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Foto | Paul Sturm Thomas Müller: 'Behandle Menschen am Arbeitsplatz so, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest.'
Dr. Thomas Müller Dr. Thomas Müller
Buchtipp: Thomas Müller, Gierige Bestie

Die Reset-Gesellschaft

Interview

Der Kriminalpsychologe Dr. Thomas Müller analysiert im Gespräch mit der A&W, warum Menschen am Arbeitsplatz zu Verbrechern werden.

ZUR PERSON
Dr. Thomas Müller

Geboren: 4. August 1964 in Innsbruck
1982-1992 Bundespolizeidirektion Innsbruck
1984-1991 Studium der Psychologie, Universität Innsbruck; Abschluss Mag. phil.
1993-2004 Leiter des Kriminalpsychologischen Dienstes im Bundesministerium für Inneres, Wien
1993-2003 Zahlreiche Spezialausbildungen in den Bereichen Bearbeitung von Tötungsdelikten, Sexualverbrechen, Bedrohungsanalysen, Workplace Violence, Einvernahmetechnik und Geiselnahmesituationen in den USA und Kanada
seit 1997 Gerichtlich beeideter und zertifizierter Sachverständiger, Bereich Kriminalpsychologie
1997-2003 Ausbildungsprogramme zu Tatortanalyse und Täterprofilerstellung für Staatsanwälte, Richter, Exekutivbeamte etc.
seit 1998 Lehraufträge alternierend an den Universitäten Hamburg, Essen, Wien, Salzburg, Innsbruck, Dundee/Schottland, Krakau/Polen sowie Western University, Perth/Australien
2002 Promotion zum Dr. rer. nat.: Kriminalpsychologie und Forensische Psychiatrie
seit 1. 1. 2005 Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Forschung der österreichischen Sicherheitsakademie des Innenministeriums

Arbeit&Wirtschaft: Herr Dr. Thomas Müller, Sie referieren auf der Kinderuni Steyr über Spuren am Tatort. Können Sie in den 12- bis 14-Jährigen schon Vorzeichen der »Bestie Mensch« sowie der »Gierigen Bestie«, wie Ihre Bestseller heißen, erkennen?

Dr. Thomas Müller: Ich glaube nicht, dass ein Mensch böse auf die Welt kommt, sondern ich gehe davon aus, dass es doch immer noch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren ist, das böse macht. Zweifelsohne ist ein bisschen was genetisch bedingt. Andererseits sind die ersten fünf, sechs Lebensjahre extrem wichtig - in welcher Form Kinder sozialisiert werden, und wie sie zwischen Ursache und Wirkung unterscheiden können - aber in weiterer Folge, und das wird sicher auch 20 bis 30 Prozent ausmachen, ist die spätere Entwicklung von Menschen ausschlaggebend: Kindheit, Jugend, Pubertät und schließlich der Arbeitsprozess.

Was ist notwendig, um jemanden über die schmale Grenze zwischen Böse und Gut zu stoßen?

Niemand wacht in der Früh auf und sagt sich: Heute ist ein schlechter Tag, heute mache ich am Arbeitsplatz Wirbel, ich bring jemanden um oder raub eine Bank aus und am Abend geht er ins Bett und sagt, es war ein schlechter Tag, ich mach es nie mehr wieder. In der Regel ist es eine progrediente Entwicklung. Man muss in der Kriminalpsychologie achtgeben, dass man sich nicht auf eine allgemeine Diskussion zwischen Böse und Gut einlässt, sondern dass man sich die Motive ansieht. Es ist ja doch ein Unterschied, ob man tagelang hungert und einen Brotlaib stiehlt, oder ob jemand aus nahezu nicht nachvollziehbaren Gründen Kinder über Tage, Wochen oder Jahre in einem Keller einsperrt. Die Crux an meinem Beruf ist, ich bin immer erst damit befasst, wenn schon etwas passiert ist. Die Kinder haben mich eben gefragt: Kann man denn schon etwas tun, bevor die ganze Sache beginnt?

Und kann man?

Es gibt drei Bereiche, da halte ich es für extrem fahrlässig zu sparen: Erstens Bildung, zweitens ist die Gesundheit, drittens ist die Sicherheit. Zwar ist in jedem dieser Bereiche auch jeder für sich selbst verantwortlich, aber was die Bildung betrifft, muss ich sagen: Menschen heute und gerade Kinder von Wissen und Information auszugrenzen - aus welchen Gründen auch immer - halte ich für gefährlich. Bildung und Wissen sind Formen der Prävention, weil es möglich ist, logisch auftauchende negative und destruktive Gedanken in Form eines verbalen Disputes auszugleichen und nicht eskalieren zu lassen.

In der Arbeitswelt nehmen Druck und Gewalttätigkeit zu - sollte auch dort mehr auf Bildung und Wissen gesetzt werden?

Ich glaube nicht, dass der Druck in der Arbeitswelt zunimmt, sondern ich bin davon überzeugt, dass die Kommunikation abnimmt. Zumindest die vernünftige Form. Dafür nimmt die Anzahl der Ebenen der Kommunikation zu, und wir können das nicht mehr abarbeiten. Mit E-Mail, Handy, Fax etc. haben wir ein Überangebot von Information am Arbeitsplatz, und die Frage ist, sind wir überhaupt in der Lage, dieses Überangebot psychologisch abzuarbeiten. Die psychologische Form der Kommunikation - sich gegenüberzusitzen, in die Augen zu schauen, verstehen versuchen - ist langsam wie eine Dampflokomotive versus der technischen, die rasend schnell ist wie ein D-Zug.

Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen den Fehler begehen und versuchen, ihre psychologischen Fähigkeiten an die technische Geschwindigkeit anzupassen. Das geht nicht, wir werden oberflächlicher, bearbeiten Problemstellungen nicht mehr in der Tiefe. Da kommt es zu einem Phänomen, das Ursache nicht Wirkung ist: dem Abbruch der Kommunikation. Das führt zur Angst, und aus Angst entsteht Aggression. Es haben schon Kriege begonnen, weil die Kommunikation beendet wurde. Ich bin kein Gegner moderner Kommunikationsmittel, man muss das nur bedenken. Die Technik darf nicht Ersatz für unsere klassischen Kommunikationsformen sein.

Das ist leider oft verführerisch.

Früher haben Kollegen an die Bürotür geklopft und gefragt, gehst du mit mir Mittagessen - heute schreiben sie ein E-Mail mit derselben Frage. Das ist eine Form der Bequemlichkeit, aus der ein Mangel an negativen Rückmeldungen entsteht. Und ich werde ja nicht weise, indem ich ständig Erfolg habe, sondern indem ich lerne, mit Misserfolg umzugehen. Wir leben aber heute in zunehmendem Maße in einer Art Reset-Gesellschaft: Wenn es nicht funktioniert, drück ich auf einen Knopf und fange wieder von vorne an. Da brauch ich nicht den elektronischen Spielen der Kinder die Schuld geben, sondern muss den Verantwortlichen sagen: Macht Spiele, wo man mit den Negativfolgen seiner Entscheidungen konfrontiert ist.

Ist das nicht eine Haltung, die man auch immer wieder im hohen und mittleren Management beobachten kann, dieses Gefühl, ich kann Reset drücken?

Wenn mich Leute aus der Wirtschaft einladen, um einen Vortrag über die Auswüchse von Arbeitsplatzkriminalität zu halten, sage ich immer, ich bin Psychologe, ich kann einen Vortrag über Ursache und Wirkung halten, aber das den Leuten zu vermitteln und die Ursachen aufzulösen, das müsst ihr machen. Es reicht nicht, einmal im Jahr zu Weihnachten zu erklären, meine MitarbeiterInnen sind das wertvollste Produktionsgut.

Sie halten ja auch Seminare »Risikofaktor Mitarbeiter« - haben Führungskräfte Angst vor den Beschäftigten?

Ich glaube nicht, dass das Angst ist, sondern das primäre Interesse gewisse Dinge zu erkennen. Dort, wo noch nichts passiert ist, ist das Interesse relativ gering. Dort, wo Leute in Betrieben gerade in sensiblen Bereichen mitbekommen haben, dass Gefahren nicht allein von außen drohen, sondern auch und gerade von innen, ist das Interesse sehr groß - auch die »Lernbereitschaft«. Wenn man den Zahlen der letzten großen Studie von Price Waterhouse Cooper glauben darf, haben mehr als 50 Prozent der Betriebe im deutschsprachigen Raum mit dem »Tatort Arbeitsplatz« zu tun gehabt: Tendenz steigend. Die Schadenssummen gehen in die Millionenhöhe.

Um welche Art von Delikten geht es dabei?

Das fangt beim bewussten Abbrechen der Kommunikation - sprich bei Mobbing - an und geht schließlich über kleine Sachbeschädigungen, Nötigungen bis hin zu schwersten Fällen von Datendiebstahl bzw. schwere Fälle von körperlicher Gewalt. Denken Sie nur an den 4. Juli 2004 in der Züricher Kantonalbank, wo ein frustrierter Arbeitnehmer zwei seiner Chefs erschossen hat.

Der Arbeitsplatz wird immer mehr zu einer Örtlichkeit, wo das eigene Selbstwertgefühl gedämpft oder nach oben gebracht wird. Je mehr ich mich mit derartigen Fällen beschäftige, desto mehr kristallisiert sich für mich die Frage des Selbstwertgefühles als Kernfrage heraus.

Sehen Sie also das Selbstwertgefühl als die Wurzel des Handelns?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten auf ein Sinken des Selbstwertgefühles zu reagieren: Ich kann depressiv werden und mir was antun. Die zweite Möglichkeit ist, mich zu betäuben, Alkohol und Drogen. Eine dritte Möglichkeit ist, dass ich eine Neurose bekommen. Eine andere, dass ich das Selbstwertgefühl anderweitig stütze. Aber eine Möglichkeit ist eben auch zu sagen: Mir geht es nicht gut, aber wenn es den anderen schlechter geht, geht es mir besser. Das ist die Basis für destruktive Handlungen am Arbeitsplatz.

Wie kann man das verhindern?

Wenn ich zu solchen Fällen gerufen werde, stelle ich oft fest, dass jeder im Umfeld der Betroffenen ein bisschen was gewusst hat, aber keiner alles. Dieses Zusammenführen von Einzelbausteinen führt im schlechtesten Fall dazu, dass man sagt »Ändern Sie sich oder es gibt Konsequenzen«, im günstigsten Fall zur Frage: »Wie kann ich helfen?« Und diese Frage ist extrem wichtig. Sie ist die Kernmöglichkeit zur Prävention.

Und wird das angenommen?

Personalchefs und Manager wollen oft Rezepte von mir. Eines der wichtigsten ist: Unterschätzen Sie niemals die Lebenserfahrung von Menschen. Lebenserfahrung kann man nicht auf einer Universität lernen. Sie hat nichts mit Fachwissen zu tun, sondern damit, dass man gelernt hat, Misserfolge einzustecken. Ältere ArbeitnehmerInnen können mit Krisen umgehen. Außerdem sollte es ab einer gewissen Größe einen unabhängigen Beschwerdeweg geben, sodass Menschen nicht in eine Isolation geraten.

Was macht für Sie eine gute Führungskraft aus?

Das hat mich vor nicht allzu langer Zeit ein Journalist in Bezug auf die Politik gefragt. Ich habe geantwortet, die Fragestellungen: Was haben Sie in Ihrem Leben geleistet? Wie viele Bäume haben Sie gepflanzt? Wie vielen Sterbenden haben Sie die Hand gehalten? Wie vielen Kindern etwas vorgelesen? Wie viele Ziegel aufgesetzt? Wie viele Entscheidungen haben Sie gefällt, wo Sie zum Nutzen und zum Wohl mehrerer anderer etwas vorangebracht haben? Zu Leuten, die all das nicht kennen, kann ich nur wenig Vertrauen aufbauen.
 

Was können Betriebsräte tun, um »Workplace Violence« zu verhindern?

Wie schon erwähnt, kommt es nicht plötzlich zur Eskalation, das dauert. Betriebsräte können die Warnsignale erkennen: Menschen verändern sich. Wenn drei Dinge zusammenkommen, wird es kritisch. Erstens: Böser, unkontrollierbarer Stress über mehr als sechs Monate, ist gefährlich. Zweitens: Das Fehlen der Identifizierung mit dem eignen Betrieb, also z. B. nichts Persönliches am Schreibtisch. Das ist auch oft die Folge der vielen Umstrukturierungen, Zusammenlegungen etc., vor allem dann, wenn diese Prozesse zu rasch oder schlecht kommuniziert über die Bühne gehen. Und dann braucht es nur noch einen Auslöser, auf den Betriebsrat oder Firma meist keinen Einfluss haben: ein privates Problem. Das kann ein krankes Kind, eine schlimme Scheidung oder der Verlust des Führerscheins sein.

Kommt Ihre Botschaft an?

Meiner Meinung nach haben Menschen das Recht darauf, dass sie arbeiten dürfen. Und sie haben das Recht auf einen gesunden, sauberen und sicheren Arbeitsplatz. Manchmal nach Vorträgen kommen Personalchefs zu mir und sagen, morgen hätte ich zwei Leute entlassen, nach ihrem Vortrag werde ich morgen noch ein Gespräch führen.
Man kann die Botschaft in einem Satz zusammenfassen - dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant: Behandle Menschen am Arbeitsplatz so, wie du selbst gerne behandelt werden möchtest. Nur diesen Satz umzusetzen ist für viele viel schwieriger als man glaubt.
 
Das Interview führte Katharina Klee für Arbeit&Wirtschaft.


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