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Den Toten ein Gesicht geben Später veröffentlichte die maltesische Marine ein Foto des Gummibootes - als Nachweis, dass die fünf wohlauf und handlungsfähig gewesen waren.
Ende einer Rettungsfahrt

Den Toten ein Gesicht geben

Schwerpunkt

Jahr für Jahr sterben unzählige MigrantInnen beim Versuch, Europa zu erreichen -unbemerkt von der Öffentlichkeit. In Frankfurt wurde nun der Opfer gedacht.

Der 4. Juli war ein besonderer Tag in der St.-Hedwigs-Kirchengemeinde in einem Frankfurter Stadtteil, der schon ein wenig wie Vorstadt anmutet, weit weg von der imposanten Skyline. In Frankfurt ist die größte eritreische Gemeinde Deutschlands zu Hause.
Es war nicht ganz so heiß wie die Tage zuvor, als sich hier rund 300 EritreerInnen versammelten. Der Anlass: Eine ökumenische Trauerfeier für 77 tote Bootsflüchtlinge, die im August 2009 auf einer Irrfahrt von Libyen nach Europa ums Leben kamen. Einige der Angehörigen waren von nah und fern angereist, aus Süddeutschland, dem Rheinland, den Niederlanden und England. Aus der Nähe von Bonn kam Almaz Solomon*. Einer der toten Bootsflüchtlinge war ihr Halbbruder. Almaz kam in den 1980er-Jahren nach Deutschland und lebt dort mit ihrem Mann und drei Kindern. Sie hatte die Trauerfeier angeregt und organisiert.

Was war im August 2009 geschehen?

Am 28. Juli 2009 war Almaz’ Halbbruder zusammen mit 81 weiteren Flüchtlingen in einem einfachen Schlauchboot aus Libyen losgefahren. Die 82 kamen mehrheitlich aus Eritrea, wo viele vor der res­triktiven Wehrpflicht flüchten, einige stammten aus Äthiopien und kurz vor der Abfahrt kamen noch fünf junge Frauen aus Nigeria an Bord (die bis heute nicht identifiziert werden konnten). Während der anschließenden dreiwöchigen Überfahrt verhungerten, verdurs­teten oder ertranken 77 von den 82, nur vier junge Männer und eine Frau überlebten. Wann genau ihr Halbbruder starb, weiss Almaz nicht, vermutlich Mitte August. Die toten Körper wurden nie geborgen.´

Nur fünf Überlebende

Immer wieder waren Schiffe an dem kleinen Schlauchboot vorbeigefahren - ohne Hilfe zu leisten, wie es das internationale Seerecht vorschreibt. Erst am 21. August barg die italienische Küstenwache die fünf Überlebenden. Zwei Tage zuvor waren sie bereits von einem Schiff der Marine von Malta angehalten worden. Anstatt sie zu retten, gaben die maltesischen Matrosen den ausgezehrten Flüchtlingen einige Flaschen Wasser, wiesen sie an »nach Hause« zu fahren und ließen sie dann einfach im Stich. Später veröffentlichte die maltesische Marine ein Foto des Gummibootes - als Nachweis, dass die fünf wohlauf und handlungsfähig gewesen waren.
Almaz hatte in jenem Juli Eritrea besucht. Nach ihrer Rückkehr versuchte sie, ihren Halbbruder in Libyen zu kontaktieren. Er sei nicht da, sagte man ihr. Sie insistierte, rief immer wieder an, bis sie schließlich hörte, dass er in einem Boot losgefahren war. Nach einigen Mühen gelang es ihr, mit dem Schlepper zu sprechen. Der versicherte ihr, dass die Flüchtlinge »gerade wohlbehalten in Malta angekommen« seien. Tatsächlich hatte der Schlepper kurz zuvor einen Anruf vom Satellitentelefon erhalten, das man den Flüchtlingen mitgegeben hatte, es war ein Notruf: Der Treibstoff ging zur Neige und der Schlepper riet den Schiffbrüchigen, Malta anzupeilen. Dann brach die Verbindung ab. Almaz kontaktierte den Kölner Flüchtlingsrat, den Suchdienst des Roten Kreuzes, den Malteserorden. Nichts. Weitere Angehörige schlugen unabhängig voneinander Alarm, so auch Esaias* aus England - er vermisste seinen Bruder. Erst nach der Rettung durch die italienische Küstenwache kam die Gewissheit: Almaz’ Halbbruder, Esaias’ Bruder und 75 weitere waren tot. Mithilfe der Organisation Borderline Europe reiste Almaz nach Sizilien und traf die Überlebenden. Die Staatsanwaltschaft in Agrigent erhob Anklage gegen Unbekannt wegen »unterlassener Hilfeleis­tung« - die kurz nach der Rettung der Fünf routinemäßig erfolgte Anklage wegen des seit einem Jahr in Italien strafrechtlich relevanten Delikts der »illegalen Einreise« wurde nach wenigen Tagen fallen gelassen. Obwohl Oberstaatsanwalt Renato Di Natale sehr vorsichtig meint: »Es kann durchaus sein - ich spreche hier rein theoretisch -, dass italienische oder maltesische Einheiten ein solches Delikt begangen haben«, ist es unklar, ob es zu einem Prozess kommen wird.

Kein Wort aus Malta und Italien

Nach dem Unglück traten die Angehörigen der Opfer miteinander in Kontakt. Sie leben über die ganze Welt zerstreut, sind in Kanada, den USA, in Australien und Europa. Gemeinsam schrieben sie im November 2009 einen Brief an den EU-Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg: »Wir fordern eine Untersuchung hinsichtlich des Versagens der EU-Mitgliedsländer Italien und Malta, um die 77 AfrikanerInnen zu retten, die in den Küstengewässern Europas ertrunken sind.« Darin warfen sie Fragen auf wie: Warum wurde das Flüchtlingsboot trotz moderner Radarsysteme und Satellitenüberwachung nicht entdeckt und gerettet? Und sie stellten fest: »Ihr Leben hätte gerettet werden können, wenn die Flüchtlinge als Menschen und nicht als ›illegale afrikanische ImmigrantInnen‹ betrachtet worden wären.«
Thomas Hammarberg richtete noch Ende August 2009 offizielle Anfragen an Italien und Malta. Von keinem der beiden erhielt er eine befriedigende Antwort. Er wiederholte und veröffentlichte seine Anfrage im Dezember - wieder ohne Ergebnis. Seit vorigem Sommer haben sich auf Almaz Initiative hin weltweit Hunderte Angehörige der Opfer vernetzt. Sie versuchen, die Geschichten und Schicksale der Toten und ihrer zu Hause verbliebenen Familien zu dokumentieren und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Bei der Trauerfeier in Frankfurt trafen sich viele Angehörige erstmals persönlich. Auch Stefan Schmidt reiste zur Gedenkfeier. Der Mitbegründer von Borderline Europe und ehemalige Kapitän des Frachtschiffs «Cap Anamur» hatte 2004 vor der Insel Lampedusa 37 Flüchtlinge aus Seenot gerettet und war vom italienischen Staat daraufhin wegen Schlepperei angeklagt worden. Erst im Oktober 2009 wurde er freigesprochen. Die fünf Überlebenden selbst konnten nicht an der Feier teilnehmen. Zur Anreise aus Italien fehlten ihnen Geld und die nötigen Papiere.

Das Sterben geht weiter

Seit Mai 2009 kooperieren Italien und Libyen in der Flüchtlingsabwehr, 1.409 Flüchtlinge wurden seither auf hoher See kollektiv abgewiesen, obwohl dies die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet. Diese abgewiesenen Flüchtlinge landen meist in libyschen Lagern. Im Juli 2010 kam es zu einem Eklat: 205 eritreische Flüchtlinge, eingeschlossen im Lager Misratah in Libyen, weigerten sich, sich identifizieren zu lassen - aus Angst abgeschoben zu werden, und aus Sorge um die zurückgebliebenen Angehörigen (in Eritrea wird Flucht mit 2.600 Euro oder Gefängnis bestraft). Aus Strafe für die Rebellion wurden sie misshandelt und in drei Lastwagencontainer gepfercht nach Braq, ein Lager in der Wüste transportiert. Mittlerweile wurden sie freigelassen, sie erhielten die Erlaubnis sich in der Wüstenstadt Sebha drei Monate aufzuhalten  und wurden ihrem Schicksal überlassen.

15.000 Tote seit 1988

Allein im Juni, Juli, August starben 57 Menschen auf dem Weg nach Europa, in Ägypten (israelische Grenze), Algerien, Griechenland, Spanien, Italien.
Die Liste ist lang und ähnelt einem Kriegsbulletin. Seit 1988 sind nachweislich mehr als 15.000 Menschen an Europas Grenzen gestorben, die Dunkelziffer ist um ein Vielfaches höher. Zur Erinnerung: An der deutsch-deutschen Grenze beklagte man 300 Tote bis 1989.

*Alle Namen von der Redaktion geändert.

Weblink
Mehr Infos unter:
www.borderline-europe.de

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