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So eine Sünde Freeganer, abgeleitet von »free« (frei) und »vegan«, versuchen, ohne zwangsläufig in materieller Not zu stecken, möglichst weitgehend kostenlos zu leben. Die Verwertung von Abfall - nicht allein weggeworfene Lebensmittel - gehört zu ihrer Lebenspraxis.

So eine Sünde

Schwerpunkt

Ein Zehntel unseres Restmülls besteht aus originalverpackten Lebensmitteln. Immer mehr junge Menschen wollen der Verschwendung nicht länger zusehen.

Ob es ihn nicht ekelt? Grundsätzlich schon, sagt er. Allerdings bestehe keine Pflicht hineinzugehen. In den Mülltonnen hinter den Supermärkten wären ohnehin ausreichend qualitativ hochwertige Produkte zu finden. Das Bedürfnis zu erbrechen habe ihn eines Tages an der Kasse einer Handelskette ereilt. »Wenden Sie sich an die Geschäftsführung«, sei auf einem Schild an die werte Kundschaft gestanden, »wenn sie nicht mit einem Lächeln bedient werden«.

Freegans

Hermann möchte namentlich nicht genannt werden. Er ist einer der - zahlenmäßig naturgemäß nicht erfassten - Freeganer, die dem herrschenden Konsumzwang den Rücken gekehrt haben.
Freeganer, abgeleitet von »free« (frei) und »vegan« (Personen, die keine Tierprodukte verzehren), versuchen, ohne zwangsläufig in materieller Not zu stecken, möglichst weitgehend kostenlos zu leben.
Die Verwertung von Abfall, nicht allein weggeworfene Lebensmitteln, sondern auch Kleidung, Möbel, Bücher, technische Geräte und andere Bedarfsartikeln gehört zu ihrer täglichen Lebenspraxis. Ihr Ziel ist es, »den negativen Einfluss der kapitalistischen Volkswirtschaft auf die Einzelperson durch eine alternative Lebensweise in Bezug auf die Grundversorgung zu verringern«. (Siehe www.freegan.at)
Zu finden ist in Österreichs Mülltonnen genug. Der Anteil nicht verkaufter Lebensmittel, der von den Supermärkten an karitative Einrichtungen, wie etwa die Wiener Tafel, weitergegeben wird, ist vergleichsweise gering. Laut einer Studie des Instituts für Abfallwirtschaft der Universität für Bodenkultur enden jährlich etwa 166.000 Tonnen genießbare Lebensmittel im Restmüll. Mit dem Dokumentarfilm des Österreichers Erwin Wagenhofer »We feed the world - Essen global«, der im Herbst 2005 in den Kinos lief, ist der verschwenderische Umgang mit Nahrung zum Thema geworden. Die Freegans fanden Eingang in Fernsehsendungen und Talkshows.
Entstanden war die Bewegung der Freeganer Mitte der Neunzigerjahre in den USA unter den KritikerInnen einer ausschließlich auf Profit orientierten Globalisierung. In Österreich gilt der ehemalige Flugverkehrsleiter Ronny Wytek als Pionier der Bewegung. Er hatte 1998 das Wiener GeOb-Kollektiv gegründet. Gemeinsam wurde zunächst weggeworfenes Gemüse und Obst gesammelt, später kamen Lebensmittel und Waren aller Art hinzu.

Überflussgesellschaft

Von den Freegans hatte sie zunächst nichts gewusst, berichtet Henrietta (Name geändert), eine Aktivistin der ersten Stunde. »Wir haben gesehen, welcher Überfluss vorhanden ist, und wie viel weggeworfen wird, von dem man gut leben kann.« So hatte sie das erste Mal bei der Jahrtausendwende ihr Essen aus Mülltonnen geholt. »Mir ist es als moralische Pflicht erschienen«, berichtet sie, »dort zu konsumieren, wo Lebensmittel und andere verwertbare Abfälle zum Problem werden.«

Moral

Auch René (Name geändert) hat sich den Freeganern aus moralischen Überlegungen angeschlossen. »Ich habe mir angesehen, wohin meine Geldflüsse gehen, woher ich mein Geld beziehe, und wo es zwischengelagert wird. Meist dort, wo der Profit am größten ist. Und das ist in vielen Fällen die Rüstungsindustrie.«
Die meist jungen Menschen, die nach Geschäftsschluss, oft in den Morgenstunden, noch ehe die Konsumwelt erwacht, mit Leinentaschen oder Rucksäcken ausziehen, um die Mülltonnen nach Essbarem zu untersuchen, stellen grundsätzliche Fragen. »Wie groß ist mein ethischer Rucksack, um ein bestimmtes Produkt ins Regal zu bringen?« »Wie kann ich dazu beitragen, dass Ressourcen nicht sinnlos verschwendet werden?«
Gesammelt wird bei Obst- und Gemüsemärkten, bei Supermärkten und bei Bioläden.
»Unglaublich, was da alles weggeworfen wird«, berichtet Henrietta. Oft finden die MiststierlerInnen aus ethischen Gründen so viel, dass es nicht nur zur Selbstversorgung reicht. »Es gibt so eine Fülle, dass man sich sogar die Qualität aussuchen kann«, berichtet Hermann. Exotische Früchte, wie Kiwis, Mangos oder Avocados würden »tendenziell erst in der Mülltonne reif«.
Mit den Volxküchen (VoKü) macht die Jugend den Missstand, dass täglich Tonnen von Lebensmittel »entsorgt« werden, zur Tugend. »Weil wir keine Lust auf Mensa, Stiegl-Bräu und Billa haben ... kochen wir uns ab jetzt unser Essen am Campus selbst«, laden sie etwa jede zweite Woche im Monat im Wiener Alten AKH ein. Auch beim Türkenwirt (Tüwi) nahe der Universität für Bodenkultur wird jeden ersten Sonntag im Monat gemeinsam Gefundenes gekocht.

Unauffällig

Unauffälligkeit beim Sammeln gegenüber den Angestellten, aber auch den PassantInnen gegenüber, ist erste Freeganer-Pflicht. »Sei fair - hinterlasse keine Spuren und ermögliche Dumpster Diving auch für andere«, lautet das Gebot. »Manchmal sind die Mülltonnen versperrt oder stehen in einem Abstellraum«, erzählt Henrietta. Auch Rattengift erschwert bisweilen die Suche. »Es hängt seitwärts in den Tonnen«, berichtet René. »Außer Schalenfrüchte oder wirklich gut Verpacktes nehme ich da nichts.«
Ist das Containern nicht gefährlich? »Grundsätzlich nicht mehr, als einkaufen zu gehen«, antwortet Hermann. »Was wir aus der Tonne nehmen ist gerade ein paar Stunden zuvor noch im Geschäft angeboten worden. Gerade bei pflanzlichen Produkten ist die Gefahr der Verderblichkeit ohnehin geringer oder nicht existent.«
Kilosäcke mit Kartoffeln, Zwiebeln, Äpfeln, Bananen werden gefunden. »Manchmal ist die Schale nicht mehr ansehnlich genug für den Verkauf«, sagt René. »Aber die entfernen wir ohnehin.«
Gut verschlossenes Joghurt oder Käse, mit überschrittenem Ablaufdatum, Schokolade und Kekse ergänzen den Speisezettel. Nicht alle Freeganer ernähren sich ausschließlich vegan. »Wenn ein Produkt bereits den Wirtschafskreislauf verlassen hat«, meint etwa René, »macht es keinen Sinn, es nicht einer Verwertung zuzuführen«.
Seit der intensiven Berichterstattung versperren einige Supermärkte ihre Mülltonnen. Von Problemen mit den MitarbeiterInnen wird nichts berichtet. »Die sind oft selbst schockiert über die Ausmaße der Verschwendung«, sagt Henrietta. »Sie sind ja verpflichtet, das Abgelaufene wegzuwerfen. Es selbst mitzunehmen ist ihnen nicht erlaubt.«

Mülltrennung

Grundsätzlich sind in Österreich Privathaushalte und Supermärkte zur Mülltrennung verpflichtet. »Gerade die Supermärkte halten sich aber nicht daran«, kommentiert René. »In gewisser Weise ist unsere Arbeit auch eine Art Mülltrennung.«
Wäre es nicht sinnvoller, Institutionen wie den Sozialmarkt zu unterstützen, werden die Freeganer auf einem Internetblogg gefragt, als teuer produzierte Lebensmitteln gratis abzustauben? »Die werden nur mit Lebensmitteln in größeren Mengen beliefert«, lautet die Antwort. »Und mit Waren, die nicht abgelaufen sind. Das sind ganz andere Dinge, als die, die wir finden.« Die Freeganer führen ein Nischendasein. »Über einen gewissen Prozentsatz kann Dumpstern nicht hinausgehen«, ist sich Blogger Mu bewusst. »Denn schließlich muss auch konsumiert werden, damit Abfall entsteht. Viel sinnvoller wäre es, keine Tierprodukte zu kaufen, wenn Mensch etwas verändern will. So würde die Wirtschaft nicht schrumpfen, aber die Ressourcen geschont.«
Immer wieder wird René auf seiner Rucksacktour bei den Mülltonnen von PassantInnen angesprochen. »Nicht nur Kapitalismuskritische oder Leute aus der Jugendkultur interessieren sich dafür«, sagt er. »Auch die älteren Menschen. Die halten es für eine Sünde, Lebensmittel einfach wegzuwerfen.«

Weblinks
Alle Infos unter:
www.mein-fussabdruck.at
www.kostnixladen.at
freegan.at

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Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
gabriele.mueller@utanet.at
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aw@oegb.at

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