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Kein Vorbild für Europa US-Arbeitsmarktpolitik und Krise der Gewerkschaften

HINTERGRUND

Die amerikanische Gewerkschaftsbewegung machte im Sommer eine ihrer schlimmsten Krisen durch: mehrere große Gewerkschaften verließen den Dachverband AFL-CIO. Dieser verlor damit schlagartig ein Drittel seiner Mitglieder. Die Rebellen setzen auf eine Neubelebung der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung.

Es begann zunächst mit Plänen zur Reform des amerikanischen Gewerkschaftsbundes, die sowohl von den Teamsters als auch von der SEIU und vier anderen Gewerkschaften vorgelegt wurden. Im Frühsommer dieses Jahres, vor dem bevorstehenden AFL-CIO-Gewerkschaftstag, stellten die Vorsitzenden von SEIU, Teamsters, UFCW, UNITE-HERE und LIUNA (siehe Glossar) eine Initiative zum »Wiederaufbau der amerikanischen Gewerkschaftsbewegung« namens »Change to Win« (»Wandel für den Sieg«) vor.

G L O S S A R

AFL-CIO: American Federation of Labor - Congress of Industrial Organizations (Dachverband der US-Gewerkschaften)

»Change to Win«-Coalition: Koalition aus International Brotherhood of Teamsters, LIUNA, UNITE-HERE, SEIU, UFCW, deren Mitglieder großteils aus der AFL-CIO ausgetreten sind.

International Brotherhood of Teamsters: Gewerkschaft der Lkw-Fahrer

LIUNA: Laborers’ International Union of North America (Arbeitergewerkschaft von Nordamerka)

UNITE-HERE: Gewerkschaft der Hotelangestellten und Textilarbeiter

SEIU: Service Employees International Union (Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes und des Dienstleistungssektors)

UFCW: United Food and Commercial -Workers International Union (Gewerkschaft der Beschäftigten in der Nahrungsmittelindustrie)


Der Konflikt spitzte sich zu: Immerhin vertraten die »Change to Win«-Gewerkschaften beim AFL-Kongress knapp 35% der Mitglieder, beklagten aber, dort aufgrund undemokratischer Strukturen nur 9% der Delegierten zu stellen. Auf dem Kongress Ende Juli in Chicago kam es schließlich zur Spaltung. 50 Jahre nach der Gründung des AFL-CIO trat die »Change to Win«-Koalition aus dem Dachverband aus und kündigte an, im Herbst einen eigenen neuen Dachverband gründen zu wollen.

Die seit über einem Jahr schon schwelende Auseinandersetzung zwischen »Reformern« und AFL-CIO führte damit zum offenen Bruch. Die Vorwürfe der Rebellen: zu wenig Demokratie, zu wenig Kontakte zu sozialen Bewegungen, verkrustete und undemokratische Strukturen im AFL-CIO und der dramatische Mitgliederrückgang der letzten Jahrzehnte. Die Reformer fordern vor allem mehr personelle und finanzielle Mittel fürs »Organizing«, also für die Anwerbung von Mitgliedern, um wieder neue Stärke gewinnen zu können. Zu viel Geld sei in die teuren politischen Kampagnen der Demokratischen Partei geflossen - doch die Unterstützung der Demokraten habe sich nicht gelohnt.

Schwache Organisationsdichte

Der AFL-CIO, wo die mächtigen Stahlarbeiter und die Autoindustriegewerkschaft traditionell tonangebend sind, verlor damit insgesamt schlagartig 4,6 Millionen Mitglieder, das ist ein Drittel seiner gesamten Mitgliederschaft.

Die gewerkschaftliche Organisationsdichte in den USA ist schon seit Jahren rückläufig: nur 12,5% der amerikanischen ArbeitnehmerInnen sind Gewerkschaftsmitglieder, in der Privatwirtschaft sind überhaupt nur 7,9% organisiert.

Diese Dauerkrise in der Arbeiterbewegung hatte in den letzten Jahrzehnten äußerst negative Auswirkungen auf den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen. Die schwache Gewerkschaftsdichte hat zur Folge, dass sich die Unterschiede bei der Vermögensverteilung in Amerika verstärken, da Lohnforderungen nicht durchgesetzt werden können: Der Anteil der mittleren Einkommensschichten am wirtschaftlichen Gewinn geht stetig zurück.

Hintergrund: Der US-Arbeitsmarkt

In einer hervorragenden Studie über die Situation der amerikanischen Beschäftigten1) macht James W. Sauber, der Washingtoner Vertreter bei Union Network International UNI2), auf die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung des US-Arbeitsmarkts und der maroden Gewerkschaftsbewegung aufmerksam. Sauber zeichnet die Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft parallel zu jener der Gewerkschaften sowie der ArbeitnehmerInnenrechte nach:

Während die US-Wirtschaft über lange Zeiträume hinweg expandieren konnte, konnten Arbeitsplätze geschaffen und hohe Wachstumsraten verzeichnet werden. Dieser Erfolg ist nach Meinung neoliberaler Ökonomen auf den »flexiblen« Arbeitsmarkt zurückzuführen - doch für die ArbeitnehmerInnen sieht die Lage gänzlich anders aus: »In der Praxis bedeutet dies niedrige Mindestlöhne, eine große Zahl von Teilzeitkräften und von Beschäftigten mit befristeten Dienstverträgen, schwache Gewerkschaften und begrenzter Sozialschutz«, kritisiert Sauber.

In den letzten 25 Jahren wurden in den USA die Arbeitsmarktrisiken von den Arbeitgebern und der Regierung zunehmend auf die ArbeitnehmerInnen abgewälzt. Parallel dazu wich der gewerkschaftlich gut organisierte Industriesektor dem Dienstleistungssektor.

Sinkender sozialer Schutz

In den Dreißigerjahren wurde in den USA ein universelles Sozialversicherungssystem (Versicherung bei Todesfall, Behinderung und Armut im Alter) eingerichtet. Im Gegensatz zu den meisten anderen Industriestaaten besaßen die USA allerdings nie ein umfassendes nationales Arbeitsgesetz. Dies ist teilweise auf die föderalistische Struktur der USA zurückzuführen, es kommt darin aber auch »eine kulturell bedingte Vorliebe für das freie Unternehmertum und den uneingeschränkten Individualismus zum Ausdruck«, beschreibt James Sauber. So gibt es weder Mindest-Urlaubsvorschriften noch bezahlten Mutterschafts- und Elternurlaub. Personal kann ohne Angabe von Gründen entlassen werden.

Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Regeln gibt. Auf nationaler Ebene werden die Arbeitsbeziehungen im »National Labor Relations Act« NLRA geregelt, und der »Fair Labor Standards Act« FLSA umfasst die Bestimmungen über Mindestlöhne und die Abgeltung der Überstunden sowie die Antidiskriminierungsregeln (gleicher Lohn für Frauen).

Der NLRA wurde 1935 vom Kongress im Rahmen der New-Deal-Reformen in Kraft gesetzt. Er ist so etwas wie die »Magna Charta der amerikanischen Gewerkschaften« (J. W. Sauber), er garantiert ArbeitnehmerInnen das Recht, Gewerkschaften beizutreten, ohne Repressalien von Arbeitgebern befürchten zu müssen.

Auf einzelstaatlicher Ebene sind die Arbeitslosenversicherungs- und ArbeitnehmerInnen-Entschädigungssysteme geregelt. James Saubers Befund : »Obwohl das US-Sozialschutzsystem Lücken aufwies, […] gewährte es den meisten amerikanischen Erwerbstätigen bis Ende der 1960er-Jahre eine ausgezeichnete Deckung.« Durch die wirtschaftlichen Umwandlungen seit den Siebzigerjahren (Globalisierung, Deregulierung) begann dieses System allerdings löchrig zu werden.

Rückkehr der Arbeitsmarktrisiken

Amerika hatte seit den New-Deal-Reformen der Zwischenkriegszeit eine breite Mittelklasse, die einen hohen Lebensstandard und Wohlstand genoss, auch und vor allem was den sozialen Schutz anging. Die Arbeitsmarktrisiken waren bis in die Siebzigerjahre hinein relativ niedrig und das Lohnniveau hoch.

Der Mindestlohn wurde allerdings blockiert und hat seit seiner letzten Angleichung im Jahre 1997 deutlich an Kaufkraft eingebüßt. »In inflationsbereinigten Dollar ausgedrückt ist der Mindestlohn heute weniger wert als zu Beginn der 1960er-Jahre«, kritisiert James Sauber die Entwicklung. Die Leistungen der von den Arbeitgebern finanzierten Versicherungs- und Ausgleichsprogrammen wurden reduziert, die Berufsbildungsprogramme gekürzt.

»Kurz gesagt versuchen neoliberale politische Kräfte - mit einigem Erfolg - das soziale Sicherheitsnetz für die Arbeitskräfte zu demontieren«, so Sauber weiter. Insbesondere Präsident Bush leitete eine Reihe von Maßnahmen ein, die den neoliberalen Traum eines Laissez-Faire-Arbeitsmarktes verwirklichen sollen.

Gewerkschaftsfeindliches Klima

Die Organisationsquote der Gewerkschaften ist relativ hoch im öffentlichen Sektor, dort sind 47% der Bediensteten organisiert. In der Privatwirtschaft sank die Organisationsdichte jedoch kontinuierlich seit Jahrzehnten und liegt zur Zeit bei nur 7,9%.

Und das, obwohl Zahlen belegen, dass in Betrieben mit guter Gewerkschaftsvertretung die ArbeitnehmerInnen eindeutig davon profitieren, sowohl was den sozialen Schutz betrifft als auch beim Durchschnittslohn: So verdient beispielsweise eine Mitarbeiterin des US Postal Services mehr als den doppelten Stundenlohn als eine Angestellte bei Wal-Mart (ein Konzern, der gewerkschaftliche Organisation unterbindet): 20,59 $ pro Stunde gegenüber 9,70 $ pro Stunde. Die mittleren Einkommen von Gewerkschaftsmitgliedern sind deutlich höher - im Durchschnitt um 22% als die amerikanischer Beschäftigter im Allgemeinen.

James Sauber zur unterschiedlichen Organisationsdichte: »Die hohe gewerkschaftliche Organisationsdichte bei den Beschäftigten im öffentlichen Sektor […] ist darauf zurückzuführen, dass sich die ArbeitgeberInnen in diesem Sektor nicht gegen eine gewerkschaftliche Organisierung wehren, während ein solcher Widerstand im privaten Sektor heute leider zur Norm geworden ist.«

Private Arbeitgeber wenden vielfach gewerkschaftsfeindliche und oft illegale Taktiken an, um eine Organisierung ihres Betriebes zu vereiteln. Bekanntestes Beispiel dafür ist der Einzelhandelsriese Wal-Mart, der seit Jahren erfolgreich gewerkschaftliche Organisationsversuche verhindert.

Anti-Gewerkschafts-Rahmengesetze,die von republikanischen Mehrheiten im Kongress verabschiedet wurden, sowie der hartnäckige Widerstand der Arbeitgeber gegen Organisierungskampagnen bewirkten einen zunehmenden Verfall der Gewerkschaftsbewegung, der in den Achtzigerjahren durch verschiedene aggressive Anti-Gewerkschafts-Maßnahmen der Reagan-Ära noch verstärkt wurde. Leider gelang es auch den demokratischen Präsidenten Carter und Clinton nicht, das Ruder langfristig herumzureißen. Obwohl Clinton viele gewerkschaftsfeindliche Regeln rückgängig machte, stellte Bush die Anti-Gewerkschaftsmehrheit rasch wieder her und der Rückgang der Gewerkschaftsdichte nahm dramatisch zu.

Wiederaufbau der Gewerkschaftsbewegung

Was Not tut, sind Bedingungen, unter denen Tarifverhandlungen wieder möglich sind, d. h. oberstes Ziel der Gewerkschaften muss die Gewinnung von möglichst vielen Mitgliedern einerseits sein, andererseits natürlich eine Änderung der politischen Lage.

»Change to win« will strategische Organisierungskampagnen in Kernindustrien und Mitgliederwerbung ganz oben auf seine Agenda stellen. Die Koalition hinterfragt auch die personelle und finanzielle Unterstützung der politischen Kampagnen der Demokraten: Hätte Kerry tatsächlich ein gewerkschaftsfreundliches Klima geschaffen? Die letzten demokratischen Präsidenten haben den Gewerkschaften deren Unterstützung nicht immer gelohnt. »Change to win« will daher seine Mittel zuallererst für die eigenen Belange einsetzen.

»Der amerikanische Arbeitsmarkt ist nicht in der Lage, die Gewinne am Wirtschaftswachstum gerecht zu verteilen. Diese krassen Mängel in einem der reichsten Länder sind ganz einfach nicht akzeptabel«, schließt James Sauber:
»Dieses Modell ›Made in USA‹ ist kein Vorbild für die anderen Länder der Welt.«

 

1) James W. Sauber: US-Arbeitsmarkt: Nicht für den Export! Ein Bericht über die Situation der amerikanischen Beschäftigten für den 2. UNI-Weltkongress. [2005]
2) Union Network International ist die Fachberufs- und Dienstleistungs-Internationale (weltweit 15.5 Millionen Mitglieder, 900 Gewerkschaften).


I N F O R M A T I O N

Negative Folgen der neoliberalen Arbeitsmarktpolitik in den USA

Rückläufige Jobqualität: Die Verlagerung der Beschäftigung vom Fertigungs- zum Dienstleistungssektor hatte zur Folge, dass viel mehr schlecht bezahlte als gut bezahlte Arbeitsplätze entstanden.

Stagnierende Löhne: Der Verlust an Verhandlungskraft (schwache Gewerkschaften) bewirkte eine Stagnation der Reallöhne. Diese entwickelten sich wesentlich langsamer als die Produktivität.

Krankenversicherung: Die ArbeitgeberInnen wälzen die Kosten dafür auf die ArbeitnehmerInnen ab oder streichen die Krankenversicherung vollständig.

Sinkende Renten: Die Unternehmen haben die so genannten leistungsbezogenen Systeme durch beitragsbezogenen Systeme ersetzt, bei denen der/die Einzelne selbst für die Anlage seiner Rentenfonds verantwortlich ist. Das Enron-Debakel hat die Risiken, die damit verbunden sind, mehr als deutlich vor Augen geführt …

Längere Arbeitszeit: Als Reaktion auf sinkende Reallöhne müssen die Menschen länger arbeiten.

Zunehmende Ungleichheit: Der größte Teil des Einkommenszuwachses der letzten Jahre floss in die Taschen der reichsten Haushalte. Die krassen Ungleichheiten zeigen sich auch beim Vergleich von CEO-Bezügen und Löhnen der ArbeiterInnen: 1965 stand die Verhältniszahl bei 26:1, 2003 lag sie bei 185:1.

Zunehmende Verschuldung: Ebenfalls aufgrund stagnierender Löhne nehmen viele Haushalte Kredite auf. Die Verbraucherschulden liegen bei 24% des Einkommens, die Hypothekarschulden erreichen bis zu 85%.

Armut: 35 Millionen AmerikanerInnen leben in Armut und 44 Millionen können sich keine Krankenversicherung leisten.

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