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Totgesagte leben länger Dass es besser ist, wenn alle weniger arbeiten, mehr Zeit für die Familie und soziale Kontakte bleibt, liegt auf der Hand. Die Zeit, die arbeitende Männer gewonnen haben, verwenden sie allerdings laut Studien eher nicht für die Hausarbeit.
Z u r P e r s o n

Totgesagte leben länger

Schwerpunkt

Die Arbeitszeitverkürzung in Frankreich, Flexibilität, Babyboom und ein nicht verwandelter Elfmeter für die Gewerkschaftsbewegung.

Warum kriegen die Französinnen so viel mehr Babys als alle anderen Europäerinnen? Liegt es an den französischen Männern? Am "savoir vivre" und "amour toujours"? "Die Geburtenrate ist seit der Einführung der 35-Stunden-Woche gestiegen", berichtet der französische Soziologe Chris­tian Dufour. Gut, die kürzere Arbeitszeit allein wird es nicht sein. Aber wenn alle weniger arbeiten, ist das für alle besser.

Genial eingefädelt

Nach 15 Jahren Stillstand in der Arbeitszeitfrage und keinerlei Verhandlungsergebnissen zwischen Gewerkschaften und ArbeitgeberInnen vollführte die sozialistische Arbeitsministerin Martine Aubry im Jahr 1998 einen Kunstgriff: Die linke Regierung beschloss ein Gesetz, das den Prozess zu einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden organisierte.
Um es gleich vorweg klarzustellen: Trotz vieler Versuche der konservativen Regierung Sarkozy, die 35-Stunden-Woche wieder auszuhebeln und trotz Erpressung mit Abwanderungsdrohung einiger internationaler (v. a. deutscher) Konzerne gilt die 35-Stunden-Woche auch heute noch für einen Großteil der französischen ArbeitnehmerInnen. Das Bild, das uns über die Medien vermittelt wird, habe wenig mit der Realität zu tun. "Die Unternehmen, die die 35-Stunden-Woche gekippt haben, sind die Ausnahme. Die Aushöhlung der 35-Stunden-Woche ist keine generelle Bewegung, unter anderem auch aus dem simplen Grund, dass gar nicht genug Arbeit da ist, um die Arbeitszeiten auszudehnen", meint Dufour. Totgesagte leben eben länger.

Verhandeln, ohne Tabus

Damals, Ende der 1990er-Jahre, kamen die französischen Sozialisten ziemlich überraschend an die Macht. Teil ihres Programms war die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden. Dass ihre gesetzliche Umsetzung den Gewerkschaften so viel Spielraum gab, lag vielleicht daran, dass die linke Regierung noch keine Idee hatte, wie die Arbeitszeitverkürzung im Detail organisiert werden könnte; für die Gewerkschaften ein Glücksfall. In einer ersten Etappe wurden freiwillige Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und ArbeitgeberInnen möglich, als Anreiz gab es niedrigere Sozialabgaben für jene Betriebe, die Arbeitszeitverkürzung umsetzten. Ohne Tabus und ohne Rücksicht auf gesetzliche Rahmenbedingungen wurden viele neue Modelle erarbeitet. Nach 18 Monaten zeigte eine Analyse, dass das Interesse riesig war. Zehntausende Verhandlungen zwischen Gewerkschaft und ArbeitgeberInnen wurden auf betrieblicher Ebene geführt, viele erfolgreich abgeschlossen. Auch in kleinen Betrieben wurden Modelle erarbeitet, die nur mit Zustimmung der Gewerkschaft Gültigkeit erlangen konnten. Das führte dazu, dass die Löhne trotz vier Stunden kürzerer Wochenarbeitszeit stabil blieben, was einem um elf Prozent höheren Stundenlohn entspricht. Meist wurde ein Einfrieren der Löhne für zwei oder drei Jahre vereinbart.
Seit dem Jahr 2000 gilt in Frankreich in allen Betrieben mit mehr als 20 ArbeitnehmerInnen die 35-Stunden-Woche. "Das Modell sieben Stunden, fünf Tage ist allerdings die Ausnahme", berichtet Dufour. Weil auf betrieblicher Ebene die verschiedensten Lösungen gefunden wurden, und außerdem die engen Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes mit der Arbeitszeitverkürzung extrem flexibilisiert wurden, gibt es heute die Viertagewoche genauso, wie Modelle mit längeren Freizeitblöcken oder je nach Saison 48-Stunden-Wochen und 25-Stunden-Wochen. Der Durchrechnungszeitraum beträgt maximal ein Jahr.

Was kostet’s, was bringt’s?

Weil der Anreiz für die Betriebe, die 35-Stunden-Woche umzusetzen, eine Senkung der Sozialabgaben ist, war und ist die Arbeitszeitverkürzung in Frankreich teuer. "Die Diskussion über die Kosten verläuft leider oft polemisch, Äpfel werden mit Birnen verglichen und Abgabenerleichterungen für Betriebe, die nichts mit der Arbeitszeitverkürzung zu tun haben, zu den Kosten gerechnet", berichtet Dufour. Weil die Arbeitszeitverkürzung in Frankreich in wirtschaftlich guten Zeiten implementiert wurde, stieg die Zahl der Arbeitsplätze rasch um mehrere Millionen. "Nicht alle neuen Arbeitsplätze sind 1:1 auf die Auswirkungen der kürzeren Arbeitszeit zurückzuführen, aber 400.000 neue Jobs waren es bestimmt", berichtet der Wissenschafter. "Und das sind immerhin 400.000 Arbeitslose weniger, die der Staat finanzieren muss, 400.000 Menschen mehr, die Abgaben zahlen."
Die größte Schwierigkeit im Zusammenhang mit der Arbeitszeitverkürzung sieht Dufour in ihrer konkreten Umsetzung. "Die Umorganisation der Arbeit ist extrem kompliziert, viele Einzelinteressen müssen unter einen Hut gebracht werden", berichtet Dufour, der die Ausgestaltung Dutzender Modelle selbst miterlebt hat. "Überraschend ist, dass es nichts mit der wirtschaftlichen Situation der einzelnen Betriebe zu tun hat, ob es zu guten Verhandlungsergebnissen kommt. Die sozialen und intellektuellen Fähigkeiten der VerhandlerInnen spielen die entscheidende Rolle."
Ein Gesetz, das den Gewerkschaften in Frankreich Tür und Tor in die Betriebe öffnete und ungeahnten Handlungsspielraum für die ArbeitnehmervertreterInnen schuf, wurde für die Gewerkschaften zum aufgelegten Elfmeter - den sie leider nicht verwandelten. "Die Betriebsräte wurden gestärkt, ihre Gestaltungsmöglichkeiten erweitert. Die Gewerkschaften haben eher nicht profitiert", berichtet Dufour. Zu starr seien deren zentralistisch gefassten Beschlüsse gewesen, zu wenig seien sie auf die individuellen Bedürfnisse der Menschen vor Ort eingegangen. Der Versuch, auf dem Reißbrett geplante Modelle den ArbeitnehmerInnen aufs Auge zu drücken, ist in vielen Unternehmen gar nicht gut angekommen.
Heute hat die Regierung Sarkozy Überstunden von Sozialabgaben befreit und die 39-Stunden-Woche de facto wieder ermöglicht. In der französischen Arbeitswelt ist und bleibt die 35-Stunden-Woche das dominierende Modell. "Die Leute machen kaum Überstunden, weil die Wirtschaft schlecht ist, es gibt keine Arbeit", sagt Dufour. Es gebe sogar einzelne Unternehmerverbände von Kleinbetrieben (für die die Arbeitszeitverkürzung nicht gilt), die ihren Mitgliedern die 35-Stunden-Woche als Regel vorgeben, damit sie im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte gegen die Großen bestehen können.

Betriebe profitieren

Es hat sich außerdem herausgestellt, dass auch die Betriebe viel von der Arbeitszeitverkürzung haben. Im Schichtbetrieb hat es die 35-Stunden-Woche leichter gemacht, eine zusätzliche Schicht einzuführen und damit die Auslastung der Maschinen zu verbessern. Das ist für das betriebliche Ergebnis viel bedeutender als die gestiegenen Lohnkosten. Mit der Arbeitszeitverkürzung wurde den französischen Unternehmen weiters eine bis dahin nie gekannte Flexibilität zugestanden. Krisen, wie im Jahr 2008, konnten damit einfacher überwunden werden.

Alles wie im Paradies?

Keineswegs. Auch in Frankreich steigt der Druck auf ArbeitnehmerInnen, prekäre Jobs für Junge und vor allem Frauen nehmen zu. Um auf die Fortpflanzungsfreudigkeit der Französinnen und Franzosen zurückzukommen: Auf die (ohnehin hohe) Erwerbsquote von Frauen hatte die Arbeitszeitverkürzung keine nennenswerten Auswirkungen. Die Chancen Teilzeit beschäftigter Frauen haben sich allerdings deutlich verbessert, weil auch die Vollzeit arbeitenden (Männer) nun weniger Stunden arbeiten. Und dass es für alle besser ist, wenn alle weniger arbeiten, dass mehr Zeit für die Familie und soziale Kontakte bleibt, liegt auf der Hand. Die Zeit, die Vollzeit arbeitende Männer gewonnen haben, verwenden sie allerdings laut Studien eher nicht für die Hausarbeit. Dafür bleibt mehr Zeit zum Basteln. Woran auch immer.

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