mediendiskurs seit 1996 aufgearbeitet. Wir haben Menschen im Bezirk Rimavská Sobota, in dem sich auch die Ortschaft Hostice befindet, besucht, die wir als BettlerInnen in Graz kennengelernt haben. Die Leute haben bis zum Ende des Kommunismus einen Job gehabt, der ihnen einen Lebensstandard garantiert hat. In ihrer Herkunftsregion haben sie keine Möglichkeit eine Arbeit zu finden, werden als Roma und Romnija wahrgenommen und diskriminiert. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu betteln." Die häufigste Gegenfrage in den Interviews war jene nach Arbeit. Das erbettelte Geld wird zumeist in Schulmaterialien, Fahrtkosten und Stromrechnungen investiert. "Um zum Betteln nach Österreich zu fahren, muss man auch die finanziellen Möglichkeiten haben, etwa das Benzingeld für eine Fahrgemeinschaft." Von Hostice sind es über 500 Kilometer bis nach Graz. "Die Menschen müssen auch das nötige Know-how haben, wissen, wo sie betteln können und wo sie ein Dach über dem Kopf finden."
Aggression hat auch Barbara Tiefenbacher nie erlebt: "Die Grazer BettlerInnen sitzen stillschweigend am Straßenrand. Es muss möglich sein, dass die Leute aus eigener Kraft versuchen, ihre Situation zu verbessern. Die Sozialhilfe, rund 100 Euro im Monat, reicht bei weitem nicht aus, denn die Preise für Lebensmittel sind auf österreichischem Niveau." Wie es nach dem Beschluss für das steirische Bettelverbot weitergehen soll, wissen die Menschen nicht: "Viele der BettlerInnen sagen, sie werden halt nur noch von Wasser und Brot leben. Man darf nicht vergessen, dass man mit den Sozialprojekten niemals alle erreichen kann."

16 Fragen zum Thema

Die häufigsten 16 Fragen zum Thema Betteln werden auf der Internetseite des ETC-Graz unter www.etc-graz.at/typo3/index.php?id=1164 beantwortet. Basis sind wissenschaftliche Arbeiten. Den Text haben u. a. Tiefenbacher, Benedik, Wolfgang Benedek, Vorsitzender des Grazer Menschenrechtsbeirats, und die Regisseurin Ulli Gladik (Dokumentation "Natasha", das Porträt einer bulgarischen Bettlerin; die DVD ist unter ul.gladik@gmx.at zu bestellen) verfasst.

Schreiben Sie Ihre Meinungan die Autorin
sophia.fielhauer@chello.at 
oder die Redaktion
aw@oegb.at 

INFO&NEWS
"Betteln in Österreich. Eine Untersuchung aus theologisch-ethischer Perspektive", Diplomarbeit von Ferdinand Koller unter bettellobbywien.wordpress.com
Buch "Urbanes lernen - Bildung und Intervention im öffentlichen Raum" von Marion Thuswald (Verlag Löcker)
www.vinzi.at (Vinzenzgemeinschaft)
www.bettellobby.at (BettelLobby Österreich)
tinyurl.com/689sb7l 
www.salzburger-armutskonferenz.at 

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