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Das was die Gesellschaften im Grunde zusammenhält ist die Idee, eine bessere Welt für die nächste Generation zu schaffen. Das was die Gesellschaften im Grunde zusammenhält ist die Idee, eine bessere Welt für die nächste Generation zu schaffen.

Unser Budget?

Schwerpunkt

BürgerInnenbeteiligung als Antwort auf die aktuelle Krise und die strukturellen Probleme der repräsentativen Demokratie.

Politik ist im Wesentlichen Haushaltspolitik. Die Verabschiedung des Haushalts, des Budgets, ist nicht nur für die Regierungen, sowohl auf Bundes- wie auf Landesebene, sondern auch für die Kommunen, die zentrale Entscheidung jährlich, da hier die Weichen für die zukünftigen Entwicklungen gestellt werden. Da die potenziellen Ausgaben immer größer sind als die Einnahmen, besteht die Aufgabe der Politik darin, Prioritäten zu setzen. So lange sich aber genug in dem Füllhorn befindet und alle Interessen mehr oder weniger berücksichtigt werden, gibt es keine großen Probleme. Schwierig wird es, wenn es weniger zu verteilen gibt. In diesem Sinne legt die gegenwärtige Krise schonungslos strukturelle Probleme unserer parlamentarischen Demokratien offen. Die Regierungen sind nicht mehr in der Lage, in dieser Situation, in der es unumgänglich um Einsparungen und das Zurückschrauben von Besitzständen geht, die entsprechenden notwendigen aber unpopulären Maßnahmen anzugehen, geschweige denn durchzusetzen.

Problem PolitikerInnen

Politische Spannungen verlaufen nicht mehr, wie bisher, zwischen rechten und linken Ideologien und Parteien, sondern zwischen den BürgerInnen und der politischen Elite insgesamt. Nach jüngsten Umfragen in Spanien über die schwerwiegendsten Probleme der spanischen Gesellschaft, sind die PolitikerInnen und die politischen Parteien nach der Arbeitslosigkeit und der wirtschaftlichen Situation auf Platz drei gerückt.

Die Idee einer besseren Welt

Es darf daher auch nicht verwundern, dass populistische und autoritäre Parteien und PolitikerInnen immer mehr Zulauf bekommen. Diese Entwicklungen sind z. B. in Italien, Griechenland, Holland aber auch in den USA (Tea Party) zu beobachten. Ebenso wenig überrascht es, dass in den neun osteuropäischen Ländern nicht nur die BefürworterInnen des kapitalistischen Systems, sondern sogar des Wechsels zur Demokratie drastisch zurückgegangen sind (laut einer Umfrage des Pew Centers, zitiert in: El PaÌs, 27. 2. 2010). Das was die Gesellschaften im Grunde zusammenhält ist die Idee, eine bessere Welt für die nächste Generation zu schaffen. Davon sind wir im Moment aber weit entfernt, und die Anzeichen werden immer offensichtlicher, dass die nächste Generation sehr wahrscheinlich wesentlich schlechter dastehen wird als die gegenwärtige.
In der allernächsten Zukunft müssen wir uns extrem wichtigen Fragen aussetzen, wenn wir verhindern wollen, dass es zu massiven sozialen Unruhen kommt: Wie reagieren wir auf die Folgen der Überalterung der Gesellschaft? Was tun wir, um den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Umwelt zu hinterlassen? Wie organisieren wir uns gesellschaftlich, wenn Arbeit nicht mehr die Lösung auf unsere sozialen und wirtschaftlichen Probleme darstellt? Wir arbeiten doch heute nicht mehr, um nachgefragte Produkte herzustellen, sondern produzieren Produkte, die wir eigentlich nicht brauchen, und die wir uns auch nicht leisten können, um Arbeitsplätze zu sichern oder zu schaffen. Die Abwrackprämie ist das beste Beispiel dafür.
D. h. wir stehen vor epochalen, sehr komplexen und sogar lebenswichtigen Fragen und brauchen eine breit angelegte gesellschaftliche Debatte über die Frage, wie unsere Gesellschaft in Zukunft gestaltet werden soll.

BürgerInnenbeteiligung

Die Themen BürgerInnenbeteiligung, direkte Demokratie etc. sind in letzter Zeit immer stärker in den Vordergrund gerückt. Dabei ist es nicht nur bei einer theoretischen Debatte geblieben, sondern es hat viele praktische Anwendungen in verschiedenen Ländern und Regionen gegeben. Vielleicht am bekanntesten ist der sog. Bürgerhaushalt von Porto Alegre in Brasilien. Dort haben sich die BürgerInnen aus den ärmeren Stadvierteln in die Entscheidungen über die prioritären Investitionen in ihrem Umfeld miteingebracht. Insgesamt ist es so zu mehr Transparenz über den Haushalt gekommen; der Anteil für Investitionen insbesondere im Infrastrukturbereich hat drastisch zugenommen und die Einstellung der BürgerInnen zu "ihrer" Kommune hat sich geändert, was z. B. dazu geführt hat, dass öffentliche Verkehrsmittel, die sich vorher in scheußlichem Zustand befanden, heute einwandfrei sind.
Aber auch BürgerInnenbeteiligung will definiert sein. So stellte z. B. Greta Billing, Ministerialbeamtin aus Oslo, auf einer Tagung des Europarates zu diesem Thema fest, dass sich herausgestellt habe, dass bei den Bürgerbeteiligungsprojekten im Wesentlichen 35- bis 50-jährige, gebildete und sozial wie politisch aktive Männer teilnähmen. Es mache wenig Sinn, neue Verfahren einzuführen, in denen wieder die Personen überrepräsentiert seien, die schon in den konventionellen Verfahren das Sagen haben.
Das heißt, ein entscheidendes Kriterium zur Bewertung eines Beteiligungsverfahrens ist der Selektionsprozess. Hier hat sich die Zufallsauswahl bewährt. Weitere wichtige Kriterien sind, dass die BürgerInnen über das anstehende Problem ausreichend informiert und in kleinen Gruppen organisiert werden, in denen sie auch wirklich zu Wort kommen und mit den anderen ihre Argumente austauschen, dass sie Spaß an der Sache haben, dass es sich nicht um eine Simulation handelt, und dass die gemachten Vorschläge hinterher auch umgesetzt werden.

Planungszelle

Peter Dienel der Erfinder der Planungszelle, einem der ersten zur Anwendung gebrachten Verfahren, das unter anderen Namen auch in anderen Ländern zur Anwendung gekommen ist (Citizen Juries, Panels de Citoyens, Núcleos de IntervenciÛn Participativa etc.) hat seinerzeit richtig analysiert, dass Situationen wie sie in diesen Projekten als Rahmenbedingung für eine deliberative Debatte zwischen BürgerInnen angeboten werden, im Alltag nicht vorkommen und daher künstlich geschaffen werden müssen.
Kürzlich durchgeführte Forschungen des "Centre of Research for Environmental Decisions" der Universität Columbia (USA)1, die mit ähnlichen Verfahren zu Umweltthemen gearbeitet haben, belegen, wie die Gruppendynamik in diesen künstlich geschaffenen Rahmenbedingungen Entscheidungen ermöglichen, zu denen die gleichen BürgerInnen als Individuen wahrscheinlich nicht fähig gewesen wären. So unterschätzen Individuen die Gefahr von Ereignissen, die vermeintlich sowohl zeitlich wie räumlich noch weit entfernt sind. Darüber hinaus belegt diese Studie, dass wir anscheinend nur über eine begrenzte Reserve an "Beunruhigungspotenzial" verfügen, was dazu führt, dass unsere Sorge z. B. über den Klimawandel schwindet, sobald eine andere Bedrohung auftaucht, z. B. ein Börsencrash oder ein persönliches Problem.
Die Erfahrungen der Arbeit mit zufallsausgewählten BürgerInnen in Kleingruppen dagegen belegen, dass diese sich eher für ein langfristiges gemeinsames Ziel engagieren. Wie Prof. Elke Weber, eine beteiligte Wissenschafterin dazu ausführt, schätzen wir es zu erfahren, dass wir Bestandteil einer Gruppe sind. Und wenn wir uns als Bestandteil einer Gemeinschaft sehen, entwickelt sich diese Gruppe zu einer Art Stabsabteilung zur Entscheidungsfindung. So wird es möglich, den BürgerInnen große Opfer abzuverlangen, ähnlich wie während der Kriege.

Zerreißprobe der Demokratie

Diese Ergebnisse belegen, dass Peter Dienel seiner Zeit weit voraus war. Er entwickelte seine Methode in einer Epoche, die man heute im historischen Rückblick als "Schönwetterphase" unserer parlamentarischen Systeme bezeichnen könnte. Heute befinden wir uns in einem heftigen Unwetter, und es ist alles andere als sicher, dass wir diese Stürme unbeschadet überstehen werden. Die Demokratie befindet sich in einer wirklichen Zerreißprobe und wenn wir den genannten Tendenzen entgegenwirken wollen, müssen wir, um es mit Willy Brandt zu sagen, mehr Demokratie wagen.
San Sebasti•n, Februar 2010

Weblink
Studie der Universität Columbia:
www.cred.columbia.edu/research/projects/strategicorientation

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drhansharms@yahoo.es
oder die Redaktion
aw@oegb.at

1 Es handelt sich um die noch laufende Studie dieses Instituts "Strategic Orientation in Individual and Group Decisions", durchgeführt von Tory Higgins, John Levine, David Krantz und Elke Weber, zitiert in: El PaÌs Semanal, Nº 1728, 8.11.2009, S. 84-86. Siehe Webtipp.

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