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Vollbeschäftigung was ist das?

Hintergrund

In Österreich hat die Arbeitslosigkeit nie solche Dimensionen erreicht wie zumindest vorübergehend in fast allen Ländern der Europäischen Union seit dem Wachstumsknick 1975.

Besonders in der ersten Phase der heute von Wirtschaftskreisen als »Schuldenpolitik« schlecht geredeten Vollbeschäftigungspolitik der Ära Kreisky hielt sich die Zunahme der Arbeitslosigkeit im Vergleich zum europäischen Durchschnitt in engen Grenzen. Zu Beginn der Neunzigerjahre - 1992 - betrug die Arbeitslosenrate nach der Eurostat-Definition in Österreich 3,4 Prozent, im EU-Durchschnitt hingegen fast neun Prozent. Besonders nach dem Antritt der »Wenderegierung« 2000, als die keynesianische Wirtschaftspolitik offiziell verabschiedet wurde, hat sich die Arbeitsmarktlage in Österreich dem EU-Durchschnitt immer mehr angenähert - 2005 war der Abstand der österreichischen Arbeitslosenrate mit 5,2 Prozent zum EU-Durchschnitt mit 7,9 Prozent stark zusammengeschmolzen - ein Ergebnis der angeblich »hervorragenden« Wirtschaftsentwicklung in unserem Land, die von den Wählern allerdings nicht honoriert wurde.

Wichtigstes Regierungsziel
Erfreulicherweise hat die im Jänner 2007 angetretene neue Bundesregierung die Wiedererreichung der Vollbeschäftigung zu ihrem wichtigsten Ziel erklärt, das sie möglichst noch bis zum regulären Ende der Legislaturperiode 2010 verwirklichen möchte.

Mit dem noch vor einem Jahr in dieser Stärke nicht erwarteten Konjunkturaufschwung in Europa und in Österreich ist die Beschäftigung stark gestiegen und auch die Arbeitslosenrate fühlbar zurückgegangen. Wenn die Bad Ischler Deklaration der Sozialpartner vom Oktober 2006 die Erreichung der Vollbeschäftigung bis 2016 als Ziel definierte, so erscheint sie aus heutiger Sicht - September 2007 - manchen Politikern schon zum Greifen nahe zu sein und jedenfalls innerhalb eines kürzeren Zeitraums realisierbar. Spätestens an dieser Stelle stellt sich allerdings die Frage, unter welchen Bedingungen, vor allem: bei welchem Stand der Arbeitslosenrate man legitimerweise von Vollbeschäftigung sprechen kann.

Besonders die Unternehmerseite hat es eilig mit Feststellungen, dass »der Arbeitsmarkt leer gefegt sei«, oder damit, einen »Mangel an FacharbeiterInnen« zu beklagen. Aussagen des Wirtschaftsministers und des Sozialministers lassen die Absicht erkennen, die Vollbeschäftigung bei einer Arbeitslosenrate von unter vier Prozent anzusetzen und die Erreichung des Zieles zu proklamieren, sobald bei der Arbeitslosenrate eine drei vor dem Komma steht.

Europäischer Vergleich
Als wichtigstes Argument wird der europäische Vergleich angeführt, in dem Österreich seit seinem EU-Beitritt in der Rangliste der Arbeitslosenraten immer ganz oben rangiert hat (siehe Tabelle: »Arbeitslosenraten EU-15-Länder«).
Diese Methode kann schon deswegen nicht überzeugen, da in einem Land nicht deswegen schon Vollbeschäftigung herrscht, weil seine Arbeitslosenrate deutlich unter einem Durchschnittwert liegt, der ein sehr hohes und daher unakzeptables Ausmaß an Arbeitslosigkeit anzeigt. Dazu kommt noch, dass das Vollbeschäftigungsniveau nicht in allen EU-Mitgliedsländern beim selben Wert der Arbeitslosenrate liegt, sondern aus wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gründen hier sicher Unterschiede zwischen den Ländern anzunehmen sind.

Entwicklung der Arbeitslosigkeit
Einen wichtigen Anhaltspunkt dafür, wie niedrig die Arbeitslosenrate sein kann, bzw. wie hoch sie war, als in Österreich ein Zustand der Vollbeschäftigung geherrscht hat, kann ein historischer Rückblick liefern. Dafür existiert keine Datenreihe nach den Definitionen von Eurostat, sondern nur für die in Österreich immer noch verwendete Definition der sog. »Registerarbeitslosigkeit«, also Arbeitslosigkeit in Prozent der unselbstständig Erwerbstätigen nach den Meldungen beim Arbeitsmarktservice (früher Arbeitsamt).

Zuerst fällt auf, dass die Arbeitslosenrate nach der in Österreich üblichen Definitionen im Jahr 2006 mit 6,8 Prozent nicht unwesentlich höher ist als nach der Eurostat-Definition mit 4,8 Prozent (über die verschiedenen Definitionen der Arbeitslosenrate, ihre Erhebung und ihre Berechnung siehe Kasten Information). Dies hat zum Teil rein rechnerische Gründe (die Selbstständigen vergrößern in der Eurostatversion den Nenner des Bruches), zum Teil aber auch materielle: Denn in der Eurostatversion werden saisonale und andere temporäre Beschäftigungslosigkeit nicht als Arbeitslosigkeit gewertet, wenn in dieser Zeit von den arbeitslosen Personen keine aktive Arbeitssuche betrieben wird. Weiters sind z. B. Arbeitslose, die erlaubterweise einer geringfügigen Beschäftigung nachgehen, nicht als Arbeitslose gewertet. Es zeigt sich schon an dieser Stelle, dass die Eurostat-Arbeitslosenrate weniger »streng« zählt, also im Verhältnis zur Registerarbeitslosigkeit das Ausmaß unterschätzt (siehe Grafik: »Arbeitslosenrate Österreich und EU-15, 1980-2006«).

Österreichs Golden Age
In der Zeit, wo Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum unbestritten die obersten Zielsetzungen der Wirtschaftspolitik waren, nämlich in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, herrschte nach einer Faustregel des englischen Ökonomen Beveridge Vollbeschäftigung, sobald die Arbeitslosigkeit drei Prozent unterschreitet. Dies deshalb, weil auch bei guter Wirtschaftsentwicklung Veränderungen in der Branchenstruktur und in der Regionalstruktur nicht ganz ohne vorübergehende Arbeitslosigkeit vor sich gehen und bei Arbeitsplatzwechsel aus anderen Gründen eine geringe Sucharbeitslosigkeit in Kauf genommen werden muss. Laut einer Grafik  »Arbeitslosenrate nach AMS-Definition 1900-2006«, waren so innerhalb von mehr als hundert Jahren etwa ein Viertel davon Jahre der Vollbeschäftigung, der Großteil im Golden Age der Wirtschaftsgeschichte Österreichs von etwa 1960 bis knapp nach 1980.

Daraus kann man einerseits den Schluss ziehen, dass ein gewisses, mehr oder weniger großes Ausmaß der Unterbeschäftigung in einer Marktwirtschaft »normal« ist; andererseits aber auch, dass unter bestimmten Bedingungen ein Beschäftigungsniveau nachhaltig erreichbar ist, bei dem die Arbeitslosigkeit deutlich unter der derzeitigen liegt. Was vor 25 Jahren möglich war, sollte wirtschaftspolitisch auch heute nicht völlig außer Reichweite liegen. Auch wenn die Registerarbeitslosenrate in den nächsten Jahren unter sechs Prozent sinken sollte, hat Österreich damit noch lange nicht einen Zustand der Vollbeschäftigung erreicht.

Leichter zu realisieren wäre das Drei-Prozent-Ziel nach der Eurostat-Definition. Die Relation der beiden Arbeitslosenraten ist nicht stabil, 1986 und 1989 entsprach eine Arbeitslosenrate von jeweils 3,1 Prozent einer Registerarbeits-losenrate von ca. fünf Prozent - letzteres liegt erheblich über dem Vollbeschäftigungswert der Sechziger- und Siebzigerjahre. Drei Prozent würden gegenüber derzeit 4,3 Prozent (Prognose 2007) eine fühlbare Verbesserung der Arbeitsmarktsituation anzeigen, aber keine Vollbeschäftigung - und daher erst recht nicht 3,9 Prozent.

Aspekte der Vollbeschäftigung
Nach etwa zehn Jahren mit für österreichische Verhältnisse hoher Arbeitslosigkeit mit fühlbaren Auswirkungen für die ArbeitnehmerInnen und für die ganze Bevölkerung stellt sich die Frage, inwieweit Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, in den Verhaltensweisen von Unternehmungen und ArbeitnehmerInnen, in den Beschäftigungsformen, in der Qualifikationsstruktur der Arbeitskräfte etc., neue Tatsachen geschaffen haben, die für die zahlenmäßige Festlegung des Vollbeschäftigungszieles relevant sind. Immer wieder wird argumentiert, dass die Unternehmungen heute die Beschäftigung viel rascher an kurzfristige Schwankungen der Auftragslage anpassen als vor 20 oder 30 Jahren, dass dafür auch Formen des Arbeitsverhältnisses zur Anwendung kommen, die früher keine Rolle gespielt haben (z. B. die Leiharbeit, die sog. »freien Dienstverträge«), dass die Gestaltung der Arbeitszeiten wesentlich flexibler geworden ist, und dass insgesamt aus diesen Änderungen im Durchschnitt ein höheres Maß an Fluktuation resultiert, und dies auch in Zeiten guter Konjunktur zu einer höheren Arbeitslosenrate führt als wir bis in die Achtzigerjahre, als zuletzt Vollbeschäftigung herrschte, gewohnt waren. Das erhöhte Ausmaß an Fluktuation kommt etwa in dem starken Anstieg der Zahl der jährlichen An- und Abmeldungen von Beschäftigungsverhältnissen oder der Zahl der von Arbeitslosigkeit betroffenen Personen im Verhältnis zum Beschäftigtenstand (2006: 802.500 oder 25,4 Prozent, im Vergleich zu 627.000 oder 21,2 Prozent 1992 - für frühere Jahre gibt es diese Zahlen gar nicht) zum Ausdruck.

Zum Teil ist diese höhere Fluktuation sicherlich eine Konsequenz der gestiegenen bzw. nun schon längere Zeit andauernden hohen Arbeitslosigkeit. Denn solange die Arbeitslosigkeit hoch ist, gehen die Unternehmungen ein verhältnismäßig geringes Risiko ein, einen zusätzlichen Arbeitskräftebedarf nicht durch Neuaufnahmen rasch decken zu können. Umgekehrt ist bei zunehmender Knappheit von Arbeitskräften das Risiko größer, dass bei steigender Auftragslage die zusätzlichen Arbeitskräfte nicht oder nur unter hohen Kosten auf dem Arbeitsmarkt zu bekommen sind - unter solchen Bedingungen werden Unternehmungen aber weniger dazu geneigt sein, bei jedem Auftragsrückgang gleich auch die Beschäftigung zu reduzieren, weil sie diese Arbeitskräfte möglicherweise bei Bedarf nicht wieder bekommen. Ein sinkendes Niveau der Arbeitslosigkeit in einem längeren Konjunkturaufschwung hat als Sekundäreffekt auch eine Reduktion der fluktuationsbedingten Arbeitslosigkeit zur Folge. Es ist daher nicht von vornherein einleuchtend, dass die Gewerkschaften sich damit begnügen sollen, ihr Vollbeschäftigungsziel bescheidener zu definieren.

Gewandelt hat sich ohne Zweifel auch das Meinungsklima. Markus Marterbauer hat in dem kürzlich in dieser Zeitschrift veröffentlichten Interview1 sehr treffend festgestellt, dass früher Arbeitskräfteknappheit (= Vollbeschäftigung) als etwas sehr Positives galt, während heute schon bei bescheidenen Rückgängen der Arbeitslosenraten in den Medien sofort laut über FacharbeiterInnenmangel und Arbeitskräfteengpässe lamentiert wird. Als Konsequenz fordern die UnternehmerInnen und ihre politischen VertreterInnen dann eine Erleichterung des Zuganges für AusländerInnen zum österreichischen Arbeitsmarkt, um diesen Mangel zu beheben. Die Wahrnehmung und Widerspiegelung der - aus ArbeitnehmerInnensicht erfreulichen - Zunahme der Arbeitskräfteknappheit spielt für die politischen Entscheidungen in dieser Frage eine bedeutende Rolle.

Wie die Erfahrungen aus der jüngsten Diskussion über FacharbeiterInnenmangel in der Metallindustrie zeigen, bringt die Bewilligung von zusätzlichen Kontingenten für die Beschäftigung von Arbeitskräften dort keine rasche Lösung, wo tatsächlich punktuell Mangel an gut qualifizierten Arbeitskräften herrscht. Nur durch vermehrte Anstrengungen bei Aus- und Weiterbildung kann hier das zusätzliche Angebot bereitgestellt werden.
Migration hat zugenommen.

Der wichtigste Grund dafür, warum heute die Vollbeschäftigung schwieriger zu erreichen ist als in den achtziger Jahren ist der Umstand, dass die Migration seit etwa zehn Jahren Dimensionen angenommen hat, die das Arbeitskräfteangebot jedes Jahr um ca. 0,5 Prozent zunehmen lassen. In den letzten Jahren kam der stärkste Zustrom aus Deutschland - eine Entwicklung, die beim EU-Beitritt Österreichs überhaupt nicht vorstellbar war. Zusammen mit zunehmenden Erwerbsquoten der inländischen Erwerbsbevölkerung führt dies zu einer Steigerung des Arbeitskräfteangebots, deren Absorption bereits ein BIP-Wachstum von 2,5 Prozent pro Jahr erfordert. Im Unterschied zu früheren Perioden ist nur noch ein geringer Teil der Zuwanderung kontrollierbar. Ab 2011 wird auch der ungehinderte Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt den Arbeitskräften aus den Beitrittsländern 2 offenstehen. Bis dahin sollten jedenfalls Beschränkungen aufrecht bleiben - auch wenn die Arbeitslosenrate unter vier Prozent sinken sollte, denn dies bedeutet noch lange keine Vollbeschäftigung.

Bis auf Weiteres bleibt das Ziel der Vollbeschäftigung sehr ambitioniert. Eine Reduktion der Arbeitslosenrate nach Eurostat-Definition von derzeit 4,3 Prozent auf drei Prozent würde zweifellos Österreich diesem Ziel schon recht nahe bringen. Inwieweit dies tatsächlich gelingt, wird unter den gegebenen Bedingungen vom Wirtschaftswachstum abhängen bzw. vom Erfolg der Wirtschaftspolitik, dieses zu stimulieren.

Durch Wachstum mehr Beschäftigung wurde die grundlegende Leitvorstellung der Wirtschaftpolitik im Programm der seit Jahresbeginn amtierenden Bundesregierung. In diesem Zusammenhang wird immer wieder eingewendet, dass Wachstum nicht mehr genügend Beschäftigung schafft - Stichwort »jobless growth«. Es handelt sich bei dieser Behauptung allerdings um ein grobes Missverständnis. Tatsächlich war die Zunahme der Beschäftigung zuletzt auch bei relativ geringen Wachstumsraten erstaunlich groß - 2005 bei zwei Prozent BIP-Wachstum stieg die Beschäftigung um ein Prozent, 2006 bei 3,1 Prozent BIP-Wachstum um 1,7 Prozent. Bei den derzeit gegebenen Zuwachsraten des Arbeitskräfteangebots sinkt die Arbeitslosenrate allerdings erst dann merklich, wenn das Wachstum über drei Prozent liegt. Eine fühlbare weitere Reduktion der Arbeitslosenrate würde daher eine Fortsetzung des gegenwärtigen Aufschwungs über mehrere Jahre - wie zuletzt 1988 bis 1992 - erfordern.

Vollbeschäftigung nicht aufgeben
Um den gegenwärtigen Aufschwung zu verlängern, bedarf es einer expansiven Wirtschaftspolitik nicht nur auf nationalstaatlicher, sondern vor allem auf europäischer Ebene, die auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite das Wachstum fördert. Auch wenn es bis zum Ende dieses Jahrzehnts kaum gelingen wird, die Arbeitslosenrate auf drei Prozent herunterzudrücken, sollte das Ziel der Vollbeschäftigung deswegen nicht aufgegeben werden. Bei Knappheit an Arbeitskräften lebt es sich für die meisten Menschen besser, als wenn sie mit der ständigen Sorge um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes leben müssen.

1 Siehe »Es gibt Alternativen zum Neoliberalismus«. Interview mit Markus Marterbauer, in Arbeit&Wirtschaft Heft 6/2007, S. 24.
2 Für solche aus Bulgarien und Rumänien erst 2014.

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