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EU-Nachbar Marokko Jeder/jede fünfte MarokkanerIn lebt von weniger als einem Euro pro Tag. Nur ein Drittel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent und der Analphabetismus ist ungebremst hoch.

EU-Nachbar Marokko

Internationales

Armut, fehlende Perspektiven und ein autoritärer Staat bringen islamischen Fundamentalisten im Mittelmeerland ungebremsten Zulauf.

2003: In der marokkanischen Hafenstadt Casablanca werden bei einem Selbstmordattentat 41 Menschen getötet und mehr als 100 verletzt. Ein 14-köpfiges Selbstmord-Kommando löst im Finanz- und Vergnügungsviertel zeitgleich fünf Explosionen aus.
2007: Im März sprengt sich in einem Internetcafé in Casablanca ein Einzeltäter in die Luft. Im April tauchen zwei Attentäter auf und führen einen weiteren Anschlag aus.
2008: 35 Personen, die in algerischen Camps als Selbstmordattentäter ausgebildet worden sind, werden verhaftet. Sie haben Anschläge in Marokko und Europa geplant.

Der islamische Fundamentalismus breitet sich unübersehbar auch in Marokko aus. Stellt er eine Bedrohung für den marokkanischen Staat und Europa dar, oder gibt es wirksame Möglichkeiten, den fundamentalistischen Tendenzen entgegenzutreten?
IslamwissenschafterInnen weisen schon lange darauf hin, dass die Begeisterung für religiösen Fundamentalismus vor allem in jenen Gesellschaften dominiert, in denen ein autoritärer Obrigkeitsstaat mit repressiven Machtstrukturen regiert. Und die haben in Marokko eine lange Tradition.
Das Land wurde 1912 aufgeteilt in die Protektorate Französisch- und Spanisch-Marokko. Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg wurden in beiden Gebieten niedergeschlagen. Nach und nach formierte sich eine Unabhängigkeitsbewegung. Frankreich, geschwächt durch koloniale Konflikte in Indochina und Algerien, konnte seine Protektoratsmacht nicht aufrechterhalten. Marokko gewinnt 1956 seine staatliche Unabhängigkeit.
Die Franzosen unterdrückten in ihrer Kolonie dieselben demokratischen Ideale, die sie daheim in Europa predigten. Auch nach der Unabhängigkeit regierten die marokkanischen Könige Mohammed V (1955-1961) und Hassan II (1961-1999) weiterhin mit eiserner Hand, vom Westen aus reiner Rationalität unterstützt. Wie heuchlerisch und wenig glaubhaft müssen einem Marokkaner/einer Marokkanerin bei diesen Erfahrungen die europäischen Werte der Aufklärung erscheinen?

Unterdrückte Opposition
Demokratische Beteiligung war Islamisten wie Linken bis in die Neunzigerjahre hinein gleichermaßen untersagt. Der populäre Linkspolitiker Ben Barka wurde im Auftrag von König Hassan II ermordet. Unzählige Oppositionelle verschwanden in geheimen Gefängnissen, wo sie oft jahrelang gefoltert wurden oder starben.
In den 90er-Jahren wurde die Volkswahl für die 1. Kammer des Parlamentes eingeführt, doch durfte die größte islamistische Bewegung »Al-Adl Wal-Ihsan« (wörtl.: »Gerechtigkeit und Spiritualität«) daran nicht teilnehmen. Im Gegenteil, ihr beliebter populistischer Führer Abdessalam Yassine verbrachte lange Jahre im Gefängnis.
Der derzeit regierende König Mohammed VI war 1999 schließlich mit drei großen Reformzielen angetreten: Armutsbekämpfung, Emanzipation der Frauen sowie Durchsetzung eines Rechtsstaates.

Reformen
Es gibt tatsächlich merkbare Verbesserungen für die rechtliche Situation der Frauen, wie die Abschaffung des familiären Ehezwanges oder die Einführung eines Mindestheiratsalters und des Scheidungsrechtes für Frauen. Durch die Einführung einer nationalen Frauenliste wurde ein merklicher Fortschritt erreicht, fünfunddreißig Frauen wurden ins Parlament gewählt. Sie stellen nun 10,8 Prozent der Abgeordneten.
Das Gewicht der Frauen in der Politik ist aber nach wie vor äußerst gering. Und auch die Bildung spricht hier eine deutliche Sprache: Beträgt doch die Alphabetisierungsrate der Frauen nur 38 Prozent, während die männlichen Marokkaner zu über 60 Prozent Lesen und Schreiben können.
Auch im rechtsstaatlichen Bereich bewegt sich etwas: So wurde eine Wahrheitskommission eingerichtet, die die schlimmsten Fälle von politisch motivierter Folter und Ermordung aufklären soll und auch Entschädigungszahlungen bereitstellt.
Warum bekommen islamische Fundamentalisten aber dennoch noch ungebremsten Zulauf? Der Politikwissenschafter Mohammed Khallouk hält die Unterdrückung der größten islamistischen Oppositionsbewegung Al-Adl Wal-Ihsan für einen schwerwiegenden Grund. Al-Adl Wal-Ihsan ist zwar nicht gewaltbereit, lehnt aber das System der Monarchie ab und stellt damit das marokkanische Staatswesen als solches in Frage.
Untersagt man der Bewegung jedoch die Teilnahme am demokratischen Prozess, so Khallouk, würden viele streng religiöse Muslime in die Arme radikalerer und gewaltbereiterer Gruppen getrieben. Khallouk empfiehlt daher, beim Entgegentreten gegenüber islamistischen Strömungen noch stärker zwischen gewaltbereiten und gewaltfreien Gruppierungen zu unterscheiden.

Wenig Armutsbekämpfung
Dazu kommt, dass Mohammed VI bei der Armutsbekämpfung - einem seiner drei Reformziele - keine guten Ergebnisse vorweisen kann: Jeder/jede fünfte MarokkanerIn lebt von weniger als einem Euro pro Tag. Nur ein Drittel der Bevölkerung hat Zugang zu sauberem Trinkwasser, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 30 Prozent und der Analphabetismus ist ungebremst hoch. Der Zugang zu Gesundheitsleistungen ist begrenzt und die Qualität schlecht.
Islamistische Bewegungen springen hier oft ein, indem sie den Ärmsten Bildung und soziale Unterstützung zukommen lassen. Von Gesundheitsdienstleistungen bis zur Betreuung alter Menschen und Hausaufgabenunterstützung für unterprivilegierte Kinder reicht die Bandbreite, religiöse Indoktrinierung freilich inbegriffen. Ohne das sozialpolitische Versagen des marokkanischen Staates könnte ein so dichtes Netzwerk in dieser Form gar nicht entstehen.
Die Al-Adl Wal-Ihsan hat sogar eine Gewerkschaftsabteilung eingeführt, um sich auch um die Interessen der ArbeitnehmerInnen und arbeitsmarktbezogene Fragen kümmern zu können.

Mit einer Bevölkerung von mehr als 30 Mio. EinwohnerInnen ist Marokko das bevölkerungsreichste Land des Mittelmeerraumes. Die EU hat großes Interesse daran, dass in Marokko - wie in den anderen Ländern des Mittelmeerraumes und des Nahen Ostens - Wohlstand und Stabilität herrschen.
Dazu hat die EU 1995 den Prozess der Partnerschaft Europa-Mittelmeer (»Barcelona-Prozess«) auf den Weg gebracht und in der Folge 2004 die Europäische Nachbarschaftspolitik eingerichtet. Unter französischer Ratspräsidentschaft wurde schließlich die Mittelmeer-Union aus der Taufe gehoben.
Brüssel will damit an seinen Außengrenzen eine Art »Cordon Sanitaire« schaffen, der neben wirtschaftlichen Interessen vor allem der politischen Stabilität und der Abwehr der Terror-Bedrohung durch radikale und gewaltbereite islamistische Strömungen dient.
Die EU ist der wichtigste Markt für Ausfuhren aus Marokko und zugleich der wichtigste private und öffentliche Investor. Außerdem trägt Marokko als strategisches Transitland für das algerische Gas und als Stromexporteur nach Spanien zur Sicherheit der Energieversorgung der EU bei.
Darüber hinaus geht es auch um die Frage der illegalen Einwanderung: Die EU ist das wichtigste Ziel für marokkanische WanderarbeiterInnen. Es wird geschätzt, dass es neben den zwei Millionen MarokkanerInnen, die sich legal in der EU aufhalten, eine weitere Million gibt, die kein Aufenthaltsrecht haben.

Perspektiven für die Jugend
Angesichts der tristen sozialen Lage ist es nur allzu verständlich, dass besonders junge Leute alles aufs Spiel setzen, um in Europa ihr Glück zu versuchen. Derzeit sehen sozial benachteiligte Jugendliche in Marokko nur zwei Wege aus ihrer Misere: Die Flucht ins Ausland oder in die Arme der politischen Extremisten.
Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und der Bildungsdefizite muss ebenso wie eine rasche Fortführung des Demokratisierungsprozesses der Monarchie an vorderster Stelle der Reformen stehen. Um die jungen Menschen im Land zu halten, brauchen sie Perspektiven - Perspektiven, die auch die Anfälligkeit für Fundamentalismus minimieren.

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Mehr Infos unter:
de.wikipedia.org/wiki/Marokko

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