topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Richtiger, aber nur erster Schritt Grundlegend neu gestaltet wurde auch das Verhältnis zwischen der Landesebene und dem AMS. Leider ist aus dem angestrebten "one-stop-shop" für alle Arbeitsfähigen beim AMS vorerst nur ein "Briefkasten" für die BMS-Anträge geworden.
Buchtipp

Richtiger, aber nur erster Schritt

Schwerpunkt

Seit September 2010 existiert die bedarfsorientierte Mindestsicherung in Österreich - ein Handbuch zeigt Stärken und Schwächen.

Vor vier Jahren wurde im Sozialministerium die Arbeitsgruppe Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) eingesetzt. In zahlreichen Sitzungen konnte dort auf Ebene der ExpertInnen ein Kompromiss gefunden werden, der sachlich stimmig und politisch durchaus herzeigbar schien. Dieses Ergebnis, das bereits im Frühjahr 2008 vorlag, wurde dann in unzähligen politischen Runden modifiziert. Zuerst gab es Widerstände einzelner Länder, auch die Begeisterung beim AMS über zusätzliche Aufgaben war begrenzt. Die großen Einschnitte kamen freilich erst auf Ebene der Bundesregierung, insbesondere durch die Einschränkung auf eine nur 12-malige Auszahlung und die "Erfindung des Jahres 2010": die Transparenzdatenbank. 

Start am 1. September 2010

Am 1. September 2010 sind die Umsetzungsregelungen, zu denen sich der Bund verpflichtet hat, sowie die Ländervorschriften in Niederösterreich, Salzburg und Wien in Kraft getreten. Nachdem im Herbst alle Landtage die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern nach Art. 15a B-VG genehmigt hatten, ist diese Anfang Dezember wirksam geworden. Ihre Umsetzung steht dennoch in zwei Ländern immer noch aus. Diese Verzögerung ist angesichts des langen Vorbereitungsprozesses unverständlich. Zudem ist für jemanden, der an der Ausarbeitung der ursprünglichen Vorschläge beteiligt war, bei den nun vorliegenden Ergebnissen nicht immer leicht zu erkennen, dass es sich noch um dasselbe Projekt handelt. Dennoch kann kein Zweifel bestehen: Das Vorhaben BMS ist bei fast einer Million Armutsgefährdeten sozialpolitisch unverzichtbar und auch in seiner konkreten Ausrichtung der richtige Weg.
Diesen Weg theoretisch zu begleiten und vielleicht vor Um- oder gar Irrwegen zu warnen, ist das Grundanliegen des Bandes, den ich zusammen mit Josef Wöss, Leiter der Sozialpolitik der AK Wien herausgeben durfte. Das Handbuch enthält aktuelle Daten zur Armutssituation, aufbereitet vom Leiter der Grundlagenabteilung des BMASK, Hans Steiner. Daneben findet sich eine historische Verortung des Konzepts von Christa Stelzer-Orthofer (Universität Linz) sowie eine Chronologie des Vorhabens von Andrea Otter und mir selbst. Dass eine Ergänzung unseres grundsätzlich gut aufgestellten Sozialsystems durch eine Mindestsicherung Sinn macht, belegt der Beitrag von Josef Wöss. Und dass die damit verbundenen Kosten volkswirtschaftlich vertretbar sind, weisen Norman Wagner und Christa Schlager (AK Wien) nach. Dass die Regelung in den europäischen Kontext passt, und dass Österreich gerade wegen der BMS nicht zu den Nachzüglern in der Armutsbekämpfung zählt, macht Bernd Schulte (Max-PIanck-Institut München, ständiger Berater der EU-Kommission) deutlich.
Eine zentrale Schwäche der Armutsbekämpfung in unserem Sozialsystem war bisher, dass zwar vereinzelte Ansätze auf verschiedenen Ebenen bestanden haben, diese aber kaum aufeinander abgestimmt waren und sich sogar gegenseitig blockiert haben. Da es im bundesstaatlichen Rahmen aussichtslos erschien, eine Mindestsicherung aus einer Hand zu schaffen, war es vordringlich, die Verbindung der Subsysteme zu verbessern und diese stärker aufeinander abzustimmen.
 

Nur bedingt geeignet

Dass das Instrument einer Art.-15a-Vereinbarung dafür nur bedingt geeignet ist, und die Betroffenen daraus keine unmittelbaren Ansprüche ableiten können, ist unbefriedigend, aber angesichts der verfassungsrechtlichen Ausgangssituation hinzunehmen. Dennoch sind die hier gefundenen Ansätze die nachhaltigsten der BMS: Die armutsbekämpfenden Elemente auf Bundes- und Landesebene werden erstmals aufeinander abgestimmt. Das gilt etwa für die Aufwertung der Ausgleichszulage in der Pensionsversicherung und für die Einbeziehung der BMS-BezieherInnen in die Krankenversicherung, wie im Buch Monika Weißensteiner (AK Wien) herausarbeitet.
Grundlegend neu gestaltet wurde auch das Verhältnis zwischen Landesebene und AMS. Leider ist aus dem angestrebten "one-stop-shop" für alle Arbeitsfähigen beim AMS vorerst nur ein (eher versteckter) "Briefkasten" für die BMS-Anträge geworden. Die Einbindung der BMS-BezieherInnen in das Dienstleistungsangebot des AMS ist hingegen ein entscheidender Fortschritt.
Die bisherigen Ansätze der BMS weisen allerdings auch Schwächen auf. Diese betreffen etwa das Spannungsverhältnis zwischen Sozial- und Fremdenrecht, besonders im Hinblick auf Drittstaatsangehörige, aber auch auf die Rechtsstellung von EU-Staatsangehörigen.
 

Armut ist weiblich

Armut ist, wie alle Statistiken wieder belegen, zunächst ein weibliches Problem. Auch wenn die BMS emanzipatorische Ansätze enthält (Antragsrecht nicht auf den "Haushaltsvorstand" beschränkt, höhere Mindeststandards für Alleinerzieherinnen), gibt es einigen Nachholbedarf.
Die größten strukturellen Defizite der BMS betreffen allerdings andere Problemfelder. Nikolaus Dimmel (Uni Salzburg) zeigt die Schwächen im Hinblick auf die Deckung des Wohnbedarfs auf. Die neuen Mindeststandards (für Einzelpersonen 753 Euro/Monat) sind fraglos eine Verbesserung im Vergleich zur bisherigen Sozialhilfe. Dem ist aber zum einen die internationale Armutsgefährdungsschwelle (EU-SILC) gegenüberzustellen, die für 2008 bei 951 Euro monatlich liegt (beide Werte bei zwölf Zahlungen/Jahr); zum anderen der Umstand, dass in den Mindeststandards bereits 25 Prozent Wohnanteil enthalten sind. Das sind ca. 188 Euro für Alleinstehende, womit der Wohnbedarf nur in wenigen Regionen gedeckt werden kann.
Im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage in der Sozialhilfe sind für zusätzliche Bedarfe keine Rechtsansprüche mehr gefordert und in den meisten Ländern nicht vorgesehen. Das führt nicht selten zu deutlichen Verschlechterungen im Vergleich zu vorher. Dies wiegt umso schwerer, als die Art.-15a-Vereinbarung ein Verschlechterungsverbot enthält, um zu verhindern, dass einzelne Länder den Systemwechsel dazu nützen, das Leistungsniveau zu kürzen. Beispiele in den vergangenen Wochen belegen, dass es solche Kürzungen auch tatsächlich gibt. Manches wurde vielleicht bei der Implementierung des neuen Systems nur übersehen, manche sind bewusst erfolgt, wie die jüngst in der Steiermark beschlossene Verschärfung des Regresses gegenüber Angehörigen.
Damit sind zwei Aspekte angesprochen, die seit langem heftig kritisiert wurden und im Handbuch von Martin Schenk (Armutskonferenz) wieder aufgezeigt werden: Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern, die weitestgehend angeglichen werden sollen, bestehen weiterhin. Zum anderen, selbst bei gut gemeinten Regelungen muss auch deren Vollzug funktionieren, um die Ziele der BMS zu erreichen. Inwieweit das in den Ländern und bei den Bundesregelungen sowie im Zusammenspiel beider Ebenen der Fall ist, wird im zweiten Teil des Buches im Herbst einer genaueren Analyse insbesondere in Form klassischer Gesetzeskommentierungen zu unterziehen sein. Ein Punkt ist noch anzusprechen: In Österreich gibt es rund eine Viertelmillion Menschen, die trotz Erwerbsarbeit ein Einkommen unter der Armutsgefährdungsschwelle beziehen. Ursachen dieses Problems und Ansätze für seine Bewältigung analysiert im Handbuch Marcel Fink (Uni Wien).
 

Wenig für die "working poor"

Im Hinblick auf diese "working poor" hat die BMS bisher wenig Spezifisches vorzuweisen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf - für die Politik, aber auch für die Gewerkschaften. Der Eindruck, den manche politisch Verantwortlichen erwecken, mit Einführung der BMS wären Armutsgefährdung oder gar Armut in Österreich abgeschafft, ist fatal. Was für unser Buch gilt, das noch einiger Folgelieferungen bedarf, gilt umso mehr für die BMS selbst: Ein erster wichtiger Schritt ist getan, weitere müssen aber bald folgen.

Schreiben Sie Ihre Meinung
an den Autor
Walter.Pfeil@sbg.ac.at 
oder die Redaktion
aw@oegb.at 

Dieser Beitrag basiert auf der Präsentation des Handbuches "Bedarfsorientierte Mindestsicherung" im Rahmen des "Come together" des ÖGB-Verlags im Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz am 31. 1. 2011.

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum