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Durchbruch im Kampf

Internationales

TEKEL-ArbeiterInnen in der Türkei kämpfen gegen die Schließungspläne der Erdogan-Regierung - am 78. Tag konnten sie die erste Runde für sich entscheiden.

Von einem normalen Arbeitsalltag konnten die ArbeiterInnen des Tabakkonzerns TEKEL in den vorigen Monaten nur träumen. Denn ihrer war von lautstarken Kundgebungen, mehrtägigen Hungerstreiks und Festnahmen gekennzeichnet. Seit Mitte Dezember 2009 demonstrierten Tausende Beschäftigte gegen die Folgen der Privatisierung des Unternehmens und kämpften um Brot, Arbeitsplatz und Freiheit. Nach 78 Kampftagen, am 28. Februar 2010, konnten die ArbeiterInnen wieder einmal aufatmen und neuen Mut schöpfen: Das oberste Verwaltungsgericht der Türkei entschied, dass die vierwöchige Frist der Regierung für die Annahme der Wiederbeschäftigung als Niedriglohnkräfte gesetzeswidrig war.

Arbeitslosigkeit oder "4-C"

TEKEL, einst ein staatlicher Tabakmonopolist, wurde im Jahr 2008 schrittweise an British American Tobacco verkauft. Die Folge: Im Staatsbesitz blieben 40 Lager von Tabakblättern und Rohtabak. Diese sollten im Jänner 2010 geschlossen werden. Rund 12.000 Beschäftigte wären von dieser Maßnahme betroffen - auf sie wartete die Arbeitslosigkeit. Als Übergangslösung bot die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan entlassenen ArbeiterInnen die vorübergehende Weiterbeschäftigung als Staatsangestellte an, unter dem Modell, das als "4-C" bekannt wurde. Einige nahmen an, andere ließen sich auszahlen. Doch die streikenden ArbeiterInnen in Ankara beklagten, durch "4-C" drohen ihnen enorme Gehaltskürzungen und der Verlust von sozialen und tariflichen Rechten. Sie forderten von der Regierung Nachbesserungen. Der Ministerpräsident lehnte ab.
"Eher sterben wir, als dass wir mit leeren Taschen zurückkehren": Mit Sprechchören wie diesen kündigten sie an, was viele ihnen nicht zutrauten. Auf Worte ließen sie Taten folgen: Mehrere Hundert Betroffene samt Angehörigen reisten aus allen Teilen des Landes in Bussen in die Hauptstadt und kampierten 78 Tage in Zelten vor der Gewerkschaftszentrale TÜRK IS - und das in der kältesten Jahreszeit. Mit mehrtägigen Hungerstreiks unterstrichen sie ihre Forderungen an die Regierung. Die Protestbewegung artete zu einem Machtkampf zwischen der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und der TEKEL-Belegschaft aus. Die AKP-Regierung versuchte immer wieder, die Protestwelle zu boykottieren. Die Polizei ging gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Sie setzte Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Viele mussten ärztlich behandelt werden. Der Präsident der Gewerkschaft Tek-Gida-Is Mustafa Türkel wurde verhaftet. Erdogan setzte der Belegschaft eine vierwöchige Frist, sein Angebot anzunehmen und die Zelte abzubauen. Doch der Ruf nach fairer Behandlung konnte auch mit diesen Drohungen nicht stillgelegt werden. Im Gegenteil: Er wurde immer lauter. Landesweit solidarisierten sich Menschen mit den ArbeiterInnen. Mehrere Gewerkschaftsverbände, Künstler und Politiker bekundeten ihre Unterstützung für die (hunger-)streikende TEKEL-Belegschaft. Überall in der Türkei kam es zu Kundgebungen, sogar zu eintägigen Streiks von Gewerkschaftsmitgliedern. Oppositionsparteien in Ankara versorgten die Demonstranten mit Essen und Trinken. Erdogan warf ihnen Missbrauch von öffentlichen Mitteln vor und drohte mit Gefängnisstrafen. "Die TEKEL-Arbeiterlnnen sind zu einer Plattform für viele Menschen in diesem Land geworden, die ausgeschlossen, unterdrückt und ignoriert werden. Der Widerstand brach aus, als Erdogan jedermann Angst einjagte und einschüchterte", betonte der Generalsekretär der kemalistisch ausgerichteten Gewerkschaft Tek-Gida-Is.

Widerstand gegen Erdogans AKP

Zum ersten Mal seit ihrem Machtantritt im November 2002 sah sich Erdogans Regierungspartei AKP einem solch entschlossenen und in der Bevölkerung populären Widerstand gegenüber. Selbst Bergsteiger auf dem biblischen Berg Ararat an der Grenze zu Armenien zollten den ArbeiterInnen ihre Anerkennung. In mehr als 5.000 Meter Höhe entrollten sie ein Transparent mit dem Text: "So lange die Tekel-Arbeiter nicht frieren, frieren wir auch nicht."
Auch EU-weit erklärten Gewerkschaften, Parteien und Vereine ihre Solidarität mit den Betroffenen und suchten nach einem Dialog mit den türkischen Botschaften. Diese waren zu keinen Gesprächen bereit. Die GPA-djp-Interessengemeinschaft
work@migration forderte in ihrer Solidaritätserklärung die türkische Regierung auf, die Verhandlungen mit der zuständigen Gewerkschaft sofort aufzunehmen, und dass die betroffenen ArbeiterInnen Beschäftigungsgarantien für neue Arbeitsplätze bekommen.
Nachdem die AKP-Regierung alle Forderungen der Gewerkschaft nach Verhandlungen ignoriert hatte, freuten sich die seit über zwei Monaten kämpfenden ArbeiterInnen umso mehr über das Urteil des Verwaltungsgerichts. Nach einer Klage der Lebensmittelgewerkschaft beschloss am 28. Februar der türkische Staatsrat, dass die von der Regierung gesetzte 30-tägige Frist, innerhalb der die ArbeiterInnen entweder einen neuen Job suchen oder "4-C" akzeptieren sollten, gesetzeswidrig ist.
Der 28. Februar war der Tag, an dem das von Erdogan gestellte Ultimatum an die ArbeiterInnen ausgelaufen wäre.
Für rund 3.200 der insgesamt 12.000 Beschäftigten kam der Beschluss jedoch zu spät. Sie unterschrieben zuvor das Angebot der Regierung. Die Angst, ohne jede soziale Sicherung auf der Straße zu bleiben, war zu groß. Die übrigen ArbeiterInnen im Streikcamp fielen sich um den Hals, sie können den Kampf um ihre Arbeitsplätze weiterführen und bekommen weiterhin Übergangsgeld. "Unser Kampf für TEKEL tritt nun in eine neue Phase. Wir haben 4-C nicht akzeptiert und werden 4-C nicht akzeptieren", erklärte Türkel. Anschließend kündigte er eine Aussetzung des Streiks für einige Wochen an. Ab April würde es erneute landesweite Gewerkschaftsaktionen geben.

Rückhalt in der Gesellschaft

Die Zelte vor der Zentrale wurden sofort abgebaut, offenbar um einer polizeilichen Räumung zuvorzukommen. Er werde den "Missbrauch des TEKEL-Themas" nicht länger akzeptieren, erklärte Erdogan zwei Tage zuvor ultimativ. Trotz seiner nach außen harten Linie wird der erfolgsverwöhnte Premier wohl früher oder später einlenken müssen. Denn ein Jahr vor der nächsten Parlamentswahl droht dem Regierungschef ein folgenreicher Ansehensverlust, der Protest hat in der Gesellschaft breiten Rückhalt gefunden.

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