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Gesundheit privatisiert

Schwerpunkt

Während der politische Liberalismus den BürgerInnen zu Grundrechten verhalf, dient der ökonomische Liberalismus der Rechtfertigung der Marktwirtschaft.

Durch Privateigentum, individualistisches Handeln, Konkurrenz und das Spiel von Angebot und Nachfrage entsteht Wohlstand für alle. Der Staat soll daher nur dort eingreifen, wo individuelle Freiheit das Gemeinwesen schädigt oder selbst bedroht ist. Der Ende des 19. Jahrhunderts in weiten Teilen Europas etablierte Sozialstaat fand daher im wirtschaftlichen Liberalismus seinen schärfsten Gegner.
Staat versus Markt
Die Frage, welche gesellschaftlichen Aufgaben der Staat und welche Märkte erfüllen sollen, spielt daher in Politik und Theorie eine wichtige Rolle. »Soziale Marktwirtschaft« und Sozialdemokratie geben ähnliche Antworten darauf: Die Marktwirtschaft sorgt für ökonomische Effizienz, der Sozialstaat für soziale Gerechtigkeit.
Seit aber der Wirtschaftsliberalismus in der Ausprägung des Neoliberalismus die Wirtschaftpolitik zurückerobert hat, ist der Sozialstaat in der Defensive. Dazu kommt, dass die öffentlichen Gesundheitssysteme auch in reichen Ländern unter Finanzierungsproblemen leiden, wodurch sich neoliberale Heilsprediger leichter Gehör verschaffen können. Private Leistungsanbieter erhoffen sich höhere Gewinne.
Liberalisierung und Privatisierung
Im Folgenden soll am Beispiel der sozialen Krankenversicherung gezeigt werden, warum Liberalisierung mit dem Ziel, am Ende ein privatwirtschaftliches (»marktförmiges«) Gesundheitssystem einzurichten, keine ernsthafte sozialpolitische Option werden darf.
Liberalisierung und Privatisierung sind Leitbegriffe neoliberaler Politik. Liberalisierung soll als Strategie der »Vermarktlichung« von staatlichen Systemen der Daseinsvorsorge verstanden werden. Dazu zählt insbesondere auch das System der sozialen Sicherheit mit der sozialen Krankenversicherung. Letztere ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit einer gesellschaftlichen Risikovorsorge für den Krankheitsfall. Vielmehr kann diese auch auf einen staatlichen Gesundheitsdienst oder auf Eigenvorsorge gestellt werden.
Es gibt zwei Ebenen der Liberalisierung. In jedem Gesundheitssystem ist die Ebene der Risikovorsorge von jener der Leistungserbringung (Ärzte, Spitäler) zu unterscheiden. Eine »ideale« Liberalisierung bedeutet demnach, dass sowohl Krankenversicherungsschutz als auch Gesundheitsleistungen möglichst ohne staatliche Reglementierung von Privaten auf »Gesundheitsmärkten« (Versicherungs- und Leistungsmärkten) angeboten werden. Dagegen kennt das Sozialversicherungssystem öffentliche Krankenkassen, die sowohl über öffentliche als auch über private Vertragspartner verfügen. Liberalisierung geht somit mit einer Privatisierung des Versicherungs- und Leistungsangebots einher. Öffentlicher Besitz geht in Privateigentum über.
Mit der juristischen Privatisierung ist oft auch eine Privatisierung von Gesundheitskosten verbunden, wenn die Sozialversicherung abgeschafft wird und/oder sich die Prämiengestaltung an der privaten Krankenversicherung orientiert. Freilich muss nicht jede Privatisierung von Gesundheitskosten mit Liberalisierung zu tun haben. Wie in Österreich wurden - vielfach um Kosten zu senken - zuletzt in ganz Europa Leistungen gekürzt, aus dem Leistungskatalog gestrichen oder »rationiert«. Die sich daraus ergebende »Zwei-Klassen-Medizin« können sich nur noch jene leisten, die über genügend Geld verfügen.
Sozialversicherung
Sozialversicherungssysteme gehen von folgenden Prinzipien aus: Alle Erwerbstätigen sind pflichtversichert, leisten einen einkommensabhängigen Beitrag (»Beitrag nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit«) und bekommen im Krankheitsfall für sich und ihre Angehörigen alle notwendigen Leistungen (»Leistungen nach Bedarf«). Damit wird erreicht, dass Einkommensschwächere einen geringeren Beitrag zur Finanzierung des Gesundheitsschutzes leisten. Neben dem versicherungstypischen Risikoausgleich findet auch soziale Umverteilung statt. Dazu bedarf es allerdings entsprechender staatlicher Rahmenbedingungen.
Marktversagen
Der »Markt« würde bei der Aufgabe, ein sicheres, gleiches und solidarisch finanziertes Vorsorge- und Versorgungsnetz für den Gesundheitsbereich zu schaffen, scheitern. Ökonomen sprechen von distributivem Marktversagen, wenn Markt prozesse gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen, und von allokativem Marktversagen, wenn Wettbewerbsmärkte beispielsweise wegen der »asymmetrischen Information« zwischen MedizinerInnenund PatientInnen oder aufgrund anderer Besonderheiten (adverse Selektion, Monopole) nicht zustande kommen können.
Ob nun distributives Marktversagen vorliegt, hängt letzten Endes davon ab, ob die Verletzung gesellschaftlicher Wertvorstellungen politisch relevant ist. Zu diesem Zweck versetzen wir uns in eine Welt, in der es - wie Mitte des 19. Jahrhunderts - noch keine Sozialversicherung gibt. Wenn damals jemand erkrankte, wurde er nur medizinisch behandelt, wenn er zahlen konnte. Personen mit niedrigem Einkommen konnten sich die Behandlung nicht leisten. Eine private Versicherung kam entweder aus finanziellen Gründen oder weil in jüngeren Jahren das Risiko einer Erkrankung unterschätzt wurde nicht zustande. Ein solches Marktergebnis oder besser: eine solche Zuteilung von Gesundheitsleistungen würde heute ohne Zweifel auf massive Ablehnung stoßen, weil sie ungerecht wäre. Niemand soll von der medizinischen Versorgung deswegen ausgeschlossen werden, weil er über kein ausreichendes Einkommen oder Vermögen verfügt.
Es wird deutlich, dass nur staatlicher Zwang einen universellen und gleichen Zugang zur medizinischen Versorgung und eine Finanzierung nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit sicherstellen kann. Ohne staatliche Regulierung kann ein Gesundheitssystem keine sozial-, verteilungs- und konsumentenpolitische Funktionen wahrnehmen. Ein privatwirtschaftlich organisiertes System kann diese Anforderungen strukturell nicht erfüllen.
In Deutschland schlagen konservative Parteien die »Versicherungspflicht« bei privaten Versicherern vor. Ein solches Modell steht bereits seit Mitte der 90er Jahre in der Schweiz in Geltung (allerdings hat es in der Schweiz bis dahin überhaupt keine obligatorische Krankenversicherung gegeben), seit kurzem in etwas abgewandelter Form auch in Holland. Siehe Seite 19.
»Gesundheitsprämien« 
Es funktioniert im Wesentlichen wie die Kfz-Haftpflicht, mit einer gesetzlichen Verpflichtung, eine Krankenversicherung abzuschließen, aber eben nicht bei öffentlichen, sondern bei privaten Versicherern. Dadurch wird die soziale Krankenversicherung zu einer obligatorischen Individualversicherung. Das wiederum führt zur »Gesundheitsprämie«, d.h. zu einer für alle gleich hohen kostendeckenden Kopfprämie, die versicherungsmathematisch berechnet ist und dadurch sozial schwächere und kinderreiche Familien im Vergleich zur sozialen Krankenversicherung belasten würde. Diese Nachteile versucht man durch staatliche Beitragssubventionen auszugleichen.
Versicherungspflicht fragwürdig
Aber je stärker der Staat hilft, desto fragwürdiger erscheint die Umstellung auf die »Versicherungspflicht«, weil die soziale Krankenversicherung diese Umverteilung mit Hilfe des linearen Beitragssatzes (in Österreich 7,65 Prozent vom Erwerbseinkommen) ohne den unvermeidlichen Verwaltungsmehraufwand besser erzielen kann. Angenommen jemand verdient 2.000 Euro monatlich, so muss er heute 153 Euro in die Krankenversicherung zahlen, im deutschen Modell würde der Beitrag deutlich höher liegen. Die SPD hat diese Reform bisher weitgehend verhindert. Dieses Thema wurde übrigens auch in Österreich vor einigen Jahren diskutiert, als die schwarz-blaue Koalition die »Versicherungspflicht« einführen wollte. Dieser Plan wurde aber wieder verworfen. Die Umsetzung in Deutschland würde auch hier wieder die Diskussion aufleben lassen.
Anhand der folgenden Stufen kann der »Grad« der Liberalisierung bestimmt werden:

  1. Stufe: Umwandlung der Pflichtversicherung in der Sozialversicherung in eine »Versicherungspflicht« bei privaten Versicherern mit den Folgen: Abschaffung der Krankenkassen (Privatisierung der Versicherung), versicherungsmathematische Prämien (risikoabhängige Kopfprämien).
  2. Stufe: Abschaffung der Pflichtversicherung und der Versicherungspflicht mit den Folgen: nur noch freiwillige Vorsorge.
  3. Stufe: Abschaffung der obligatorischen Versicherung und Privatisierung der Leistungsanbieter.
  4. Stufe: Abschaffung obligatorischer Vorsorge, Privatisierung der Leistungsanbieter und Wegfall jeglicher staatlicher Regulierung im Gesundheitswesen.

Die negativen Folgen einer ungezügelten Liberalisierung im Gesundheitswesen können am Beispiel der USA veranschaulicht werden (siehe Schwarzbuch Privatisierung, Wien 2003).
In Europa schlug sich Liberalisierung in der »Aushungerung« des britischen staatlichen Gesundheitsdienstes (NHS) unter Thatcher und unmittelbar nach der »Ostöffnung« in der Neuordnung der Gesundheitssysteme Osteuropas nieder. Mittlerweile haben sich die meisten osteuropäischen Staaten für ein Sozialversicherungssystem entschieden. Einige Länder interessieren sich für das »Slowakische Modell«, in dem sowohl eine Privatisierung des Versicherungs- als auch des Spitalswesens geplant ist. Im Fall der Krankenversicherung wurde dieser Plan realisiert. Auf der Leistungsebene des Gesundheitssystems sind vor allem Spitäler von Privatisierung betroffen. Zwar findet sich der höchste Marktanteil privater Spitäler mit 19,3 Prozent in Frankreich, kein anderes Land aber hat in den letzten Jahren beim Verkauf öffentlicher Spitäler so aufgeholt wie Deutschland. In Deutschland stieg der Marktanteil auf 13,2 Prozent, weil die Länder durch restriktive Steuerreformen »arm gemacht« wurden. Zugleich erfolgte eine ordnungspolitische »Wende« zur Liberalisierung.
Public Private Partnership
Das »Geschäftsmodell« der Krankenhauskonzerne (wie die Rhön-Klinikum-, Helios- und Asklepios-Gruppe) beruht in erster Linie auf Rationalisierungen mit massivem Personalabbau, Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen und dem steten Bemühen, staatliche Planung zu unterlaufen. GewerkschafterInnen befürchten eine weitere Anspannung, sollten auch Finanzinvestoren auf den Plan treten. Eine Privatisierung von Spitälern kann - was anhand der USA gezeigt werden kann - fatale Folgen für die Versorgung kranker Menschen haben.
Als dritter Weg zwischen Staat und Markt bietet sich Public Private Partnership (PPP) an. Dabei handelt es sich um sehr unterschiedliche Formen der Zusammenarbeit von öffentlichen Stellen und Privatunternehmen zwecks Planung, Erstellung, Finanzierung und Führung bisher öffentlicher Spitäler. Hauptziel von PPP ist die Erzielung von Rationalisierungsgewinnen, die aus politischen Gründen von der öffentlichen Hand nicht realisiert wurden.
Dazu kommt, dass die Gebietskörperschaften zunehmend mit einem höheren Investitionsbedarf konfrontiert werden, der privates Kapital erforderlich macht. Nach dem Koalitionsabkommen soll für PPP ein eigenes Kompetenzzentrum eingerichtet werden. Es ist zu hoffen, dass Leitlinien für ein «gutes« PPP erarbeitet werden.
Österreich wurde bisher weder von der deutschen Privatisierungswelle noch in einem höheren Ausmaß von PPP erfasst. Auch das Gesundheitssystem wird kaum in Frage gestellt. Es ist nicht zu erwarten, dass dies so bleibt.
Laut Art 152 des EG-Vertrages liegt die Verantwortung für die Organisation des Gesundheitswesens bei den Mitgliedsstaaten. Dennoch schlagen Grundfreiheiten der EU (Wettbewerbsrecht, Verkehrsfreiheiten) auf die nationale Rechtslage durch. Mehrfach wurde der Europäische Gerichtshof (EuGH) schon mit der Frage der europarechtlichen Zulässigkeit eines Sozialversicherungssystems befasst. Er hat die Zulässigkeit bisher durchwegs bejaht. Dem EuGH kann somit in diesem Zusammenhang kein Hang zur Liberalisierung vorgeworfen werden.
Bezüglich der PatientInnenmobilität hat der EuGH zuletzt ein europäisches Zugangssystem für medizinische Dienstleistungen geschaffen, das sich auf die europäischen Grundfreiheiten des Dienstleistungs- und Warenverkehrs stützt. Dieses berechtigt auch dann zu grenzüberschreitenden Dienstleistungen, wenn der zuständige Sozialversicherungsträger die Leistungserbringung im Ausland, nicht vorher genehmigt. Das bedeutet, dass österreichische Versicherte ein Wahlrecht zwischen Leistungen der Sozialversicherung in Österreich und entsprechenden Leistungen im Ausland haben, wobei die Leistungen im Ausland vorfinanziert werden müssen. Später werden ihnen die Auslagen gegen Vorlage des Behandlungshonorars, aber höchstens im Umfang des österreichischen Vertragstarifes - immer vorausgesetzt, die Leistung ist überhaupt im Leistungskatalog der österreichischen Sozialversicherung enthalten - von den Kassen erstattet.
Gesundheitstourismus
Nicht erfasst von dieser Zugangsregelung sind bisher stationäre Leistungen. Nach Auffassung des EuGH würde die Gefahr der Überlastungen nationaler Gesundheitsbudgets durch »Gesundheitstourismus« diese Einschränkungen rechtfertigen. Daher sei im Fall der stationären Versorgung ein Genehmigungsvorbehalt der Kassen gerechtfertigt. Die Genehmigung dürfe verwehrt werden, wenn PatientInnen auch im Inland die erforderliche Behandlung erhalten.
Noch in diesem Jahr möchte die Kommission eine Richtlinie für grenzüberschreitende Gesundheitsleistungen vorlegen. Es ist geplant, in Zukunft auch die Inanspruchnahme ausländischer Spitäler zuzulassen, was dazu führen könnte, dass auch die österreichischen Spitäler stärker nachgefragt werden. Ob dadurch das österreichische Gesundheitssystem einen finanziellen Schaden erleidet, hängt davon ab, wie in diesen Fällen die inländischen Spitäler vom Ausland zu entschädigen sind. Müssen die Echtkosten und nicht nur die im Ausland anfallenden Kosten ersetzt werden, wird die Bereitschaft wohl eher gering sein, österreichische Spitäler aufzusuchen.
PatientInnenfreundlichkeit
Die Rechtsprechung des EuGH zur PatientInnenmobilität bringt sowohl PatientInnen als auch Leistungsanbietern Vorteile. Liberalisierung und »PatientInnenfreundlichkeit« bilden hier keine Gegensätze. PatientInnen bekommen innerhalb der EU die für sie wirtschaftlich günstigste ambulante Behandlung. Die Leistungsanbieter wiederum können ihre Dienste auch PatientInnen aus anderen EU-Staaten anbieten. Den Kassen erwachsen daraus keine finanziellen Nachteile, weil die im Ausland erbrachten Leistungen nicht zu Marktpreisen abgegolten werden müssen.
Es ist von einem erheblichen Potenzial für gemeinschaftliches Handeln im Gesundheitswesen auszugehen. Zu denken ist hier vor allem an Maßnahmen zur Steigerung der Qualität (Ausbildung, Kompetenzzentren, europäisches Haftungsrecht für Behandlungsfehler) im Gesundheitswesen bis hin zur europäischen Zulassung und Preisregelung von Medikamenten und neuen Technologien. Geradezu unverzichtbar dürfte angesichts der europaweiten Knappheit an Pflegekräften eine gemeinsame Bedarfsplanung sein.

Autor: Dr. Helmut Ivansits
Leiter der Abteilung Sozialversicherung, AK Wien

INFO&NEWS
Broschüre zur Enquete »Privatisierung von Gesundheit - Blick über die Grenzen« am 5. November 2007
www.wien.arbeiterkammer.at



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Mehr Infos unter:

www.forba.at
Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt

www.pique.at
Privatisation of Public Services and the Impact on Quality, Employment and Productivity - Homepage zu Privatisierung öffentlicher Leistungen und deren Folgen

www.initiative-elga.at
Initiative zum Projekt ELGA »Elektronischer (lebenslanger) Gesundheitsakt«

 

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