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So beträgt laut Medizin-Journalist Hans Weiss der Kostenanteil des Wirkstoffes im Mittel Viagra nur 0,02 Euro, während das Produkt selbst für zehn Euro verkauft wird. So beträgt laut Medizin-Journalist Hans Weiss der Kostenanteil des Wirkstoffes im Mittel Viagra nur 0,02 Euro, während das Produkt selbst für zehn Euro verkauft wird.

Schuldige Kassen?

Schwerpunkt

Das Gesundheitssystem sei zunehmend unfinanzierbar, die Gebietskrankenkassen (GKK) würden immer mehr Schulden erwirtschaften. Eine Schuld(en)suche.

Die Krankenkassen schreiben Defizite. Gleichzeitig entgehen den GKK durch nicht oder nicht fristgerecht abgeführte Beiträge seitens der ArbeitgeberInnen jährlich Hunderte Mio. Euro. Doch dieser Umstand findet weder im Kassensanierungskonzept der Regierung noch in der veröffentlichten Meinung der Medien größere Beachtung. Eigenartig - oder doch nicht?

573 Mio. Euro Defizit bis 2011

Das Defizit der Krankenversicherung wird ohne Sanierungsmaßnahmen in diesem Jahr auf 264 Mio. Euro und 2011 auf 573 Mio. Euro steigen. In den Jahren 2012 und 2013 würde dieses dann auf 737 bzw. 836 Mio. Euro weiter explodieren. In den Berechnungen des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger (HV) sind dabei die 100 Mio. Euro aus dem geplanten Strukturfonds ab 2010 bereits berücksichtigt.
Das Kassensanierungspaket aus 2009 sieht ein Sparziel von 2,4 Mrd. Euro bis 2013 vor. Dazu kommen 595 Mio. vom Bund (Einnahmehilfe, Schuldennachlass, Kassenstrukturfonds), 1,8 Mrd. Euro sollen die Kassen selbst auf der Ausgabenseite einsparen. Die Gesundheitsexpertin Maria Hofmarcher vom IHS (Institut für Höhere Studien) bezweifelt allerdings, dass das genannte Sparziel erreichbar ist.1 Das bezweifeln auch die GKK, denn, wie die Zahlen zeigen, haben die GKK kein Ausgaben-, sondern ein Einnahmenproblem. Das Grundproblem aller Krankenkassen ist weniger eine "Kostenexplosion" als vielmehr eine Einnahmenerosion.
Das Wachstum der Ausgaben der GKK ist geringer als das Wachstum der Gesamtwirtschaft, die Einnahmen brechen weg. Am Beispiel der Wiener GKK (WGKK) sieht die Entwicklung von Ausgaben und Einnahmen im Vergleich zur Wirtschaftsleistung folgendermaßen aus: Betrug im Jahr 2008 der Index (Basis 1994: 100) für die allgemeine Wirtschaftsentwicklung 169, so machte der Index der GGK-Ausgaben 162 und der der GKK-Einnahmen 151 aus! Wären die Einnahmen der Kassen (+ 33 Prozent) genauso wie die Wertschöpfung der Wirtschaft (+ 41 Prozent) gestiegen, gäbe es kein Defizit!2

Unternehmerschuld Kassendefizit

Österreichs Unternehmen haben den GKK per Ende 2008 rund 955 Mio. Euro geschuldet. Dies geht aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung durch Sozialminister Rudolf Hundstorfer hervor. Bei etwa 45 Prozent davon oder 435 Mio. Euro handelt es sich um Dienstnehmerbeiträge. Die höchsten Beitragsrückstände musste mit 346 Mio. Euro die WGKK verzeichnen.
Durchschnittlich fast 48 Prozent der Rückstände (456 Mio.) waren "insolvenzverhangene" Beitragsforderungen. In Kärnten belief sich dieser Anteil sogar auf 68,6 Prozent (28 von fast 41 Mio. Rückständen). Die Höhe der Beitragsrückstände, die als uneinbringlich abgeschrieben wurden, belief sich im Jahr 2008 auf insgesamt 170 Mio. Euro.
In den vergangenen zehn Jahren musste über eine Milliarde Euro an Sozialversicherungsbeiträgen als uneinbringlich abgeschrieben werden - diese Summe ist fast ident mit dem Kassendefizit des Jahres 2009 von 1,2 Mrd. Euro.

Rechtswidrige Handlung

Die parlamentarische Anfragebeantwortung liefert auch die Zahl der Anzeigen wegen Verstößen gegen die Vorschriften über die Einbehaltung und Einzahlung der Beiträge von DienstnehmerInnen durch DienstgeberInnen. Das Nichtabführen der Dienstnehmerbeiträge ist für sich genommen schon eine rechtswidrige Handlung, weil der Dienstgeber ja nur der Treuhänder dieser Beiträge ist, weiß Hans-Georg Kantner vom Kreditschutzverband von 1870 (KSV).
In über tausend Fällen haben die Kassen Anzeigen wegen Verstoßes gegen die Vorschriften über die Einbehaltung und Einzahlung der Beiträge eines Dienstnehmers durch die Dienstgeber betreffend den § 114 ASVG (Allgemeines Sozialversicherungsgesetz) erhoben. So wurden in Wien 690 Fälle angezeigt, jeweils rund 100 in der Steiermark, in Kärnten und in Salzburg. OÖ übermittelte 51 Sachverhaltsdarstellungen an die Staatsanwaltschaft, Tirol erstattete 199 Strafanzeigen, Burgenland und Vorarlberg je drei und Niederösterreich sieben.3
Während die UnternehmerInnen also einen strafrechtlichen Tatbestand begehen - wo ist da der sonst medial so vor sich hergetragene "Gerechtigkeitssinn" der Frau Justizministerin Bandion-Ortner? - und schuld für die Schulden der GKK sind, sollen wiederum die Krankenversicherten über Leistungseinschränkungen und höhere Selbstbehalte oder Medikamentenkosten (höhere Rezeptgebühren bzw. häufigere Rezeptgebühren, weil z. B. bei Dauermedikation kleinere Verpackungen öfters verschrieben werden müssen) belastet werden.

Bittere Pillen

Über die Beitragsschulden der Firmen hinaus haben die Krankenkassen noch eine Vielzahl von Kosten zu schultern, die durch die im Gesundheitsbereich tätigen Unternehmen direkt "verschuldet" werden. So ist etwa ausgabenseitig der Aufwand für die Medikamente, sprich die Gewinne der Pharmaindustrie, im Zeitraum von 1998 bis 2008 prozentuell doppelt so schnell angestiegen wie die Beitragseinnahmen (37,7) oder die Ärztehonorare (42,2) oder die Spitalskosten (41,8), nämlich auf fast 81 Prozent!4
Das heißt, viele der steigenden Kosten und damit die "Schulden" der Kassen sind z. B. der Pharmaindustrie "geschuldet". Und wofür verwenden diese u. a. ihr als Kosten den Kassen verrechnetes Geld? Aus den USA, wo ja die Pharmabranche gegen die dortige Gesundheitsreform Sturm läuft, sind dazu Zahlen bekannt: Im ersten Halbjahr 2009 hat die Pharmaindustrie rund 609.000 US-Dollar täglich (!) zur Beeinflussung der Gesetzgeber aufgewendet.5 Natürlich, Österreich ist nicht die USA, aber die Pharmakonzerne sind international tätig. So beträgt laut dem Medizin-Journalisten Hans Weiss z. B. der Kostenanteil des Wirkstoffes im Mittel Viagra nur 0,02 Euro, während das Produkt selbst für zehn Euro verkauft wird!6
Auch der Staat, der Gesetzgeber selbst, greift in die Kasse der Kassen, um das Budget zu sanieren, dessen Ausgaben zuvor meist direkt oder indirekt zur Förderung der Wirtschaftsseite getätigt werden. Was Beschäftigte und BetriebsrätInnen der Krankenkassen oder die Plattform proSV schon vor Jahren nachwiesen, kommt jetzt ans Tageslicht einer breiteren Öffentlichkeit: Weil die Ärzte um ihre Honorarerhöhungen bangen, rücken auch sie mit der Wahrheit heraus: Der Staat plündert die Kassen fürs Budget, und das verstärkt seit der schwarz-blauen Regierung. So wurde nach Daten des Hauptverbandes der SV allen neun
GKKs gesamt für Leistungen, für die sie nicht zuständig sind (Wochengeld, Arbeitslosenkrankengeld, Rezeptgebühr-Obergrenze), im Jahr 2009 allein 180,4 Mio. Euro (!) verrechnet.7
Das Budget der SV beträgt rund 40 Mrd. Euro und fließt zu 97 Prozent (nur knapp drei Prozent macht der Verwaltungsaufwand aus) zurück in Leistungen für die Versicherten. Die Beiträge dafür bringen die arbeitenden Menschen selbst auf. Profit wird in der SV - absichtlich und im Interesse der Versicherten - keiner gemacht. Die SV ist der größte Non-Profit-Bereich Österreichs. Ihr Budget ist das zweitgrößte nach dem des Bundes.

Begehrlichkeiten privater Anbieter

Daher rührt die Begehrlichkeit der privaten Gesundheitsanbieter und privaten Versicherer, die sich diesen Markt zugänglich machen wollen. Die Defizitdebatte ist ihnen dabei ein willkommener Vorwand. Dass man von den Unternehmerschulden so wenig hört, wird in diesem Zusammenhang "verständlich": Es würde das propagierte Katastrophenszenario vom unfinanzierbaren Gesundheitssystem in Luft auflösen.

1 APA, 23. 6. 2009
2 Quelle: WGKK, Jänner 2010
3 Standard, 6. 11. 2009; Die Presse, 10. 11. 2009
4 Quelle: WGKK, Jänner 2010
5 TIME, 2. 11. 09
6 Hans Weiss: Korrupte Medizin. Ärzte als Komplizen der Konzerne. 2008
7 Presse, 16. 4. 10

Weblinks
Mehr Infos unter:
www.sozdok.at
www.hauptverband.at
www.prosv.akis.at
www.bmg.gv.at

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