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Krisenregion Waldviertel »Ich behaupte: Das Waldviertel wird systematisch beraubt«, sagt Karl A. Immervoll, der vom Orgelspiel während der Messe ins Pfarrcafé kommt. »Als erstes geht das Geld weg, als zweites die Arbeitsplätze und als drittes die Leute.«

Krisenregion Waldviertel

Schwerpunkt

Ließe man den Reichtum in der Region, sagen KennerInnen des Waldviertels, könnte man sich selbst Fördergelder sparen.

Mit Erica aus Bratislava geht die Besucherin aus Wien Milch holen. Zwei Liter, frisch von der Kuh, ein Euro. Erica wohnt hier, zwei Wochen pro Monat, sie betreut die alte Nachbarin, 24 Stunden, Tag und Nacht. Erica genießt hier Respekt, im kleinen Zeilendorf an der Lainsitz, 90 km östlich von Linz, 150 km westlich von Wien, 20 km südlich von der Grenze zur Tschechei. Die Kanne der Besucherin, sagt die Bäuerin, etwa im Alter der betreuten Nachbarin, die Kanne hat innen einen Fleck. Die Pflegerin beschwichtigt, die Milch wird eingefüllt. Mit heftigem Hin und Her des Zeigefingers rettet die Slowakin gleich wieder die Lage. Man gibt nicht zwei Euro, wenn es einen geheißen hat. Im Waldviertel, heißt es, gehen die Uhren anders.

Das Waldviertel?

»Die Region gilt als strukturschwach, wirtschaftlich benachteiligt, wegen der Grenze, sagt man: Vor 1989, weil sie geschlossen war, danach, weil sie offen ist. Dabei war es seit mindestens 200 Jahren die Abhängigkeit von Zentralräumen, die das Waldviertel schwächte und es immer noch tut«, schreibt Karl A. Immervoll, seit 1983 Betriebsseelsorger im Oberen Waldviertel in einem Aufsatz.
Die Zahlen sind alarmierend: Von den vier Bezirken Niederösterreichs mit stärkstem Anstieg an vorgemerkten Arbeitslosen des Monats September liegen drei im Waldviertel: Gmünd (+24,8 Prozent), Zwettl (+13,7 Prozent) und Waidhofen/Thaya (+12,8 Prozent). »Die 1.800 neuen Arbeitsplätze, die für das Waldviertel in den letzten zwei Jahren zusätzlich geschaffen worden sind, gibt es nicht«, kommentierte der SP-Bundesrat Karl Boden die Situation. Es seien statistische Zahlenspielereien. Die Einkommen der Region liegen unter dem niederösterreichischen Durchschnitt, weitere Abwanderungswellen sind nicht auszuschließen.
»Für das Waldviertel als periphere Region Österreichs können mehrere Probleme konstatiert werden«, heißt es in der Studie der AK-Niederösterreich »Waldviertel: Alles gleich, oder doch verschieden?«, die Ende Oktober in Schrems vorgestellt wurde. Eines der zentralsten Themen ist der Bevölkerungsrückgang, der seit 1951 zu verzeichnen ist. »Vor allem Perspektivenlosigkeit als Kombination aus mangelnden Jobaussichten und Ausbildungsmöglichkeiten haben zu diesem Schwund geführt«, konstatiert Studienautor Jürgen Figerl.

Regionalwährung

Im Korb des Pfarrcafés, das nach der Sonntagsmesse in Heidenreichstein veranstaltet wird, liegen Münzen, Euroscheine und lila und grüne Scheine: »Der Waldviertler«. Im Jänner 2005 war die Regionalwährung von einer kleinen Gruppe engagierter Waldviertler, darunter der Betriebsseelsorger Karl A. Immervoll und der nunmehrige Betreiber der Schuhfabrik Gea in Schrems, Heini Staudinger, ins Leben gerufen worden. Derzeit werden neue Scheine gedruckt, Zentrum der Neuauflage ist Heidenreichstein, wo an der lokalen Volksbank die Rechengeschäfte abgewickelt werden. Die Idee dahinter: Das Abfließen des Geldes zu verhindern und die lokale Wirtschaft zu fördern. Ähnlich wie im Tiroler Wörgl 1932 die Krise durch das »Freigeld« erfolgreich bekämpft werden konnte, hofft man auch in Heidenreichstein, mit dem Gutscheinsystem das Monopol des herrschenden Geldes zu brechen.

Ausbeutung

»Ich behaupte: Das Waldviertel wird systematisch beraubt«, sagt Karl A. Immervoll, der vom Orgelspiel während der Messe ins Pfarrcafé kommt. »Als erstes geht das Geld weg, als zweites die Arbeitsplätze und als drittes die Leute.«
Verstärkt wird diese Tendenz durch die Konzernbetriebe und Großmärkte. Nach einer vorsichtigen Kalkulation bedeutet das für eine Kleinstadt wie Heidenreichstein (mit knapp 5.000 EinwohnerInnen) und deren Umland jährlich mindestens zwölf Mio. Euro, Geld, das nicht annähernd zurückfließt, meint Karl A. Immervoll.
Auffallend ist die hohe Anzahl der geringfügig Beschäftigten in Horn, vermerkt die erwähnte AK-Studie. Warum gerade hier? »Weil es in Horn ein riesiges Einkaufszentrum gibt«, sagt Karl A. Immervoll. »Wo alle aus dem Waldviertel hinfahren. Riesige Mengen an Geld werden hingetragen, ohne dass Arbeitsplätze entstehen.« Auch die verkauften Produkte kommen nicht aus der Region.
»Was derzeit durch die Mechanismen der neoliberalen Markwirtschaft dem Waldviertel täglich an Geld verloren geht, kann niemals durch Förderungen ausgeglichen werden«, meint der Pastoralassistent, der mit Arbeitslosen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen in der Region viele Projekte initiiert hat, von der Eggenburger Lehrwerkstätte, der Heidenreichsteiner Arche bis zu Waldviertel: Arbeit und Integration. In den 27 Jahren seiner Arbeit im Oberen Waldviertel sind so mehr Arbeitsplätze entstanden als etwa in einem mittleren Betrieb.

Hier ticken die Uhren anders

So zum Beispiel die Schuhfabrik Gea in Schrems, die vor 25 Jahren mit Fördermitteln des damaligen Sozialministers Alfred Dallinger als Initiative für Arbeitslose entstanden war. Die hier produzierten Schuhe haben »10.000 Kilometergarantie«. »Eines Tages werden wir merken, dass Arbeit und gute Produkte einen realen Nutzen und einen Wert haben«, sagt der alternative Unternehmer Heini Staudinger. Zusammengearbeitet wird mit Firmen in Tschechien und Ungarn. Rund zwei Drittel der Arbeit an einem Schuh werden im Waldviertel geleistet.
Die Schuhwerkstatt ist eine der vielen Initiativen aus der »Blütezeit« des Waldviertels, den 80er-Jahren. »Autobusweise sind damals die Leute hergekommen, um die vielen Sozialinitiativen kennenzulernen. Hier gab es die ersten Berufsorientierungskurse, die ersten Ar-beitsloseninitiativen und die ersten Selbstverwaltungsbetriebe, erinnert sich Karl A. Immervoll.
Derzeit wird von der Betriebsseelsorge Oberes Waldviertel in Zusammenarbeit mit ÖGB und AK unter dem Titel »Was möchtest du von Herzen gerne tun?« eine neue Aktion gestartet. »Denn ich erlebe, dass die Arbeitslosen bemüht sind, einen Arbeitsplatz zu finden, koste es was es wolle. Bei vielen müsste man aber sagen: Vergiss es, du bekommst keinen Arbeitsplatz in dem System.« Vor allem Menschen mit einfacherer Bildung fallen heraus. »Dabei sind das Menschen mit Fähigkeiten, die so verloren gehen«, sagt Karl A. Immervoll. So haben etwa sämtliche Vereine im Waldviertel mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen. »Aber wer wird sich ehrenamtlich engagieren, wenn er sich die Existenz nicht leisten kann?«
Im Waldviertel ticken die Uhren anders: In Zeiten der Hochkonjunktur wird es als letztes, in Zeiten der Krise als erstes erfasst. Interessant, so belegt die Studie der AK-Niederösterreich, dass sogar in früheren, konjunkturell guten Zeiten (2005 bis 2007) in der Region Gmünd und Waidhofen an der Thaya die sogenannten Stellenandrangziffern gestiegen waren. Die Arbeitslosenquote in den beiden Bezirken war im Zeitraum 2000 bis 2008 um zwei bis drei Prozentpunkte höher als in Restniederösterreich.
Seit Anfang September gibt es in der Region einen mobilen Sozialmarkt. Als politisches Programm etwas dürftig, meinen die Leute aus der Umgebung.

Ein gutes Leben ist möglich

Im Oberen Waldviertel wird es demnächst nicht nur die neu gedruckten Scheine der Waldviertler Regionalwährung mit dem Slogan »Ein gutes Leben ist möglich« geben. Mit einer eigenen Netzwerkstatt sollen die einzelnen Initiativen noch besser miteinander kommunizieren.

Arbeitsmarkt öffnen

Mit einem Pilotprojekt, das von der Fachhochschule St. Pölten begleitet wird, soll ein soziales Netzwerk entstehen, um die von Arbeitslosigkeit und Armut bedrohten Familien zu stützen.
Ganz dringend bedürfe es einer Öffnung des Arbeitsmarktes für Bereiche, die nicht dem ökonomischen Zwang unterworfen sind, meint Karl A. Immervoll. »Denn der sogenannte erste Arbeitsmarkt hat weder die Kapazität noch den Willen, für alle Platz zu machen.«

Weblinks
Studie der AK-Niederösterreich über die aktuelle Situation im Waldviertel:
noe.arbeiterkammer.at/online/waldviertel-51027.html
Waldviertler Alternativen
www.waldviertler-alternativen.at

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