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Gesetzlicher Mindestlohn, Fluch oder Segen?

SCHWERPUNKT

Die Frage nach dem angemessenen, dem gerechten Lohn beschäftigt Wirtschaftstheoretiker, Sozialreformer, Gewerkschafter und Politiker seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Somit ist die Diskussion um Sinn und Unsinn von Mindestlöhnen nichts Neues. Welcher Lohn ist angemessen?

DGB-Chef Michael Sommer warnt angesichts sinkender Löhne im Rahmen der Diskussionen um die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in Deutschland vor allem davor, dass das »Bundesdeutsche Einkommensniveau auf breiter Front, vor allem für einfache Arbeiten nach unten ins Rutschen kommt«. »Wir kriegen, wenn es so weiter geht, Armutslöhne für 6,3 Millionen Menschen, die heute schon für geringe Einkommen arbeiten und müssen dagegen etwas tun!«, so DGB-Chef Sommer.

Die Meinungen darüber, was man tun sollte, gehen allerdings in Deutschland auseinander. In der Politik und im DGB. So sind die Gewerkschaften ver.di und NGG (Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten) beispielsweise für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes für alle, die großen Industriegewerkschaften wie IG-Metall und IG-BCE sind dagegen.

In Österreichs Politik sprechen sich vor allem »die Grünen« für die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes (1100 Euro) aus, weil ein Generalkollektivvertrag zu diesem Thema zu schwierig umzusetzen sei. Die ÖVP und die SPÖ glauben, dass es eine Mindesteinkommenssicherung (ca. 1000 Euro) geben sollte, die Verwirklichung aber Sache der Sozialpartner in der Kollektivvertragspolitik sei. Die Freiheitlichen wollen eine Mindesteinkommensregelung durch Generalkollektivvertrag. Mehrheitsmeinung dürfte aber sein, dass der Parlamentarismus in ökonomischen Fragen sowieso nur bedingt kompetent sei, Lohnpolitik aber ganz sicher »nichts im Parlament verloren hätte«.

Die Gefahr des Entstehens von »Working Poor«, Menschen, die trotz Vollzeitarbeit von dem verdienten Einkommen wegen dessen Geringfügigkeit nicht leben können, nimmt in ganz Europa immer mehr zu. Bedingt durch verschärfte Zumutbarkeitsbestimmungen in der Arbeitslosenversicherung sowie durch mehr Teilzeitjobs, aber auch durch die allgemeine schleichende Deregulierung und abnehmende kollektive Einkommensbindung in manchen Bereichen und der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse mit und ohne geringfügiger Beschäftigung entstehen Einkommen, die »Hungerlöhnen« gleichkommen.

Hungerlöhne

Dazu besteht bei manchen Unternehmern und auch Politikern die Meinung, die angebotene Arbeit sei zu teuer, um die allgemeine Beschäftigungslage ausweiten zu können. Sie meinen, durch geringere Lohnkosten könnten mehr Arbeitsplätze entstehen. Diese Meinung ist empirisch belegbar falsch. Seit Anfang der Achtzigerjahre sinkt in ganz Europa (West) tendenziell die Nettolohnquote und gleichzeitig steigt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich an. In Niedriglohnbereichen (wie zum Beispiel Ostdeutschland) werden nur ein Viertel der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nach Kollektivvertrag bezahlt, die Durchschnittslöhne liegen um ein Viertel unter dem Westniveau, aber keine Spur eines positiven Beschäftigungseffektes ist zu bemerken.

Um also Lohndumping und Armutsgehälter zu verhindern, brauche man den Staat, der durch Gesetz ein Mindesteinkommen festlegen muss, meint man. Laut Forderung von ver.di am letzten DGB-Kongress, 1500 Euro für Vollzeitarbeit. Ein »Segen« also, auch für österreichische Einkommensniveaus (Frauenmedianeinkommen 1335 Euro)!

Was auf den ersten Blick hin im Interesse der Betroffenen liegt, hat allerdings auch Haken.

Jugendarbeitslosigkeit

Viele Gewerkschaften in Europa und viele Sozialökonomen fürchten, dass bei Einführung eines gesetzlichen Mindesteinkommens nicht nur in die gemäß Europäischer Menschenrechtskonvention geschützte Tarifautonomie der Sozialpartner eingegriffen werden würde, sondern die Mindesteinkommensgestaltung durch langsame parlamentarische Prozesse ad absurdum geführt werden könnte. Außerdem zeige die Erfahrung in manchen Ländern, die ein gesetzliches Mindesteinkommen haben, dass die Anpassung der gesetzlichen Mindesteinkommen nicht ökonomischen, sondern wahltaktischen Überlegungen folgt. Dazu komme noch, dass eine unausgewogene Mindestlohnpolitik die Jugendarbeitslosigkeit steigen lässt. Da Jugendliche noch über wenig Erfahrung und Ausbildung verfügen, spielt die Lohnhöhe für ihre Anstellung eine zentrale, branchenbezogene Rolle. So bestehe die
Gefahr, so die Kritiker des gesetzlichen Mindestlohnes, dass es auf dem Nie--drig--lohnsektor zu ungewollter Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt kommt, da es günstiger ist, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen mit Mindestlohn einzustellen als Jugendliche.

Entweder der gesetzliche Mindestlohn ist zu hoch, dann wird er mit Arbeitszeitvereinbarungen unterlaufen, oder er ist zu niedrig, dann ist er nicht wirksam oder kontraproduktiv. Auch die Problematik der Armutsbekämpfung werde durch einen gesetzlichen Mindestlohn nicht unterstützt, meinen OECD-Experten und verweisen darauf, dass 80 Prozent der Niedriglöhne in Europa zu einem Haushalt mit sonst hohem Einkommen gehören, also so genannte Zuverdiener sind.

Gedämpfte Einkommen

Als wesentlich merken die Kritiker an, dass durch ein staatliches Mindesteinkommen die branchenbezogene Kollektivvertragspolitik nicht mehr ohne Orientierung am Mindesteinkommen möglich ist, was meist dämpfende Effekte für die Einkommenspolitik hat. Die staatlichen Vorgaben werden aber auch keine Rücksicht auf schwierige Branchen und branchenspezifische Eigenheiten nehmen, was wieder zur Ineffektivität des gesetzlichen Mindesteinkommens führen kann.

Ökonomen behaupten: Ein gesetzlicher Mindestlohn zeigt nur Wirkung, wenn er über dem so genannten markträumenden Lohn liegt. Dann aber führt er zu einem allgemein höheren Lohn und mehr Arbeitslosigkeit!1)

Der gesetzliche Mindestlohn sei kein Wert an sich, sondern müsse sinnvoll gestaltet sein. Er muss existenzsichernd sein, das ist unabdingbar. Dann aber besteht die Gefahr, dass ein Mindestlohn für viele auch der Maximallohn wird. In Frankreich, wo ein gesetzliches Mindesteinkommen für 14 Prozent der Beschäftigten bei 35 Wochenstunden gilt, ist dieser Mindestlohn auch der Normallohn 1100 Euro.

Kollektivvertragskultur

Sind gesetzliche Mindestlöhne ein Fluch?

Nach einem Rundblick in die Europäische Union gibt es in neun von den 15 alten EU-Mitgliedsstaaten gesetzliche Mindesteinkommen und ebenso in zwölf der 13 neuen Ländern. Im Jahre 2004 lag der monatliche Mindestlohn in Portugal, Griechenland und Spanien zwischen 416 und 605 Euro, in den übrigen alten Ländern betrug er mehr als 1000 Euro (zwischen 1073 Euro in Irland und 1369 Euro in Luxemburg). In den meisten neuen Ländern und Kandidatenländern lag der gesetzliche Mindestlohn zwischen 56 Euro und 212 Euro (siehe Kasten).

In den betroffenen Ländern gibt es ein Abkommen zwischen Regierung und Gewerkschaften, wonach jährlich die Höhe des gesetzlichen Mindesteinkommens überprüft und wenn nötig angepasst wird. Das hat in manchen Ländern mit schlechter Kollektivvertragskultur und meist nicht funktionierender Sozialpartnerschaft zufolge, dass die Anpassungsverhandlungen des Mindesteinkommens schon die wesentlichen KV-Verhandlungen sind und in Branchen und Betrieben nur mehr marginal angepasst bzw. in reichen Branchen überdimensional angepasst wird. Eine solidarische Lohnpolitik, wie wir sie verstehen, wird dadurch sehr schwer möglich.

Nach der Europäischen Sozialcharta sind alle Staaten verpflichtet, keine Löhne zuzulassen, die niedriger als 68 Prozent des nationalen Durchschnittslohnes sind. Bis heute ist diese Richtlinie nicht mehr als eine Empfehlung und wird nur von wenigen Ländern wie zum Beispiel Frankreich eingehalten.

Der französische Mindestlohn (SMIC) wird manchmal überdimensional erhöht (im Juli 2004 um 5,5 Prozent). Das entspricht bei einer in Frankreichs Industrie üblichen 35-Stunden-Woche (gesetzlich verankert) einem monatlichen Mindestlohn von 1090,48 Euro brutto.

Diese Aktion zeigt auch die Schwäche der französischen Gewerkschaften einerseits, Lohnpolitik zu betreiben, zeigt aber andererseits auch, welchen Einfluss die Politik auf die Lohngestaltung nimmt bzw. nehmen kann, unabhängig von ökonomischen Aspekten. Es zeigt sich deutlich, dass Lohnpolitik in Verantwortung des Staates sich immer auf Mindestlohnpolitik beschränkt. Das lässt den Gewerkschaften oft KV-politisch keinen Spielraum, ja oft nicht einmal Luft zum Atmen. Die Regierungen gestalten dann meistens Lohnpolitik unter dem Aspekt des »nationalen Zusammenhaltes«, der vor Parlamentswahlen eine besondere Bedeutung bekommt.
 

Monatliche Mindestlöhne
In EUR, Januar 2004
Belgien 1163
Griechenland 605
Spanien 526
Frankreich 1154
Irland 1073
Luxemburg 1369
Niederlande 1249
Portugal 416
England 1105
Bulgarien 56
Estland 138
Litauen 125
Lettland 116
Malta 535
Polen 201
Rumänien 73
Slowakei 118
Slowenien 451
Tschechische Republik 199
Türkei 189
Ungarn 212
USA 877
Quelle: EU-Bulletin 4/2004

USA - das Land der Mindestlöhne

Mindestlöhne gibt es in den USA seit 1912. 1938 trat in den USA mit dem »Fair Labor Standards Act« eine bundesweite Regelung in Kraft. Obwohl die Unternehmervertreter und die Südstaatenpolitik heftig gegen dieses Gesetz opponierten, wurde der gesetzliche Mindestlohn eingeführt. Seit Mitte der Achtzigerjahre hat der US-Mindestlohn, der meist unter demokratischer Führung alle zwei Jahre angehoben wurde, trotzdem verloren und ist hinter der Preisentwicklung weit zurückgeblieben und hat zirka ein Viertel seiner Kaufkraft verloren.

Schätzungsweise sechs Prozent der Amerikaner und Amerikanerinnen verdienen derzeit den Mindestlohn (sieben Millionen Menschen). In vielen Gegenden Amerikas kann man mit umgerechnet 877 Euro keine Familie ernähren. Für die USA gilt nicht, dass ein Großteil der Niedriglöhner so genannte Zuverdiener sind. Die meisten Niedriglöhner in den USA müssen für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familie arbeiten. In diesen Fällen wirkt der gesetzliche Mindestlohn wohlfahrtssteigernd und armutsbekämpfend. Besonders gilt das für die Regionen mit großem Anteil an Schattenwirtschaft und formloser Arbeit (Arbeit ohne Regeln, Taglöhnertum).

Alle Studien der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) zum Thema gesetzliches Mindesteinkommen sagen, dass das geregelte Mindesteinkommen nur ein kleiner Teil und ein ungenügendes Werkzeug zur Armutsbekämpfung sei. Um echter Armut vorzubeugen, wäre es nach Meinung der ILO wichtiger, die Produktivität geleisteter Arbeit zu erhöhen, Gesundheit, Ausbildung und Lebensstandard der Arbeitnehmer zu fördern und vor allem der Entwicklung der Märkte ein Augenmerk zu schenken, indem in Innovation, Forschung und Entwicklung, aber auch in Infrastruktur investiert wird.

Die ILO setzt aber für ein echtes Wirksamwerden eines gesetzlichen Mindestlohnes voraus, dass es eine funktionierende Kollektivvertragskultur und Sozialpartnerschaft gibt. Sonst, vermuten die Experten, wird die Armutsbekämpfung durch normative Mindestlöhne ein »Kampf auf niedrigstem Niveau«, eine Methode, die nicht nachhaltig genug wirkt und außerdem den Beweis schuldig bleibt, nur Nutzen und keine Schäden -
(z. B. Arbeitslosigkeit) zu produzieren.2)

Schlussfolgerungen für Österreich

Der Nutzen gesetzlicher Mindestlöhne ist unleugbar, besonders für Gesellschaften mit unterentwickelter Sozialpartnerschaft. Er kann sich aber nur sinnvoll entfalten, wenn Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sich zu diesem Nutzen bekennen und die Wirkung dieser Entgeltmethode nicht in Frage stellen. Schwierig, nicht? Auch in Österreich bekommt die Diskussion über die Sinnhaftigkeit gesetzlicher Mindestlöhne neue Nahrung, je größer der Anteil der Schattenwirtschaft in Österreich wird und je mehr Arbeit in prekäre Vertragsverhältnisse abwandert. Verschiedene allgemeine Mindestnormen durch EU und OECD, die wichtig für die Diskussion sind, gibt es ja schon.

Produktivitätsorientierte Einkommenspolitik

Allerdings geht eben aus allen ILO- und OECD-Studien hervor, dass gesetzliche Mindestlöhne dort funktionieren und Sinn machen, wo auch die betriebliche und überbetriebliche Sozialpartnerschaft funktioniert. In Österreich, mit einer KV-Dichte von mehr als 90 Prozent (wenn ich den öffentlichen Dienst mitrechne, der sein Einkommen über Gesetze [Gehaltsabkommen] regelt) lässt die sozialpartnerschaftliche Kultur es zu, dass wir Mindestlöhne in den Kollektivverträgen regeln können und damit auch erfolgreich sind. Das hat den Vorteil, dass wir uns die Nachteile gesetzlicher Mindestlöhne ersparen, die in der problematischen Anpassungsmethode der Mindestsummen liegen. Der ÖGB und die Gewerkschaften betreiben massiv Mindestlohnpolitik in jenen Bereichen, wo es auf die Mindestlöhne ankommt, weil sie auch real gezahlt werden. In jenen Bereichen, wo gegenüber den KV-Mindest-ansätzen hohe Überzahlungen üblich sind, machen sie eine andere Politik. So ist es gelungen, die Forderung von 1000 Euro Mindestlohn (brutto) für Vollzeitarbeit praktisch überall wo das Sinn macht umzusetzen. Die Methode der Gewerkschaften in Österreich, die Gehaltsansätze jährlich anzuheben, wobei wir in einer KV-Runde österreichweit eine Summe von mehr als der Hälfte des BIP bewegen, lässt zu, dass wir auch ohne gesetzlichen Mindestlohn zu Rande kommen. Wie schon ausgeführt, hat ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn nicht nur Vorteile und er kann sehr leicht unterlaufen werden. Volkswirtschaften mit guter korporatistischer Struktur schaffen die von der EU geforderte Mindesteinkommensregelung auch ohne normativ festgelegte Mindesteinkommen. Es muss noch erwähnt werden, dass die normative Wirkung der österreichischen Kollektivverträge und die so genannte Außenseiterwirkung flächendeckende Mindesteinkommenslösungen durch KV möglich machen. Solche Möglichkeiten gibt es in anderen Ländern nicht bzw. nicht so gut wie in Österreich.

1) ILO (EMP/STRAT) C. Sager

2) ILO-Convention 1970 Nr. 131


R E S Ü M E E

Noch kann der
ÖGB auch ohne gesetzlich festgelegtes Mindesteinkommen eine produktivitätsorientierte Einkommenspolitik und eine effektive Mindesteinkommenspolitik machen, und das nützt der österreichischen Volkswirtschaft derzeit mehr, als manche »Wirtschaftsauguren« das zugeben wollen.

Die Diskussion über Fluch oder Segen von gesetzlich geregelten Mindesteinkommen wird aber weitergehen, wenn es nicht gelingt, die wirklichen Probleme in der österreichischen Volkswirtschaft rasch zu lösen. Nur einige Schlagworte: Zunehmendes Schwarzunternehmertum und Schattenwirtschaft, Steuerverweigerung, chaotische Betriebsgründungen und blitzartige Auflösungen, Betriebsvereinbarungen »contra legem« und überhaupt mehr und mehr Verstöße gegen das Straf- und Zivilrecht, so als hieße »Rot« an der Verkehrsampel nicht STOPP, sondern nur ACHTUNG QUERVERKEHR!


Q U E L L E N

How to get the maximum out of the minimum wage.
C. Sager, ILO (EMP/STRAT) 2004
Minimum wages and employment, OECD D. Kyloh 2004
Die Zeit 2004, Nr. 11-15, Wirtschaftsteil
Informationen aus dem DGB-Bundesvorstand und dem Internationalen Referat des ÖGB

 

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