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Wenn es ans Geben geht ...

Historie

Karl May schrieb nicht nur Abenteuergeschichten, sondern auch Kolportageromane über das Elend der Alten im schlesischen Weberland um 1880.

Die Story: Festessen beim reichen Textilverleger Seidelmann, dessen ebenso reicher Bruder als frommer »Helfer der Armen« auftritt. Eine alte blinde Frau, früher Dienstmagd im Haus, stört die Gemütlichkeit.

Die Frau war blind. Ihr Haar hatte der Wind zerzaust, und ihre Kleidung bestand nur aus dünnen Fetzen. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern. … Martin Seidelmann (entdeckte) den ungebetenen Gast. »Was?«, fuhr er auf. »Die alte Löffler? - Was will denn die bei uns?« … Nun, was wollen Sie denn hier?«

… »Ich war heute in der Schenke. Ein Junge hat mich hingeführt. Ich wollte …«

»Was? In der Schenke waren Sie«, fragte er barsch. »Sind Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?«

»Ja, schon seit langer Zeit.«

»Und da gehen Sie in die Schenke? Ich denke, Sie müssten zur bestimmten Zeit zu Hause sein?«

»Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir uns selbst um Brot bemühen müssen. Außerdem hatte ich den Hausvater um Erlaubnis gefragt. Ich wollte Ihre Rede hören. … Sie haben von der Not und dem Elend gesprochen und von der Hilfe, die es dagegen gibt. Not und Elend sind hier überall, aber zu den Elendesten gehöre ich.«

»Ja, Sie sind schlimm dran. Blind zu sein, ist eine schwere Heimsuchung des Himmels. Beten Sie nur recht fleißig! Vielleicht lässt er Sie ein Mittel zur Heilung finden.« …

»Ach, Hilfe gibt es für mich keine«, antwortete die Blinde. »Mir fehlen ja die Augäpfel. Ich habe sie im Dienst verloren. Könnte ich da nicht von meinem einstigen Arbeitgeber eine Unterstützung erhalten?«

»Wieso? Mein Bruder hat Ihnen den Arbeitslohn pünktlich bezahlt, solange Sie tätig waren. Wenn Sie nicht mehr arbeiten, haben Sie auch nichts mehr zu verlangen.«

»Können Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen? … Die anderen können hinausgehen auf die Dörfer, wo es eher ein Stückchen Brot gibt als hier. Ich aber taste mich im Ort von Haus zu Haus, wo lauter arme Leute wohnen …«

August Seidelmann zog seine Stirn in Falten.

»Sie kommen also betteln? Wissen Sie nicht, dass das ungehörig ist?«

Es sah aus, als horche die Blinde in die Stille hinein, die angesichts der peinlichen Auseinandersetzung in dem großen Zimmer herrschte. In ihren erschlafften Zügen, spiegelte sich eine lebhafte seelische Erregung. Und plötzlich huschte der Schein eines bitteren Lächelns über ihr Gesicht.

»Ach so, jetzt weiß ich, woran ich bin! Der Herr hat zwar viele schöne Worte in aller Öffentlichkeit für uns arme Leute gehabt, aber wenn es ans Geben geht, sieht die Sache anders aus.«

Zitiert aus: Karl May. Das Buschgespenst, Gesammelte Werke 64, Seiten 98-100, Bamberg 1954 (Auszug aus dem Kolportageroman »Der verlorene Sohn« 1884/1885)

Karl May erfand nicht nur Winnetou und Old Shatterhand, er schrieb auch wilde Abenteuer-, Schmuggler- und Liebesromane, die vor etwa 130 Jahren im Grenzgebiet zwischen dem österreichischen Kaiserreich und dem deutschen Sachsen spielen. Darin verpackt sind sehr genaue und realistische Schilderungen des Elends im »Weberland« durch das Fehlen jedes sozialen Netzes. In diesen sozialkritischen Kolportageromanen taucht immer ein edler Held auf, der dann doch alle Probleme löst, politische Veränderungen sind kein Thema. Trotzdem trugen diese Schmöker (die berühmtesten schrieb der Engländer Charles Dickens) viel zum Wachrütteln der Gesellschaft bei, weil sie die Wirklichkeit nicht mehr verschwiegen oder beschönigten.

Ausgewählt und kommentiert von der Historikerin Dr. Brigitte Pellar 
brigitte.pellar@aon.at

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