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Gesundheit | Arm und krank: Vermutung oder Realität?

GESELLSCHAFTSPOLITIK

In Österreich sind immer mehr Menschen gefährdet zu verarmen. Auch die Anzahl von kranken Menschen steigt. Zwischen Armut und Krankheit besteht ein enger Zusammenhang.

Der neue Sozialbericht (2003) des Sozialministeriums führt uns einmal mehr vor Augen, dass auch reiche Gesellschaften die Armut nicht besiegen konnten. Insgesamt fallen in Österreich rund eine Million Personen unter die von der EU festgelegte Armutsgefährdungsschwelle von 60% des nationalen Medianeinkommens. Dieses beträgt in Österreich 785 Euro für das Jahr 2003, die zwölf Monate im Jahr ausbezahlt werden. Im EU-Vergleich ist die Armutsgefährdung in Österreich relativ niedrig (Österreich 13,2%, EU-Durchschnitt: 15%). Von der Einkommensarmut ist die akute Armut zu unterscheiden; sie liegt vor, wenn zusätzlich zu den finanziellen Benachteiligungen auch Einschränkungen in grundlegenden Lebensbereichen (Wohnung, Kleidung, Heizung etc.) vorliegen. Diesem Ansatz folgend hat die Sozialstatistik der EU in fünf Lebensbereichen solche nichtmonetären Benachteiligungen festgestellt. In Österreich gelten nach diesen Kriterien rund 5,9% der Bevölkerung als arm.

Armut hätte ohne sozialstaatliche Einrichtungen wie die Sozial- und Arbeitslosenversicherung oder die Sozialhilfe ein noch viel höheres Ausmaß, statt 13,2% der Bevölkerung wären 42% armutsgefährdet. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Armut auch heute noch - und wie es scheint in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit zunehmend wieder (die Armutsschwelle betrug 2000 noch 12%!) - ein soziales und damit auch ein sozialpolitisches Problem ersten Ranges (geworden) ist.

Armut unter gesundheitspolitischen Gesichtspunkten betrachtet hat zwei wichtige Aspekte:

Armut und Krankheit

Zum einen bedeutet arm sein auch öfter und früher krank zu sein. Dazu kommt, dass Arme trotz gleicher Rechtsansprüche in qualitativer und quantitativer Hinsicht oft nicht jene Leistungen des Gesundheitssystems erhalten, mit denen andere im Erkrankungsfall rechnen können. Studien bestätigen, dass bei sozial Schwächeren ein schlechter Gesundheitszustand rund doppelt so häufig ist wie bei Angehörigen höherer Einkommensgruppen. Ein Grund dafür ist die Anhäufung von Risikofaktoren, die sich aus dem niedrigen sozialen Status (ungenügende Bildung, gesundheitsschädliche Arbeit, Einkommensarmut, schlechte Ernährung etc.) ergibt und oft die Folge »sozialer Vererbung« ist. Sie führt zu früher Invalidisierung und Pflegebedürftigkeit und verstärkt die soziale Ausgliederung kranker Menschen (»Krankheit macht arm«). Trotz höheren Erkrankungsziffern (Morbidität) werden die Leistungen des Gesundheitssystems von Ärmeren häufig in einem geringeren Ausmaß in Anspruch genommen. Es werden weniger Fachärzte aufgesucht, kaum Vorsorgeuntersuchungen nachgefragt und mitunter auch unzureichende Leistungen gewährt - eine Folge der oft geringen Artikulationsfähigkeit dieser Gruppe.

In einer Veranstaltung der AK Wien und der Volkshilfe Österreich zu diesem Thema wurde auch ein enger Zusammenhang zwischen dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) eines Staates und der Gesundheit bzw. der Lebenserwartung festgestellt. Das gilt insbesondere auch zwischen West- und Osteuropa (siehe »Europäischer Gesundheitsbericht 2002«). In Osteuropa sterben heute Menschen um durchschnittlich zehn Jahre früher als in Westeuropa.

Armut und Gesundheitssystem

Zum anderen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Gesundheitssystem und Armut. Wenn auch Armut von der Gesellschaft zu verantworten ist, so kann das Gesundheitssystem die Folgen von Armut abschwächen, aber auch verschärfen (etwa durch Zugangsbarrieren oder Leistungskürzungen). Präventive Armutspolitik erfordert einen multidisziplinären Ansatz, in dem eine soziale Verteilungspolitik, Herstellung von Chancengleichheit und ein ausreichendes Beschäftigungsangebot im Vordergrund stehen. Sollen aber auch die Gesundheitspolitik beziehungsweise das Gesundheitssystem armutsvermeidend wirken, ist es unverzichtbar, Gesundheit auch in Zukunft als öffentliches (»meritorisches«) Gut anzuerkennen. Darunter sind öffentliche Leistungen zu verstehen, die deshalb nicht der Privatwirtschaft überlassen werden können, weil sonst nur eine als unzureichend angesehene Versorgung mit diesen Leistungen zustande käme. Vor diesem »distributivem Marktversagen« warnen auch namhafte Gesundheitsökonomen und weisen damit auf den gesellschaftspolitisch bedeutsamen Umstand hin, dass Marktergebnisse nicht immer mit sozial- und gesundheitspolitischen Zielen wie dem freien Zugang und dem Bedarfsprinzip übereinstimmen müssen (Beispiel: eine Privatisierung der Spitäler zieht anstelle eines bedarfsgerechten ein primär gewinnorientiertes Leistungsangebot nach sich).

Für »armutsfestes« System

Die Gesundheitssicherung muss daher weiterhin auf ein solidarisch finanziertes Leistungssystem und auf einen einkommensunabhängigen Zugang zu allen notwendigen Gesundheitsleistungen aufbauen. Das österreichische Gesundheitssystem beruht auf dem Prinzip der Sozialversicherung. Es werden alle Erwerbstätigen zur Zahlung von Beiträgen verpflichtet. Die Höhe der Beiträge ist ausschließlich vom Erwerbseinkommen abhängig. Die Leistungen richten sich nach dem Behandlungsbedarf.

Somit entrichten Einkommensschwächere einen geringeren Beitrag in die gesetzlichen Krankenversicherung als Einkommensstärkere, erhalten aber alle notwendigen Leistungen. Dieses Zusammenwirken von Leistungsfähigkeitsprinzip in der Finanzierung der Leistungen und dem Bedarfsprinzip bei der Versorgung mit Leistungen sichert eine solidarische Finanzierung des Gesundheitssystems und ein hohes Maß an sozialer Umverteilung. Dadurch wird das Gesundheitssystem »armutsfest«. Wer nicht sozialversichert ist, ist entweder als Angehöriger mitversichert oder erhält die Leistungen über die Sozialhilfe.

Gegen »Liberalisierungsepidemie«

Diese Prinzipien werden heute allerdings zunehmend in Frage gestellt. In ganz Europa scheint sich eine »Liberalisierungsepidemie« im Gesundheitswesen auszubreiten, die auch vor Österreich nicht Halt macht. Unter »Liberalisierung« im Gesundheitswesen ist dessen Deregulierung (Abgehen von staatlicher Regelung) zu verstehen. Das reicht von der staatlichen Leistungsangebotsplanung bis hin zur Qualitätssicherung (z. B. im Heilmittelsektor). Darunter fällt auch die Privatisierung von Gesundheitskosten (Kranke bekommen für ihren Beitrag immer weniger aus dem öffentlichen Gesundheitssystem heraus) sowie die Privatisierung des Versicherungsangebots (private Versicherer bieten mit bzw. anstelle öffentlicher Kassen Gesundheitsvorsorge an). Ziel ist: Nicht mehr (nur) der Staat, sondern der Markt soll künftig das Gesundheitssystem steuern.

Diese Liberalisierung des Gesundheitswesens wird vor allem vor dem Hintergrund der Restauration wirtschaftsliberaler Vorstellungen verständlich. In Anbetracht der aktuellen Finanzierungsprobleme und im Hinblick auf den durch demografische Veränderungen und den medizinisch-technischen Fortschritt befürchteten finanziellen Mehrbedarf fallen solche Ideologien gerade im Gesundheitswesen auf fruchtbaren Boden. Mithin drohen auf der Finanzierungsseite neue Selbstbehalte, auf der Leistungsseite die Kürzung medizinisch notwendiger Leistungen (Rationierung) und auf der Versicherungsebene ein Kassenwettbewerb. Besonders bedrohlich ist das aus der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden kommende »Gesundheitsprämienmodell«. Danach müssten im Unterschied zur gesetzlichen Krankenversicherung alle Versicherten gleich hohe »Kopfprämien« entrichten. Zwar könnten sozial Schwache über Steuern subventioniert werden, es käme aber zu erheblichen finanziellen Belastungen vor allem von einkommensschwächeren Versicherten mit Familie, während gut situierte Alleinstehende davon sogar profitieren würden.

Selbstbehalte verhindern Arztbesuch

Selbstbehalte wirken bekanntlich wie Krankensteuern; Personen, die für ihren Versicherungsschutz ohnehin schon Beiträge zahlen müssen, werden durch Selbstbehalt zusätzlich belastet. Je höher Selbstbehalte sind, umso weniger gehen einkommensschwache Personen zum Arzt (prohibitive Wirkung auf die Patientennachfrage). Selbstbehalte laufen auf eine Privatisierung der Gesundheitskosten und damit auf eine Zwei-Klassen-Medizin hinaus. Das ist auch bei Leistungskürzungen (wie zuletzt bei Sehbehelfen) der Fall. Sozial Schwächere werden immer weniger in der Lage sein, diese Leistungen zu bezahlen. Befreiungen schaffen wiederum nur neue Ungerechtigkeiten. Eine ähnliche Wirkung weisen auch Leistungsoptionsmodelle (z. B. niedrige Grundversorgung mit wahlweiser Standardversorgung) oder auf private Vorfinanzierung der Leistungen beruhende Kostenerstattungssysteme auf.

Gesundheitspolitische Weichenstellungen dieser Art sind mit einer auf Armutsvermeidung ausgerichteten Sozialpolitik unvereinbar. Eine Privatisierung der Gesundheitskosten führt zu sozialer Ungerechtigkeit. Eine Politik sozialer Inklusion erfordert, die armutsmildernde Wirkung des Gesundheitssystems zu erhalten. Dabei genügt es nicht, sich auf ein baldiges Scheitern der liberalen Konzepte zu verlassen. Vielmehr muss den Menschen besser als bisher vermittelt werden, was sie allenfalls mit dem Sozialversicherungssystem verlieren könnten.

Arme Menschen besser versorgen

Außerdem muss sich die Gesellschaft Gedanken darüber machen, wie außer einer Armutsbekämpfungspolitik (»Verhältnisprävention«) die medizinischpflegerische Versorgung von in Armut geratenen Menschen verbessert werden kann. Sie könnte zielgruppenorientiert ausgestaltet werden, beispielsweise durch niederschwellige Leistungsangebote (siehe Krankenhaus der Barmherzigen Brüder), ein spezifisches Disease-Management für Arme, durch bessere Zusammenarbeit öffentlicher Stellen und/oder durch spezifische Beratungsangebote. Jedenfalls verlangt eine rationale Gesundheitspolitik die Festsetzung von Gesundheitszielen. Was spricht dagegen, eine in Zukunft bessere gesundheitliche Versorgung von Armen als Bund, Länder, Gemeinden und Sozialversicherung bindendes Gesundheitsziel festzulegen und die NGOs in diese Vereinbarung einzubeziehen?

Helmut Ivansits
(Abteilung Sozialversicherung)

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