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Von einer Favela spricht heute niemand mehr: Jardim Gonzaga, »Garten Gonzaga«, wie das Viertel mittlerweile heißt, wird von seinen BewohnerInnen selbst verwaltet und weist eine beachtliche Infrastruktur auf. Von einer Favela spricht heute niemand mehr: Jardim Gonzaga, »Garten Gonzaga«, wie das Viertel mittlerweile heißt, wird von seinen BewohnerInnen selbst verwaltet und weist eine beachtliche Infrastruktur auf.

Im Dienst der Menschen

Internationales

Brasilien setzt vermehrt auf solidarökonomisches Wirtschaften. Inzwischen gibt es bereits 22.000 Kooperativen mit 1,7 Mio. Mitgliedern.

Suzana Alves da Silva, eine resolute Mittvierzigerin, sitzt geschäftig telefonierend in ihrem Büro im brasilianischen São Carlos, einer für brasilianische Verhältnisse kleinen Stadt im Bundesstaat São Paulo. Suzana führt die Geschäfte der auf Gebäudereinigungen spezialisierten solidarökonomischen Kooperative COOPERLIMP. Das war nicht immer so - vor etwas mehr als zehn Jahren war Suzana arbeitslos, lebte im Armenviertel Favela Gonzaga und hielt sich und ihre Familie durch das Sammeln von wiederverwertbarem Müll über Wasser. Ende der 1990er-Jahre reichte es: Gemeinsam mit sieben weiteren Frauen und der Unterstützung durch engagierte ProfessorInnen und StudentInnen der Universität von São Carlos gründete sie die solidarökonomische Kooperative.

Tischlerwerkstatt Madeirarte

Rund 80 km von São Carlos entfernt steht Elisabeth de Oliveira Salgado mit ihren vier Kolleginnen in der Tischlerei Madeirarte. Auch sie war nicht schon immer Tischlerin: Mitte der 1980er-Jahre haben sie und ihr Mann mit rund 40 weiteren landlosen Familien brachliegendes Land besetzt und eine Siedlung gegründet. Jahrelang haben sie in ärmlichen Hütten gehaust, bevor sie im Sommer 2000 begannen, mit regional verfügbaren Rohstoffen richtige Häuser zu bauen. Um die dafür nötigen Fenster und Türen herzustellen, wurde Madeirarte gegründet - ebenfalls als solidarökonomische Kooperative.

Solidarische Ökonomie?

Das Konzept Solidarökonomie klingt fast märchenhaft: »Solidarökonomie ist ein anderer Weg, zu produzieren, zu handeln und zu tauschen. Ohne andere dafür auszubeuten, ohne Profitgier, ohne die Umwelt zu zerstören.« Solidarökonomisches Wirtschaften ist somit das Gegenteil von dem, was wir landläufig unter »Wirtschaft« verstehen: Statt auf beinharten Wettbewerb wird auf Kooperation gesetzt; gemeinsames ersetzt privates Eigentum; statt autoritären Führungsstrukturen werden Entscheidungen in einem gemeinsamen Prozess getroffen - das bestimmende Prinzip ist die Solidarität.
Solidarität nach innen, die sich in solidarischen Strukturen innerhalb einer Kooperative äußert - wie eben der gemeinsamen Entscheidungsfindung, aber auch einer gleichen Entlohnung aller, ohne Unterschied der Position im Unternehmen und Managerboni. »In einer kapitalistischen Firma wird man wegen jeder Kleinigkeit rausgeschmissen - ist man einmal länger krank und schon ist man seinen Arbeitsplatz los. Außerdem verdienen die Chefs viel und die ArbeiterInnen fast nichts. Bei uns in der Kooperative teilen wir den Gewinn gleichmäßig unter allen auf«, erklärt eine Mitarbeiterin von COOPERLIMP das Prinzip. Solidarität, die sich aber auch nach außen richtet, indem im Umfeld Einrichtungen geschaffen werden, die allen zugute kommen: Kindergärten, Sozialzentren, Schulen ...
So utopisch das für jemanden klingt, der im »wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt« (Lissabon-Strategie der EU) lebt, so real ist Solidarökonomie in Brasilien. Die oben stehende Definition stammt von der Website des brasilianischen Staatssekretariats für Solidarökonomie, das im Arbeitsministerium angesiedelt ist. Brasilien betrachtet Solidarökonomie als einen sinnvollen Weg für nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion. Entsprechend intensiv werden solidarökonomische Initiativen gefördert: In der Zwischenzeit gibt es über 22.000 Kooperativen mit rund 1,7 Mio. Mitgliedern in ganz Brasilien.

Demokratie und Solidarökonomie

Hand in Hand mit dem Prinzip der Solidarität geht das der Demokratie. COOPERLIMP hat rund 260 MitarbeiterInnen - und trotz dieser Größe werden Entscheidungen, wie zum Beispiel die Anschaffung des neuen Autos, das stolz vor dem Büro parkt, gemeinschaftlich getroffen. In monatlichen Versammlungen, an denen alle teilnehmen, werden Vorschläge eingebracht, diskutiert, Beschlüsse gefasst oder verworfen. Jede solidarökonomische Kooperative ist damit auch eine lebendige Werkstatt, in der Demokratie gelebt wird. »Das war eines der schwierigsten Dinge, die wir lernen mussten«, meint Suzana, »zusammen zu arbeiten, sich auf jemand anderen verlassen und nicht nur allein und für sich zu kämpfen.« Die Mitarbeit in einer solidarökonomischen Kooperative verhilft also nicht »nur« zu Arbeit und Einkommen. Das Gefühl, eine sinnvolle Aufgabe zu haben, in einem würdevollen Umfeld zu arbeiten und gleichberechtigter Teil einer Gemeinschaft zu sein, gibt den Mitwirkenden vor allem auch Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Und nur jemand, der sich selbst als wichtigen und wertvollen Teil der Gesellschaft begreift, traut sich auch zu diese mitzugestalten. Dieser zutiefst politische Aspekt ist ein weiterer ausdrücklicher Grund für Brasiliens Regierung, Solidarökonomie zu stärken.

Wasser für Favela Gonzaga

Dass das Konzept aufgeht, kann man auch in São Carlos sehen. Vor etwas mehr als 20 Jahren, als Menschen ohne geregeltes Einkommen dort armselige Hütten zimmerten, war die Favela Gonzaga der ärmste Teil der Stadt, ein Elendsviertel ohne Elektrizität, Trinkwasser und Abwasserversorgung. »Die einzige Wasserquelle war ein kleiner Bach, ganz unten in der Schlucht. Dort mussten wir jeden Tag Wasser holen, und wenn es ums Wäschewaschen ging, gab es immer Streitereien, wer zuerst waschen darf«, erzählt Suzana. Von einer Favela spricht heute niemand mehr: Jardim Gonzaga, »Garten Gonzaga«, wie das Viertel mittlerweile heißt, wird von seinen BewohnerInnen selbst verwaltet und weist eine beachtliche Infrastruktur auf. Neben den absolut notwendigen Installationen wie Wasser und Strom wurden auch alle Gassen gepflastert, das Viertel verfügt über zwei Kindergärten, ein Sport- und Freizeitzentrum und ein Sozialzentrum mit eigenem Arzt.
Selbstbewusst sind auch die Tischlerinnen von Madeirarte. Natürlich fällt es sofort auf, dass nur Frauen an den schweren Maschinen in der Tischlerei arbeiten. »Den Männern«, erzählt Tischlerin Elisabeth lachend, »ist schon während dem Ausbildungskurs aufgefallen, dass die Tischlerei schwere Arbeit ist. Die sind dann bald einfach nicht mehr gekommen.« Also führten die fünf Frauen die Werkstatt ohne Männer weiter. Die 42 Häuser für die Familien der LandbesetzerInnen sind längst fertiggestellt, und nachdem Fenster und Türen nicht mehr gebraucht werden, hat Madeirarte umgesattelt. Hergestellt werden jetzt alle Arten von Möbeln - nach eigenen Entwürfen.
Verändert hat sich durch Madeirarte nicht nur die Wohnsituation der BewohnerInnen, insbesondere das Leben der Tischlerinnen hat sich durch die Arbeit radikal verändert: »Ich habe früher nie außerhalb des eigenen Hauses gearbeitet, das Geld hat immer mein Mann heimgebracht. Heute verdiene ich selber und bin damit unabhängig«, erzählt eine der Frauen. Ihr Mann kümmert sich in der Zwischenzeit um den Haushalt, den Gemüsegarten und die Hühner. Wie sieht er die veränderten Geschlechterverhältnisse? »Die Zeiten ändern sich. Das muss man halt einfach akzeptieren«, sagt er, verschmitzt grinsend.
Auch für Brasiliens Gewerkschaften hat Solidarökonomie die Zeiten geändert. Anfangs standen sie der Idee sehr ablehnend gegenüber, hielten am Konzept der traditionellen Lohnarbeit fest. Das bietet aber spätestens dann keine Lösungsansätze mehr, wenn ganze Fabriken geschlossen werden und Hunderte ArbeiterInnen dadurch ihre Jobs verlieren. 1997 passierte genau das: Conforja, einer der größten Betriebe der lateinamerikanischen Metallindustrie, war bankrott, 600 ArbeiterInnen standen vor dem Aus. Sie besetzten und übernahmen das Unternehmen - mit Unterstützung der Metallindustriegewerkschaft. Die beschloss daraufhin, die Mitglieder solidarökonomischer Kooperativen als Mitglieder zuzulassen und die Gründung neuer Kooperativen zu fördern.

Gewerkschaft für Solidarökonomie

Die CUT, Brasiliens größter Gewerkschaftsverband, hat eine eigene Agentur zur Entwicklung solidarökonomischer Kooperativen gegründet, und seit 2000 gibt es mit der UNISOL gar eine eigene Gewerkschaft für deren Mitglieder.

Weblink
Mehr Infos unter: de.wikipedia.org/wiki/Solidarökonomie

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