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Meine Zeit, deine Zeit Die Figur des zu Fuß gehenden symbolisiere das Thema "Zeit und Macht" sehr anschaulich. Die langsamen Fußgänger müssen den schnellen Autofahrern weichen.
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Meine Zeit, deine Zeit

Schwerpunkt

Es heißt, Frauen dächten die Zeit eher zyklisch, Männer linear. Im ­Wettbewerbsvorteil ist jedenfalls, wer über die Zeit anderer bestimmen kann.

In Zeiten der neuen Dienstbotengesellschaften, in denen manche für eine Stunde eigener Arbeit das Vielfache der Zeit anderer kaufen können, sei das Prinzip des "Mitverbrauchs" von anderer Menschen Lebenszeit stark im Aufschwung, meint die Erziehungs- und Sozialwissenschafterin Marianne ­Gronemeyer. "Wer für eine Stunde eigener Arbeit 10, 12, 20 oder mehr Stunden Arbeit einkaufen kann, hat Zeit, sich aus dem 'Bereich der Notwendigkeit‘ zu beurlauben."
Darin steckt auch eine Dynamik der Beschleunigung. Die Figur des zu Fuß gehenden symbolisiere das Thema "Zeit und Macht" sehr anschaulich. Die langsamen FußgängerInnen müssen den schnellen AutofahrerInnen weichen. Heute ginge es vielfach darum, meint Gronemeyer, seinen Zeitvorteil zu wahren, indem man anderen in ihren Zeitansprüchen zuvorkommt.

Macht

Zeitfragen sind also immer auch Machtfragen. Ob die zeitlichen Abstimmungen zwischen Menschen fair ausgehandelt werden, oder ob sich einer das Recht nimmt, den anderen zeitlich zu dominieren, zeige den Umgang mit diesen Machtfragen, meinen WissenschafterInnen.
Bislang galt es als "Hauptproblem" der Menschen in industrialisierten Ländern, die Beschleunigung des Tempos von Leben und Arbeit in die Lebensführung zu integrieren. Heute ist die Erosion fester zeitlicher Strukturen allgemein erfahrbar. Zeit ist nicht mehr in verbindlichen Taktungen und Strukturen vorgegeben. Die ArbeitnehmerInnen müssen sich an die zeitlichen Vorgaben anpassen, immer mehr Tätigkeiten verlangen danach, rund-um-die-Uhr verfügbar zu sein. Bekanntlich aber sind Menschen nicht unbegrenzt flexibel. Sich durch die neuen Zeitstrukturierungen nicht in zahllose Einzelfragmente zerlegen zu lassen, sondern den Wechsel eigenständig mitzugestalten, ist gefragt.
"Viele sind dabei überfordert, besonders Menschen, die keine Gelegenheit hatten, ein körperlich-seelisches 'Zeitgerüst‘ zu entwickeln und im Einklang mit ihren Eigenrhythmen ihre Zeit mit anderen abzustimmen", sagt dazu die Sozialmedizinerin Annemarie Jost. 
Da zeitliche Unterschiede in der Feinabstimmung bisher von den meis­ten Menschen weniger bewusst reflektiert werden, neigten sie dazu, an dieser Stelle intuitiv so zu handeln, wie sie es im Umgang mit Machtfragen gelernt haben, sagt die Wissenschafterin. Im Umgang mit "zeitlicher Irritation" zeigten sich auch die Strategien des Einzelnen sich durchzusetzen, zu flüchten, oder die Sache vernünftig auszuhandeln.

Innere Uhr

Der Umgang mit der eigenen Zeit ist eine heikle Angelegenheit. Jede unserer Zellen enthält eine Art kleiner Uhr. Die innere Zentraluhr liegt im suprachiasmatischen Nucleus (SCN), einem kleinen Klumpen von cirka 10.000 Gehirnzellen an der Gehirnbasis im Hypothalamus, nahe dem Kreuzungspunkt der Sehnerven. Der Kern SCN steuert die innere Rhythmik des Menschen, indem er über den Tag hinweg über 50 verschiedene Zyklen, wie den von Wachen und Schlafen, der Stimmung, der Fruchtbarkeit oder den Blutdruck, reguliert.

Zeitperspektiven

Bereits die Zeitwahrnehmung zweier Menschen lasse sich nicht miteinander vergleichen, behaupten die beiden Autoren Philip Zimbardo und John Boyd in "Die neue Psychologie der Zeit und wie sie Ihr Leben verändert."
Erhebliche Unterschiede zwischen den persönlichen Zeitperspektiven bestünden auch zwischen Männern und Frauen. Mindestens ebenso wichtig wie die Biologie des Körpers sei dabei die persönliche Haltung, die der Mensch zur Zeit und zum Umgang mit ihr einnimmt.
Mit "Zeittherapien" wollen die beiden Psychologen Zimbardo und Boyd Kriegsveteranen helfen, über ihre traumatischen Erlebnisse hinwegzukommen. Nicht nur Überlebende von Katastrophen und Kriegen können aus der Therapie für veränderten Umgang mit der Zeit lernen. Drei Grunderkenntnisse legen die Wissenschafter nahe:

  • Ohne Zeit haben andere Ressourcen keinen Wert.
  • Es gibt nur drei Zeitzonen, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und die Frage, wie wir mit ihnen um­gehen.
  • Es geht darum zu klären, ob eine der drei Zeitperspektiven auf Kosten der anderen beiden allzu intensiv gelebt wird.

Unterschiedlicher Gebrauch?

Unterscheiden sich nun männlicher und weiblicher Umgang mit der Zeit? Unabhängig von anderen Überlegungen fällt eines sofort auf: Viele Frauen verfügen in der Regel über weniger "Eigenzeit" als die meisten Männer. Beruf und Familie lassen oft nur wenige frei verfügbare Zeitfragmente über, die kaum sinnvoll zu nutzen sind.
Als "konstruierte Ordnungselemente" sind Zeitmesser - wie Uhren, Kalender, freie Sonntage oder Wochenenden - auch wieder veränderbar, meint die deutsche Politologin Karin Jurczyk in ihrem Aufsatz "Entgrenzung von Zeit und Gender - Neue Anforderungen an die Funktionslogik von Lebensführung."
Kämen zu zeitlichen auch räumliche Entgrenzungen hinzu, etwa indem die Wohnung zum Erwerbsarbeitsplatz wird, ist eine "übergreifende Koordination der Tätigkeiten" erforderlich.
"Einige werden auch in zeitlicher Hinsicht das Leben zum Gesamtkunstwerk machen können, eine Zeitkultur entfalten und die neuen offenen Bedingungen in Zeitsouveränität ummünzen", prognostiziert die Politologin. Hilfreich dafür sind finanzielle Ressourcen, Bildung und stabile persönliche Beziehungen. "Verlierer werden die sein, die ohne solche Ressourcen den Entwicklungen hinterherhetzen, wie die 'neuen Taglöhner.‘" Ihr "Zeithandeln" ist keine kreative Zeitkonstruktion, sagt die Wissenschafterin, "sondern eine immer wieder zerbrechende, reaktive zeitliche Flickschusterei".
Schon spricht die Wissenschaft von neuen "Zeitkompetenzen". Nicht allein Pünktlichkeit und strenge Planung sind heute erforderlich. Die neuen Fähigkeiten im Umgang mit der eigenen Zeit bedeuten auch angesichts offener, entgrenzter Umstände, mit Zeit "richtig" umgehen zu können.
Zahlreiche Ratgeber behandeln den Umgang mit Zeit und Zeitmanagement. Wenig Beachtung wurde bisher dem Thema der gelingenden zeitlichen Abstimmung zwischen erwachsenen Menschen geschenkt. Grundvoraussetzung dafür ist es, den eigenen körperlich-seelischen Rhythmus und den des Gegenübers entsprechend wahrzunehmen", meint Annemarie Jost.
Eine andere "Zeitkultur", vermutlich auch eine andere "Zeitwirtschaft" sind nötig, meint die Medizinerin. Ihr Plädoyer für eine alternative Zeitkultur setzt bei der unmittelbaren zwischenmenschlichen Begegnung an.
In Workshops leitet sie unter Zeitdruck stehende Personen zu neuem Umgang mit der eigenen Zeit und zum Respekt vor unterschiedlichen Geschwindigkeiten an.
"Auf Menschen mittleren Alters las­tet hoher Druck. In Beruf und Familie haben sie sich nach unterschiedlichen "Zeitgebern" auszurichten, sie gewöhnen sich daran, rasch zu reagieren. In der Kommunikation mit Kindern, SeniorInnen und Nichtberufstätigen aber sind viele unfähig, ihr Tempo zu drosseln.
Der Respekt vor den unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist jedoch die Grundlage einer veränderten Zeitkultur, meint die Medizinerin Jost. Am Anfang stünde das Überdenken des Umgangs mit der eigenen Zeit und der Mut, sich gegenüber "Zeitdieben" zur Wehr zu setzen. Denn Identität grenzt sich auch ab, eine grenzenlose Flexibilität lässt die Zeit in immer neue Fragmente zerfallen. Eine genaue Analyse individueller und kollektiver Zeitstrukturen könne dazu beitragen, die Umwelt zeitlich menschenfreundlicher zu gestalten. Stets präsent sei die Aufgabe, "immer wieder neu einer zeitlichen Entfremdung und paradoxen Handlungsaufforderungen entgegenzutreten".

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