topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Katharina Klee Katharina Klee, Chefredakteurin

Die Weisheit der Vielen

Standpunkt

1906 besuchte der britische Naturforscher und Schriftsteller Sir Frederic Galton eine Viehmesse in seiner Heimat. Dort konnten die Besucher gegen einen Preis von sechs Pence das Gewicht eines Ochsen schätzen.

Als Gewinn für denjenigen, der richtig lag, wurde das Tier selbst versprochen. Insgesamt 787 Personen, darunter einige Fleischer, Viehhändler, aber auch Unbedarfte versuchten ihr Glück. Kein einziger jedoch lag nur annähernd richtig. Sir Galton aber wertete die Schätzungen aus und errechnete den Mittelwert, der mit 1.197 Pfund erstaunlich nah am tatsächlichen Gewicht des Ochsen (1.207 Pfund) lag - die Abweichung betrug lediglich 0,8 Prozent. Der Forscher nannte seine Erkenntnis »vox populi«, Stimme des Volkes.

Wertvoller Publikumsjoker

Diese Geschichte erzählte Starmoderator Günther Jauch Anfang des Jahres zum Auftakt einer Sendung im deutschen Privatfernsehen mit dem Namen »Die Weisheit der Vielen«. Und er weiß, wovon er spricht. Schließlich ist auch bei der von ihm moderierten Sendung »Wer wird Millionär?« der Publikumsjoker der wertvollste. Bei der US-Version der Show stellte sich heraus, dass der Telefon-Joker - das »Expertenwissen«, das sich viele KandidatInnen bis zum Schluss aufsparen - nur 65 Prozent richtige Antworten bringt. »Vox populi«, das Publikum, liegt zu 91 Prozent richtig.

»Die Weisheit der Vielen« ist auch Titel eines Buches von James Surowiecki, das vor vier Jahren erschienen ist. Darin schlüsselt der Wirtschaftskolumnist des Magazins »The New Yorker« auf, dass die Masse in der Regel klüger entscheidet als Individuen, dass das Mittelmaß oft schlauer ist als ExpertInnen. Er stützt seine Beobachtungen auf Beispiele der Ökonomie und der Psychologie. Nicht jede Masse sei aber schlau, warnt Surowiecki, um die Weisheit der Vielen freizusetzen seien bestimmte Schlüsselkriterien notwendig: So müsse anerkannt werden, dass jeder Mensch unterschiedliche Informationen über einen Sachverhalt besitzt und so diesen individuell interpretieren kann. Die Meinung des Einzelnen dürfe nicht durch die Ansicht der Gruppe festgelegt werden. Die Spezialisierung der Individuen müsse dezentral genutzt werden, und es müssen Mechanismen vorhanden sein, um aus Einzelmeinungen eine Gruppenmeinung zu bilden.

Alles Voraussetzungen, die auch bei Neuentwicklungen in der Computerbranche und im Internet zum Tragen kommen: Ob es nun um Linux geht, das freie Multiplattform-Mehrbenutzer-Betriebssystem für Computer, oder um die Internet-Wissensplattform Wikipedia, die dank ihrer Tausenden AutorInnen mittlerweile mit der Encyclopaedia Britannica mithalten kann. Gemeinsam sind wir stark. Das beweisen auch die Ameisen-, Bienen- oder Vögelschwärme, die mit kollektiver Intelligenz überleben.

2.600 Jahre Mitbestimmung

Vox populi ist auch in der Politik gefragt. Schon im 6. Jahrhundert vor Christus entschloss man sich in der griechischen Polis Attika, die Bürger mitreden zu lassen. 30.000 bis 40.000 männliche Vollbürger älter als 18 Jahre brachten ihre Meinung ein, wenn es um die Zukunft des Staates, um Gerichtsbarkeit oder um Krieg und Frieden ging.

Nicht die Höhe der Weisheit

Heute ist es selbstverständlich, dass wir gefragt werden, dass das Wissen der Vielen genutzt wird, um über die Verwaltung unseres Landes, unseres Vermögens, unserer Zukunft abzustimmen. Wir - das Volk - sind eine sehr bunt gemischte Gruppe: Männer, Frauen, reich, arm, arbeitend, arbeitslos. Und doch entpuppt sich der demokratische Wahlausgang längst nicht immer als Höhepunkt der Weisheit. Das ist auch Sowiecki bewusst. Das liege daran, meint der Autor, dass die WählerInnen nicht alle ein und dasselbe Problem lösen wollen. Während beim Pferderennen und bei Sportwetten die Weisheit der Vielen zu erstaunlichen Voraussagen führt, verhalte es sich bei der Politik etwas anders: »Jeder schätzt Gewinnchancen anders ein, aber sie alle sind sich einig: Es geht darum, welches Pferd gewinnt. In der Politik gibt es diese Übereinstimmung nicht, dass alle den einen Kandidaten wählen, der für das ganze Land am besten ist. Die einen wählen jemanden, der für ihren jeweiligen Staat gut ist oder für einen Industriezweig oder für die Religion. Das macht die Sache sehr schwierig.«

Wir dürfen nicht vergessen: Von den 787 Menschen, die 1906 bei der englischen Viehmesse sechs Pence investiert haben, um das Gewicht eines Ochsen zu schätzen, hat letztendlich niemand das Tier mit nach Hause genommen.

Artikel weiterempfehlen

Kommentar verfassen

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum