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Im ungünstigsten Fall drohte die Gefahr einer Abwärtsspirale: Sinkender Organisationsgrad bedeutet unter den Bedingungen von Firmenkollektivverträgen fallenden Deckungsgrad,was wiederum die Gewerkschaften schwächt usw.

Schwierige Zeiten

Internationales

Auch bei den Gewerkschaften in der Tschechischen Republik sind die Mitgliederzahlen in den vergangenen zehn Jahren gesunken.

In Tschechien gelang den Gewerkschaften nach der »Samtenen Revolution« von 1989/90 eine rasche Wandlung von Instrumenten der Kommunistischen Partei und des Staates zu demokratisch legitimierten Organisationen, die sich gesellschaftlicher Anerkennung erfreuen.

Mitgliederschwund

Dem größten Dachverband, der 1990 gegründeten, überparteilichen Tschechisch-Mährischen Gewerkschaftskonföderation (CMKOS), gehören 33 Gewerkschaften an, die rund 70 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder auf sich vereinen. Schwerpunkte der Aktivitäten dieser Gewerkschaften bildeten zum einen das Bemühen um den Abschluss von Kollektivverträgen auf der Firmenebene, zum anderen die Interessenvertretung auf nationaler Ebene, im sozialpartnerschaftlichen »Rat für wirtschaftliche und soziale Verständigung« (RHSD), in dem Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vertreten sind. Im Gegensatz zu Österreich spielte die Branchenebene bislang eine untergeordnete Rolle in der Gewerkschaftsarbeit.

Die sehr breite Mitgliederbasis, die CMKOS aus der kommunistischen Ära übernommen hatte, konnte sie in der schwierigen Übergangsphase von der planwirtschaftlichen, staatssozialistischen zur marktwirtschaftlichen, privatwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung nicht halten. Die Mitgliederzahl der ?MKOS-Gewerkschaften sank sehr stark, nämlich von 4,3 Mio. im Jahre 1990 auf 1,7 Mio. 1997 und 610.000 im Jahre 2006. Auch die beiden anderen großen Gewerkschaftsdachverbände, die »Vereinigung unabhängiger Gewerkschaften« (ASO; ca. 170.000 Mitglieder 2004) und die Konföderation »Kunst und Kultur« (KUK; rund 60.000 Mitglieder 2004), verzeichneten erhebliche Einbußen. Der gesamtwirtschaftliche Organisationsgrad verringerte sich infolgedessen dramatisch, und zwar von 80 Prozent im Jahr 1990 auf 33 Prozent 1997 und unter 20 Prozent im Jahr 2006.

Die Gründe, welche Beobachter für die sinkende Attraktivität der Gewerkschaften nennen, sind vielfältig. Teilweise handelt es sich dabei um Ursachen, welche für die meisten ost- und südosteuropäischen Länder zutreffen, beispielsweise starke Mitgliederverluste als Folge der wirtschaftlichen Übergangskrise, der Privatisierung und des Zusammenbruchs von Großunternehmen, den Widerstand vieler Unternehmer gegen gewerkschaftliche Aktivitäten in ihren Betrieben, oder die Probleme der Gewerkschaften, in privaten Unternehmen kleiner oder mittlerer Größe des schnell wachsenden Dienstleistungssektors Fuß zu fassen. In der kommunistischen Ära waren die Gewerkschaften nicht zuletzt Verteilstellen individuell zu konsumierender Vorteile, insbesondere sozialer Dienstleistungen, Erholungsmöglichkeiten, Unterhaltungsaktivitäten. Mit der Privatisierung gingen die Möglichkeiten, derartige Anreize zu bieten, verloren. Zu berücksichtigen ist schließlich auch, dass multinationale Konzerne Löhne zahlen, die weit über jenen von Unternehmen derselben Branche in tschechischem Eigentum liegen. Diese hohen relativen Löhne stellen viele Beschäftigte zufrieden, sodass sie keinen Grund für einen Gewerkschaftsbeitritt sehen.

Tschechische Gründe

Unter den spezifisch tschechischen Gründen sind zum einen solche, die von den Gewerkschaften nicht beeinflusst werden konnten, z. B. die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs im März 2008, einige Bestimmungen des neuen Arbeitsgesetzbuchs, welches am 1. 1. 2007 in Kraft getreten war, aufzuheben. Diese Entscheidung bringt u. a. eine deutliche Einschränkung der gewerkschaftlichen Kompetenzen in den Betrieben mit sich. Gewerkschaften sind demnach nicht länger berechtigt, die Einhaltung arbeitsrechtlicher und kollektivvertraglicher Bestimmungen zu überwachen (Ausnahme: Arbeitsschutzbestimmungen).

Zum anderen gibt es Gründe für die rückläufige Gewerkschaftsmitgliedschaft, die mit der organisatorischen Struktur sowie den Zielen und Strategien der tschechischen Gewerkschaften selbst zu tun haben: Die gewerkschaftlichen Organisationsstrukturen sind vorrangig auf die Unternehmens- bzw. Betriebsebene konzentriert. Demgegenüber sind die organisatorischen Kapazitäten auf der Branchenebene unterentwickelt. Nur in einigen Gewerkschaftsverbänden ist eine Regionalstruktur ansatzweise vorhanden, bei den meisten fehlt sie. Diese organisatorische Ausrichtung ist v. a. darauf zurückzuführen, dass die Gewerkschaften in Reaktion auf die Überzentralisierung der kommunistischen Periode die finanziellen Ressourcen dezentralisierten. Ein hoher Anteil der Mitgliedsbeiträge fließt somit den gewerkschaftlichen Betriebsorganisationen zu, die autonom darüber verfügen. Dieses System hat den gravierenden Nachteil, dass es sehr schwierig ist, Ressourcen in Wirtschaftsbereiche mit steigender Beschäftigung, aber schwacher Gewerkschaftspräsenz zu transferieren. Dies ist einer der Gründe, weshalb die Gewerkschaften in vielen Dienstleistungsbranchen (z. B. Handel, Gastgewerbe) mit überwiegend neu gegründeten, privaten Firmen wenig vertreten sind.

Wenig Branchen-KV

Die für die Lohnentwicklung wichtigste Ebene der Kollektivvertragsverhandlungen ist jene der Unternehmen bzw. Betriebe. 2007 schlossen die der CMKOS angeschlossenen Gewerkschaften rund 3.200 Firmenkollektivverträge ab, welche etwa 26 Prozent aller Beschäftigten Tschechiens erfassten. Rund 95 Prozent dieser Kollektivverträge enthielten Lohnbestimmungen, meist in der Form eines Anstiegs des Durchschnittslohns. Die gewerkschaftlichen LohnverhandlerInnen in den einzelnen Unternehmen berücksichtigen bei ihren Lohnforderungen selbstverständlich die Teuerungsrate, die Arbeitsmarktsituation in der jeweiligen Branche und die wirtschaftliche Lage der betreffenden Firma. Weitere Orientierungspunkte für die LohnverhandlerInnen sind Kollektivvertragsabschlüsse von Großunternehmen derselben Branche und die Höhe des nationalen Mindestlohns. Im Bereich der Metallindustrie etwa kommt dem Abschluss bei Škoda eine Art Vorreiterrolle zu. Der nationale Mindestlohn wird von der Regierung nach Beratung mit dem »Rat für wirtschaftliche und soziale Verständigung« auf dem Verordnungsweg erlassen.

Branchenkollektivverträge bestehen nur in wenigen Bereichen. 2007 wurden insgesamt 23 Branchenkollektivverträge vereinbart. In Bezug auf die Löhne bilden die Branchenkollektivverträge nur Rahmenabkommen, welche die untere Grenze des Lohnanstiegs festlegen. Die für die effektive Lohnentwicklung maßgeblichen Bestimmungen werden auf Unternehmensebene verhandelt. Die wichtigsten Inhalte von Branchenkollektivverträgen sind Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen.

Erwartungsgemäß zog der starke Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrads ein Absinken der Zahl der Firmenkollektivverträge und damit auch ein Fallen des Deckungsgrads der Kollektivverträge nach sich. Im Bereich der CMKOS verringerte sich der Deckungsgrad der Firmenkollektivverträge von 37 Prozent im Jahre 1994 auf 26 Prozent im Jahre 2006. Infolgedessen steigt in manchen Wirtschaftsbereichen das Risiko einer Spaltung in einen gewerkschaftlich organisierten Sektor mit kollektivvertraglich geregelten Löhnen und einen unorganisierten Sektor mit niedrigeren Löhnen. In einer derartigen Lage hätten Unternehmen im organisierten Sektor einen Anreiz, auf einen Antigewerkschaftskurs umzuschwenken. Im ungünstigsten Fall drohte die Gefahr einer Abwärtsspirale: Sinkender Organisationsgrad bedeutet unter den Bedingungen von Firmenkollektivverträgen fallenden Deckungsgrad, was wiederum die Gewerkschaften schwächt usw.

In einer solchen Situation gilt es, die Anstrengungen darauf zu konzentrieren, Mitglieder zu gewinnen und den kollektivvertraglichen Deckungsgrad zu erhöhen (durch Abschluss neuer Unternehmenskollektivverträge, die Aufnahme relevanter Lohnklauseln in Branchenkollektivverträgen). Allerdings sind die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen dafür derzeit alles andere als günstig.

Krise als Chance

In den vorigen, wirtschaftlich vorteilhaften Jahren hatten sich die Gewerkschaften in den Betrieben v. a. mit willkürlichen Entscheidungen der Betriebsleitung, mit autoritären Kleinunternehmern und mit Verletzungen des Arbeitsrechts auseinanderzusetzen. Nun kommen die Probleme durch die wirtschaftliche Rezession (Kurzarbeit, Entlassungen, höhere Arbeitslosigkeit, verstärkter Lohndruck etc.) hinzu, und Konflikte mit der nicht gerade gewerkschaftsfreundlichen Koalitionsregierung Topolánek. Doch Krisen bieten den Gewerkschaften auch Chancen, sich als effektive VertreterInnen der Arbeitnehmerschaft zu bewähren. Die Früchte dieser Anstrengungen könnten dann im nächsten Aufschwung geerntet werden.

Weblinks
Mehr Infos unter:
www.de.wikipedia.org/wiki/Tschechien

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