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Economic Governance Die Lohnentwicklung soll möglichst niedrig ausfallen oder gar rückläufig sein, um Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Damit soll das deutsche Modell zum Vorbild für die gesamte EU gemacht werden.

Economic Governance

Schwerpunkt

Ist die EU-Wirtschaftsregierung der Einstieg in einen Wettbewerb des Lohn- und Sozialdumpings?

Ein ganzes Bündel von Vorschlägen für eine verstärkte wirtschaftspolitische Koordinierung in der EU ("Economic Governance") kursiert derzeit in Brüssel und Europas Hauptstädten. Was auf den ersten Blick positiv klingt, könnte die entscheidende Weichenstellung für ein europäisches Wettbewerbsmodell niedrigster Löhne und Sozialstandards sein. Schon bei der Umsetzung der Rettungspakete für Griechenland und Irland hatte die Kommission massiv auf die Senkung von Mindestlöhnen gedrängt und Einschränkungen der KV-Geltung verlangt. Europas Gewerkschaften und der ÖGB protestieren gegen diese neoliberale Neuausrichtung der EU. 

Pakt für Wettbewerbsfähigkeit

Die Verwirrung scheint perfekt: Nach den Vorschlägen für die Economic Governance, auch "EU-Wirtschaftsregierung" genannt, forderten Deutschland und Frankreich Anfang 2011 plötzlich einen "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit", der seit Wochen verhandelt wurde und beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs Ende März beschlossen werden sollte. Doch dieser Pakt geht in die gleiche Richtung: Er ergänzt die bisherigen Vorschläge der Kommission und geht in einigen Bereichen deutlich darüber hinaus. Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident Van Rompuy hatten einen Vorschlag ausgearbeitet, der für die Staaten der Eurozone verbindliche Vorschriften vorsieht, deren Einhaltung regelmäßig überprüft werden soll. Mit einer koordinierten EU-Wirtschaftspolitik, wie sie die Gewerkschaften seit Jahren fordern und die Wachstum und Beschäftigung in den Mittelpunkt stellt, hat dieser "Pakt" aber nichts gemein. Im Gegenteil: Er stellt Löhne und Produktivitätsentwicklung in den Mittelpunkt, beides soll in Zukunft streng überwacht werden. Die Hauptstoßrichtung ist klar: Die Lohnentwicklung soll möglichst niedrig ausfallen oder gar rückläufig sein, um Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Damit soll das deutsche Exportmodell der vergangenen Jahre, das zu einem Großteil für die gefährlichen makroökonomischen Ungleichgewichte in der EU mitverantwortlich war, zum Vorbild für die ganze EU werden. In den ursprünglichen Vorschlägen wurde selbst vor Eingriffen in die Lohnpolitik nicht halt gemacht, die KV-Autonomie der Sozialpartner in Frage gestellt. Die Proteste des ÖGB und des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) haben hier eine Entschärfung gebracht, sodass nun die Tarifautonomie ausdrücklich garantiert wird. Dennoch beinhaltet der Pakt weiter inakzeptable Punkte. Er verschärft die Sparpolitik auf dem Rücken der ArbeitnehmerInnen, sollen doch Leistungen der öffentlichen Pensionssysteme, die Gesund-heitsversorgung und Sozialleistungen allgemein in Zukunft unter dem Gesichtspunkt der "langfristigen Tragfähigkeit" reformiert werden. Auch die Arbeitsmärkte sollen weiter im Sinne von "Flexicurity" reformiert werden.
Eine besonders unrühmliche Rolle spielt in der Diskussion Wirtschafts- und Währungskommissar Olli Rehn. Immerhin sagt der unverblümt, worum es geht: "Die Lohnpolitik wird das Kernstück des Wettbewerbsfähigkeitspaktes der Euro-Zone sein", so der Kommissar Anfang März zum Handelsblatt. Doch er geht noch weiter: Er greift Flächenkollektivverträge an und fordert "dezentrale Lohnabschlüsse" auf Unternehmensebene, um die Inflation niedrig zu halten und das Wachstum zu fördern. Die Stoßrichtung ist auch hier eindeutig: Durch Verlagerung der KV-Verhandlungen auf betriebliche Ebene sollen allgemeingültige Lohnerhöhungen erschwert werden.

"Dumme Lohnerhöhungen"?

Der Chef der europäischen Zentralbank (EZB), Jean-Claude Trichet, legte gleich nach und verurteilte Lohnerhöhungen in der Eurozone: "Das wäre das Dümmste, was man machen könnte." Es ist eine breit angelegte Strategie der Kommission, einer Reihe von Mitgliedsstaaten und der EZB, dass die Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise in erster Linie von den ArbeitnehmerInnen getragen werden sollen. Der EGB entgegnete Trichet sofort. "Zielen Sie auf das richtige Ziel - die Banker, nicht die ArbeitnehmerInnen!", rief EGB-Generalsekretär John Monks die wirklich Verantwortlichen für die Krise und ihre finanziellen Folgen in Erinnerung. Für sie heißt es "Business and Boni as usual". Eine weitere Lohnzurückhaltung würde eine Wachstumsbremse darstellen und zu einer Schwächung der Binnennachfrage führen.
Das eigentliche Gesetzespaket der Kommission für eine stärkere wirtschaftspolitische Steuerung, die "Economic Governance", geriet dabei fast in den Hintergrund. Dabei sind die Ende September 2010 vorgeschlagenen sechs Rechtsakte, die derzeit in Rat und EU-Parlament beraten werden, von mindestens ebenso großer Sprengkraft: Sie reichen von einer Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes bis zur Bekämpfung "makroökonomischer Ungleichgewichte". Haushaltsdisziplin und Schuldenstände der Mitgliedsstaaten sollen noch stärker bekämpft werden, die haushaltpolitische Überwachung wird verschärft. Vorgesehen sind auch finanzielle Sanktionen gegen Mitgliedsstaaten, die die Ziele nicht erreichen: Sie können von verzinslichen Einlagen in Höhe von 0,2 Prozent des BIP bis zu Strafzahlungen und verstärkten Sanktionen führen. Besonders bedenklich: Die Strafzahlungen sollen nach Willen der EU-Kommission durch eine demokratiepolitisch fragwürdige "umgekehrte Mehrheitsregel" quasi automatisch in Kraft treten: Sanktionsvorschläge der Kommission gelten als angenommen, wenn sie der Rat nicht innerhalb von zehn Tagen mit qualifizierter Mehrheit ablehnt.

Warnmechanismus geplant

Einer der Vorschläge umfasst die regelmäßige Bewertung makroökonomischer Ungleichgewichte und führt einen Warnmechanismus ein. Mit ausgewählten Indikatoren sollen "problematische makroökonomische Ungleichgewichte" ermittelt und bekämpft werden. Über die Indikatoren herrscht Unklarheit, allerdings sollen wieder "Lohnstückkosten" herangezogen werden - also erfolgt auch im Economic-Governance-Pakt eine Bezugnahme auf (steigende) Löhne. Hier vermutet nicht nur der EGB einen weiteren Angriff auf Lohnpolitik und Tarifautonomie der Gewerkschaften: "Je nach Art des Ungleichgewichts können die Politikempfehlungen beispielsweise auf finanz- und lohnpolitische (!) Aspekte abstellen." Mit Änderungsanträgen versuchen die Gewerkschaften über das EU-Parlament noch Entschärfungen der Pläne zu erreichen.
Gleich zu Jahresbeginn hat mit dem sogenannten "Europäischen Semester" ein weiterer Koordinierungsprozess der nationalen Budgetpolitik begonnen, der einen stärkeren Einfluss der EU auf die Haushaltspolitik bringen soll. Der erste Schritt, der "Jahreswachstumsbericht" der EU-Kommission, legte die wirtschaftspolitischen Schwerpunkte der neuen EU-2020-Strategie fest und lässt nichts Gutes erahnen. Schon hier verlangte die Kommission "strikte Lohndisziplin" zumindest für verschuldete Mitgliedsstaaten, eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors und eine Anhebung des Pensionsantrittsalters. Natürlich soll auch der "übermäßige Schutz" unbefristeter Arbeitsverträge bekämpft sowie eine Reform angeblich "verkrusteter Arbeitsmärkte" angegangen werden. All diese Initiativen haben eines gemeinsam: Sie bedeuten nichts Geringeres als eine völlige Umkehrung des Projektes Europa. Während in den vergangenen Jahren vorsichtige Schritte in Richtung Sozialunion gemacht wurden, nicht zuletzt durch neue Vorschriften im Vertrag von Lissabon, soll die EU wieder zu einem einseitig neoliberal ausgerichteten Projekt gemacht werden: Zu einer Wettbewerbsgemeinschaft, in der Staaten um die niedrigsten Löhne und die "tragfähigsten" (= sprich bescheidensten) Sozialsysteme konkurrieren. Dies werden die Gewerkschaften nicht hinnehmen.

Aktionstag am 9. April 2011

ÖGB-Präsident Erich Foglar kritisierte die Ausrichtung der EU-Politik mehrmals vehement und rief den historischen Konsens beim EU-Beitritt Österreichs in Erinnerung: "Die Idee der EU war nicht ein Lohn- und Sozialwettbewerb nach unten." Der EGB stellt gar seine prinzipielle Unterstützung für das Projekt Europa in Frage und wird den für die Economic Governance notwendigen Vertragsänderungen nicht zustimmen. Die drohende Neuausrichtung der EU wird auch den EGB-Kongress in Athen vom 16. bis 19. Mai thematisch bestimmen. Sowohl beim EU-Gipfel am 24. März in Brüssel als auch zum europäischen Aktionstag am 9. April in Budapest plant der EGB massive Protestaktionen, an denen sich der ÖGB beteiligen wird.

Internet:
ÖGB-Europabüro
www.oegb-eu.at 
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