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Venezuela zwischen Reformprozess und Spaltung

HINTERGRUND

Die Existenzsorgen von ArbeitnehmerInnen hier in Zentraleuropa und dort im fernen Venezuela sind nicht die selben. Wer diesen Beitrag liest, kann fundierte Vergleiche anstellen.

Der Veränderungsprozess der Regierung von Hugo Chávez ist bis in die entfernten Indianerdörfer des dünn besiedelten Bundesstaates »Amazonas« hinein spürbar. Die Zurückdrängung des Analphabetismus, die Förderung der Schul- und Erwachsenenbildung, Landreformen und die Verbesserung der medizinischen Versorgung sind ein Teil davon.

Auch außenpolitisch hat das südamerikanische Land zu neuem Selbstbewusstsein gefunden und hat sich zu einem wichtigen Partner der Globalisierungskritiker entwickelt. Negativ sind Korruption, Kriminalität und eine tiefe Spaltung des Volkes, die 2002 in einen Putschversuch gipfelte, zu bewerten. Auch der Internationale Bund Freier Gewerkschaften und die ILO sind sich uneins in der Beurteilung der »bolivarianischen Revolution«, wie die Politik von Chávez bezeichnet wird, die sich am südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar orientiert. Venezuela nennt sich offiziell »Bolivarianische Republik Venezuela.«

Ich fahre mit dem Taxi durch die Innenstadt von Puerto Ayacucho und unterhalte mich mit dem Fahrer. Im Radio wird eine Diskussion über die Politik der Regierung Chávez angekündigt. Der Taxifahrer dreht unverzüglich lauter. Er stellt das Gespräch mit mir ein und deutet mit der rechten Hand auf das nun sehr laut dröhnende Radio: »Die reden über Chávez!«, ruft er lächelnd. Ob Chávez ein guter Präsident sei, frage ich den Taxifahrer. »Natürlich. Denn er ist ein sehr starker Präsident«, lautet die prompte Antwort.

Der im Südwesten Venezuelas gelegene Bundesstaat Amazonas gehört zu den ärmsten Regionen des Landes und ist eine Hochburg des populistischen Präsidenten. Der Name Chávez und der mit ihm assoziierte Reformkurs ist nicht nur in der Provizhauptstadt Puerto Ayacucho, sondern auch in entlegenen Indianerdörfern zum Begriff geworden.


I N F O R M A T I O N

Venezuela
Einwohner:  25 Millionen
Hauptstadt:  Caracas
Amtssprache:  Spanisch
Religion:  93% Katholiken, 5% Protestanten, 2% andere
Verwaltung:  22 Bundesstaaten plus Hauptstadtdistrikt
Staat:  Präsidiale Bundesrepublik, Parlament mit 165 gewählten Mitgliedern

Wichtiger Wert Bildung

Mit diesem Reformkurs haben auch die Eindrücke zu tun, die man im bei Touristen beliebten Orinoco-Delta machen kann: Immer wieder sind kleine Gruppen von Erwachsenen zu beobachten, die sich an den Ufern der Flussarme auf Holzstegen unter Palmendächern versammeln. Häufig sind sie zwischen 20 und 40 Jahre alt, manchmal auch älter. Sie sitzen in Halbkreisen vor kleinen Tafeln. Ein Bild oder Poster des aus Caracas stammenden Nationalhelden Simón Bolívar ist fast immer in der Nähe befestigt. Die Erläuterungen ihrer Lehrer übertragen die erwachsenen Schüler eifrig in ihre Hefte. Lesen und Schreiben haben viele von ihnen schon gelernt. Als nächstes wollen sie ihren Grundschulabschluss nachholen. Simón Bolívar, Bezwinger der spanischen Kolonialmacht, hatte die Notwendigkeit breiter Volksbildung schon vor gut 200 Jahren drastisch betont: »Ein unwissendes Volk ist das blinde Instrument seiner eigenen Zerstörung.«

Wie kam es eigentlich zu dieser »bolivarianischen Revolution«, die sich auf die Ideen von Simón Bolívar beruft und nicht nur Millionen begeisterter Anhänger, sondern mindestens ebenso viele zornige Gegner hervorgebracht hat? Anfang der Neunzigerjahre lebten zwei Drittel der venezolanischen Bevölkerung in kritischer Armut, ein Drittel sogar in absoluter Armut. Die Regierung von Carlos Andrés Pérez reagierte nach Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) mit Lohnkürzungen und Preissteigerungen, was massiven Widerstand der verarmten Massen auslöste. Bereits 1989 waren bei Protesten gegen Preiserhöhungen im öffentlichen Verkehr an die 4000 Menschen ums Leben gekommen. Präsident Pérez hatte den Einsatz des Militärs gegen die Demonstranten befohlen.

Hugo Chávez, damals Befehlshaber des Fallschirmjägerbataillons, gelang es, unzählige Soldaten auf seine Seite zu ziehen und von der Notwendigkeit eines unmittelbaren Regimewechsels zu überzeugen.

Aufstand 1992

Der Aufstand begann in der Nacht vom 3. auf den 4. Februar 1992. Im ganzen Land wurden strategisch wichtige Punkte erfolgreich übernommen und auch gehalten. Der Aufstand scheiterte aber in der Hauptstadt. Um unnötiges Blutvergießen zu verhindern, befahl Chávez seinen Truppen, den Kampf einzustellen und ließ sich widerstandslos verhaften.

Die Regierungszeit von Carlos Andrés Pérez war trotz des Scheiterns des Putsches zu Ende. Die Generalstaatsanwaltschaft leitete ein Korruptionsverfahren gegen den Präsidenten ein und enthob ihn bereits im Mai 1993 seines Amtes. Um sich dem anschließenden Gerichtsverfahren zu entziehen, floh Pérez in die Dominikanische Republik. Hugo Chávez wurde 1994 aus dem Gefängnis entlassen, musste aber seine militärische Laufbahn beenden. Gemeinsam mit seinen Anhängern gründete er daraufhin die »Movimiento Quinta República« (MVR-Bewegung der Fünften Republik), um bei den Wahlen im November 1998 anzutreten. Die meisten linken Parteien schlossen sich mit der MVR zum Wahlbündnis »Patriotischer Pol« zusammen. Gemeinsames Ziel waren Ausarbeitung einer neuen Verfassung, Verbesserung des Erziehungs- und Gesundheitswesens, Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Korruption sowie ein sofortiger Privatisierungsstopp. Der »Patriotische Pol« erlangte in beiden Kammern des Parlaments eine Mehrheit. Bei den einen Monat später stattfindenden Präsidentschaftswahlen erzielte Hugo Chávez 57% der Stimmen. Die Mehrheit des venezolanischen Volkes wollte offensichtlich einen Wechsel.

Erste Volksabstimmung

Das erste Vorhaben der neuen Regierung war die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung, um das politische System von Grund auf zu reformieren. Für diesen Zweck wurde im April 1999 die erste Volksabstimmung in der Geschichte Venezuelas durchgeführt. Über 87% der Bevölkerung stimmten für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Nachdem diese einige Monate später schließlich entworfen war, bat man das Volk erneut zur Abstimmung. Im Dezember 1999 wurde die Verfassung mit 71% der Stimmen angenommen. Etliche Veränderungen erlangten dadurch sofortige Wirksamkeit: Das Zweikammernparlament wurde durch eine Nationalversammlung ersetzt. In Caracas kann ab sofort der Bürgermeister anstelle eines vom Präsidenten ernannten Gouverneurs direkt gewählt werden. Die Privatisierung der staatlichen Erdölgesellschaft PdVSA (Petróleos de Venezuela, S. A.) und anderer Schlüsselindustrien wurde verboten. Die indianische Bevölkerung erhielt breite Selbstbestimmungsrechte. Die Annahme der neuen Verfassung zog baldige Neuwahlen auf allen Ebenen nach sich. Bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 2000 konnte Hugo Chávez seinen letzten Wahlsieg sogar noch übertreffen. 60% der Stimmen entfielen auf den amtierenden Präsidenten.

Terrorismus und Drogenhandel

Wenig Begeisterung für die Politik der neuen Regierung zeigten die venezolanischen Medien. Die meisten Zeitungen und Fernsehsender sympathisieren mit der Opposition und warnen seit Jahren vor einem zweiten Kuba. Die wirtschaftliche und politische Kooperation zwischen Venezuela und Kuba sei zu freundschaftlich: Kuba entsendet medizinisches Personal und Lehrer zur Unterstützung der Reformen, Venezuela hilft Fidel Castro umgekehrt mit billigen Erdöllieferungen aus.

Opposition und US-Regierung weisen darüber hinaus auf die angebliche direkte Unterstützung der marxistischen Guerilla im Nachbarland Kolumbien hin, während sich die Regierung Chávez als neutral sieht. Zwei der Hauptkritikpunkte: Venezuela verweigert den USA Überfluggenehmigungen zur Bekämpfung von »Terrorismus und Drogenhandel« im Nachbarland. Kolumbianischen Oppositionellen, Gewerkschaftern und auch Guerrilleros, die von Folter und Mord bedroht sind, wird auf venezolanischem Staatsgebiet Unterschlupf gewährt.

Die Beziehungen zur kolumbianischen Regierung unter Präsident Alvaro Uribe und den USA sind bereits seit Jahren angespannt. Jüngster Konfliktstoff war die Entführung des Guerillaführers Ricardo Granda aus Caracas. Kolumbianische Söldner hatten einheimische Polizisten bestochen und Granda im letzten Dezember vor ihren Augen auf offener Straße gefangen genommen und zurück nach Kolumbien gebracht. Solche Söldnerkommandos erhalten im Rahmen des so genannten »Plan Colombia« auch finanzielle Unterstützung aus den USA und haben im Grenzgebiet von Kolumbien und Venezuela bereits tausende Menschen ermordet. Entführungen auf venezolanischem Staatsgebiet sind ebenfalls keine Seltenheit.


I N F O R M A T I O N

Parteien und Verbände
MVR
Movimento Quinta República (= Bewegung der Fünften Republik): Partei von Präsident Chávez
PdVSA (Petróleos de Venezuela Sociedad Anónima): die staatliche Erdölgesellschaft
OAS Organisation Amerikanischer Staaten: Mitglieder sind die meisten nord- und südamerikanischen Länder
ILO (International Labour Organisation): Internationale Arbeitsorganisation, formuliert arbeitsrechtliche Mindeststandards in Form von Richtlinien und Empfehlungen; gleichberechtigte Mitglieder sind Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter
Fedecámaras (Federación de Cámaras): venezolanischer Unternehmerverband
CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela): konservativ ausgerichteter Gewerkschaftsdachverband
UNT (Unión Nacional de Trabajadores): regierungsnaher, linksgerichteter Gewerkschaftsverband, mittlerweile stärker organisiert als der CTV
IBFG (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften): Der IBFG wurde 1949 gegründet und ist der größte internationale Gewerkschaftsdachverband. Auch der ÖGB ist Mitglied."
IVSS (Instituto Venezolano de los Seguros Sociales): Venezolanisches Institut für Soziale Sicherheit; die dem Arbeitsministerium unterstellte staatliche Sozialversicherungsanstalt Venezuelas

Verletzung der Meinungsfreiheit

Kritik riefen auch Chávez` Direkteingriffe in die Medien hervor: Aufgrund der rein negativen Berichterstattung in Funk und Fernsehen veranlasste der Präsident das wöchentliche Zusammenschalten aller Fernseh- und Radiostationen, um die Botschaften der Regierung persönlich an das Volk zu bringen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) lehnte die daraufhin wegen Verletzung der Meinungsfreiheit vorgebrachte Beschwerde der Medienkonzerne allerdings ab. Erstens gibt es solche Zusammenschaltungen auch in anderen lateinamerikanischen Ländern, zweitens wird die sonstige Berichterstattung nicht beeinflusst.

Trotz dieses heftigen Gegenwindes folgte vom Jahr 2000 an eine Reformmaßnahme nach der anderen. So wurden etwa im ganzen Land so genannte »Bolivarianische Zirkel« eingerichtet. Das Ziel dieser aus sieben bis elf Personen bestehenden Gruppen ist es, an Universitäten, Krankenhäusern, Schulen und Unternehmen lokale Probleme zu erörtern bzw. über die jeweilige Institution auch gleich Lösungen zu veranlassen.

Als Sofortmaßnahme zur Linderung der Wohnungsnot errichtete die Regierung tausende neue Wohnungen. Die bisher illegalen Ansiedlungen in den Slums der großen Städte wurden legalisiert, um Vertreibungen und Übergriffe der Polizei zu unterbinden. Die Landreform sieht Umverteilungen von Böden vor, die von den Großgrundbesitzern nicht bewirtschaftet werden. Ein Verbot des Einsatzes von Schleppnetzen soll die kleinen Fischer schützen und das ökologische Gleichgewicht an der venezolanischen Küste bewahren. Schließlich wurde die Besteuerung von Erdölunternehmen von 16,6 auf 30% angehoben und die neuen Steuereinnahmen für die Ausweitung sozialer Programme zweckgebunden.

Generalstreik

Die Opposition, darunter der Unternehmerverband Fedecámaras (Federación de Cámaras) und die Gewerkschaftszentrale CTV (Confederación de Trabajadores de Venezuela), rief im April 2002 zu einem Generalstreik bis zum Rücktritt des Präsidenten auf. Der Streik wurde vor allem von Handels- und anderen Privatunternehmen sowie vielen Privatschulen befolgt. Als Anhänger der Opposition Brandanschläge gegen öffentliche Busse, die trotz des Streikaufrufes Passagiere beförderten und geöffnete Geschäfte durchführten, war die Eskalation nicht mehr zu bremsen. Großdemonstrationen von »Chávistas«, wie sich die Anhänger Chávez nennen, und Regierungsgegnern stießen wiederholt aufeinander. Zahlreiche Tote und hunderte Verletzte auf beiden Seiten waren die Folge. Links- und rechtsradikale Heckenschützen schossen auf Demonstranten beider Lager.

Die Militäreinheiten der Opposition nutzten das Chaos, welches nach Bekanntwerden der ersten Todesopfer entstand, aus, um den Präsidentenpalast zu umstellen und Chávez gefangen zu nehmen. Der Präsident wurde auf einen nahe gelegenen Luftwaffenstützpunkt gebracht. Pedro Carmona, Chef des Unternehmerverbandes, wurde in weiterer Folge als Präsident eingesetzt, das Parlament aufgelöst und der oberste Gerichtshof entlassen. Der US-Botschafter in Venezuela gratulierte den Putschisten zu einem »großartigen Tag in der Geschichte Venezuelas«.

Putsch gescheitert

Zehntausende wütende Chávez-Anhänger, vor allem aus den ärmsten Vierteln von Caracas kommend, marschierten zum Präsidentenpalast, wo Dutzende von ihnen von der Stadtpolizei erschossen wurden. Carmona konnte sich dennoch nur zwei Tage als Präsident Venezuelas behaupten. Die Putschisten hatten zwar die Polizeitruppen der Hauptstadt auf ihrer Seite, doch unterschätzten sie die Popularität von Chávez innerhalb des Militärapparates. Die Ehrengarde eroberte den Palast zurück, während das ebenfalls loyale Fallschirmjägerbataillon Chávez befreite und nach Caracas eskortierte. Carmona wurde die Ausreise nach Kolumbien gestattet.

Nicht lange nach dem gescheiterten Putsch plante die Opposition bereits ihren nächsten Versuch, Hugo Chávez abzusetzen. Diesmal sollten zumindest die demokratischen Spielregeln eingehalten werden. So initiierte man ein Referendum zur Absetzung des Präsidenten. Auch diese im August 2004 durchgeführte Abstimmung entschied Chávez klar für sich.

Situation der Gewerkschaft

Nicht zuletzt wegen der Unterstützung der Opposition und enger Verbindung zu den alten Regierungsparteien hatte der venezolanische Gewerkschaftsverband CTV mit massivem Mitgliederschwund zu kämpfen. Die CTV wurde bald von der UNT (Unión Nacional de Trabajadores) als größte Gewerkschaft des Landes abgelöst. Nachdem die CTV gemeinsam mit dem Unternehmerverband der Regierung Chávez vor der ILO (International Labour Organisation) wiederholt diktatorisches Verhalten vorgeworfen hatte, entsandte die ILO, bis 2003 selbst scharfe Kritikerin der Politik von Chávez, eine offizielle Delegation vor Ort. Die Vorwürfe konnten nicht bestätigt werden. ILO-Delegationsleiter Jorge Sappia gratulierte der Regierung vielmehr zu den »seit 2002 unternommenen positiven Schritten«. Die UNT wurde als Vertreterin der venezolanischen Arbeiterschaft anerkannt. Victor Baez, Generalsekretär der Regionalorganisation für Amerika beim IBFG (Internationaler Bund Freier Gewerkschaften) unterstützt dagegen die Anliegen des IBFG-Mitgliedes CTV. Die UNT sei eine von der Regierung Chávez eingerichtete regimetreue Organisation, die CTV dagegen eine der »führenden Kräfte der Demokratie«.

Trotz der massiven Spaltung im Land führte die Regierung ihre Reformmaßnahmen ungebremst fort. 2003 startete die so genannte »Mission Robinson«, benannt nach Símon »Robinson« Rodriguez, dem Lehrer von Simón Bolívar. Innerhalb eines Zeitraumes von eineinhalb Jahren gelang es, zwei Millionen Menschen das Lesen und Schreiben beizubringen und unzähligen Erwachsenen zu ermöglichen, ihren Grundschulabschluss nachzuholen.

Gegen Analphabetismus

»Wir haben uns bei dieser Maßnahme am kubanischen Modell orientiert«, erklärt mir der für die Regierung tätige Anwalt Tomás A. Bassanet. »Vielfach haben wir bei der Mission Robinson statt Lehrern Fernseher und Videobänder eingesetzt.« Der Plan der Regierung ist, »die Analphabetenrate auf Null zu senken«. Beim Amtsantritt von Präsident Chávez betrug diese offiziell noch 10%. Bassanet weist darauf hin, dass als Anreiz für einen entsprechenden Kursbesuch sogar ein kleines Grundgehalt bezahlt wird: »Wer sich zu einem Alphabetisierungskurs anmeldet, bekommt monatlich 90 US-Dollar vom Staat auf ein eigens dafür eröffnetes Bankkonto überwiesen!« Gefangene, die sich bereit erklären, ihren Mithäftlingen Lesen und Schreiben beizubringen, bekommen Haftverminderungen. Im ganzen Land wurden außerdem tausende Schulen errichtet. Dadurch konnten die Schülerzahlen bereits deutlich gesteigert werden. »Wir haben die Tendenz gestoppt, Bildung zu privatisieren«, meint Bassanet. »Die Grundschulbildung ist in Venezuela nicht nur gratis, auch alle Mahlzeiten für die Kinder werden vom Staat finanziert und so die Eltern finanziell entlastet.« Kinder von Indianern erhalten darüber hinaus bis zur Matura Unterricht in ihrer Muttersprache.

Gesundheitsreformen

Auch das Gesundheitswesen wurde verbessert. Eines der neuen Programme nennt sich »Barrio Adentro«, was so viel wie »innen im Viertel« bedeutet. Es wurde in den Armenvierteln von Caracas gestartet und mit der Unterstützung hunderter kubanischer Ärzte verwirklicht. Zum ersten Mal war medizinische Versorgung auch jenen zugänglich, die es sich bisher nicht leisten konnten oder einfach keinen Arzt in ihrer Umgebung hatten. So war es auch keine Überraschung, dass die meisten Krankheitssymptome, auf welche die Ärzte stießen, auf die schlechten hygienischen Verhältnisse zurückzuführen waren: Durchfall, Parasiten und Infektionen. Inzwischen ist das Programm bis in entfernte ländliche Regionen ausgeweitet worden: »Wir haben ein Abkommen mit Kuba geschlossen, welches das Ziel verfolgt, auch die entlegensten Regionen unseres Landes medizinisch zu versorgen«, beschreibt Tomás A. Bassanet. »Zunächst helfen kubanische Ärzte in diesen ländlichen Gebieten aus. Es kehren aber bereits die ersten venezolanischen Medizinstudenten aus Kuba zurück, um unsere Gesundheitsreform voranzutreiben.«

Auch neue Krankenhäuser wurden errichtet und Zugangsbarrieren abgeschafft. »Die Situation im Gesundheitswesen ist immer noch schwierig.

Spitäler für alle

Aber heute kann jeder Bürger Venezuelas zumindest in das öffentliche Spital seiner Wahl gehen«, bringt es Bassanet auf den Punkt. »Früher sind Arbeitslose und Leute aus den Armenvierteln sogar von den staatseigenen Krankenhäusern der IVSS abgelehnt worden!« Die öffentlichen Spitäler des IVSS (Venezolanisches Institut für Soziale Sicherheit) wurden verpflichtet, alle Menschen, die medizinische Versorgung brauchen, unentgeltlich zu behandeln. Außerdem sind bereits mehrere tausend Menschen aus Venezuela zur Behandlung nach Kuba ausgeflogen worden.

Die Erfolge im Bildungs- und Gesundheitswesen sind unübersehbar. Die Opposition weist aber daraufhin, dass dagegen der ebenso angekündigte Kampf gegen Korruption und Kriminalität nicht sehr fruchtbar verlaufen ist. Zwar wurde der staatliche Erdölkonzern PdVSA erfolgreich umstrukturiert, weil zuvor 80% der Einnahmen in zweifelhaften Quellen versickert sind. Doch ist die Korruption bei Polizei, Militär und Ärzten noch immer allgegenwärtig. Die Kriminalität in den Großstädten erreicht zudem Rekordwerte.

Es besteht durchaus Hoffnung, dass durch weiteres Vertiefen der Reformen und der damit einhergehenden Verbesserung der Lebensbedingungen auch Korruption und Kriminalität wieder zurückgehen werden. Als nächstes wurde bereits die Einführung einer Grundpension angekündigt. Die bolivarianische Revolution ist offensichtlich noch lange nicht zu Ende.

(Der Autor bereiste heuer vier Wochen lang Venezuela.)

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