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Sozialstaat am Scheideweg

HINTERGRUND

Der »konservative« Sozialstaat mit starker Ausrichtung auf Ehe und Familie und auf durchgehende Erwerbstätigkeit, ist an seine Grenzen gestoßen. Daher müssen die Weichen gestellt werden - in Richtung angelsächsisches oder skandinavisches Modell.

Anfang Oktober dieses Jahres stellte der dänische Sozialwissenschaftler Gösta Esping-Andersen bei einem Referat im Renner-Institut folgende These auf: Das skandinavische Beispiel zeige, dass ein qualitätsvolles, flächendeckendes Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen ab dem zweiten Lebensjahr mehrere positive Auswirkungen habe. Zum einen werde dadurch die Frauenerwerbstätigkeit gesteigert, zum zweiten Kinderarmut und die Vererbung von Armut reduziert und schließlich werde die Bildungsperformance deutlich erhöht.

Dies erscheint als wichtiger Ausgangspunkt für die Frage nach der Weichenstellung. Daher soll zunächst diese These überprüft werden, um dann die wesentlichsten Unterschiede zwischen dem skandinavischen und dem angelsächsischen Modell darzulegen und einige Schlussfolgerungen für Österreich zu ziehen.

Betrachten wir zunächst einmal die Kinderbetreuungseinrichtungen im internationalen Vergleich (Tabelle 1: Vorschulische Betreuung).

Vorschulische Betreuung
In Kinderbetreuungseinrichtungen Dauer des Elternurlaubs
0 bis 3 Jahre 3 bis 6 Jahre (Tage)
Schweden 48,00% 80,00% 85
Dänemark 64,00% 91,00% 82
Österreich 4,00% 68,00% 112
Deutschland 8,00% 40,00% 162
Großbritannien 34,00% 60,00% 44
USA 54,00% 70,00% 12
Österreich und Deutschland liegen bei der Betreuung der Kleinkinder weit zurück

Die Familienpolitik ist sehr unterschiedlich gestaltet. Schaut man sich zunächst an, wie viele Kinder in Kinderbetreuungseinrichtungen sind, so sieht man, dass die Werte für Österreich und Deutschland im Kleinkinderbereich weit hinter den anderen Staaten zurückliegen, auch, wenn man die anderen europäischen Staaten betrachtet. Lediglich die Mittelmeerländer haben ähnlich niedrige Einschreibungsraten.

Die Kinder zwischen drei Jahren und Schuleintritt sind hingegen in weitaus höherem Ausmaß bereits in Kinderbetreuungseinrichtungen. Die skandinavischen Länder haben von Anbeginn an höhere Raten, ebenso die angelsächsischen Länder.
Interessant ist jedoch, dass in Großbritannien und den USA zwar wesentlich kürzere Elternurlaube vorgesehen sind, dass aber dennoch weniger Kinder zwischen null und drei Jahren als in Skandinavien Kinderbetreuungseinrichtungen besuchen. Dies liegt an den Kosten. Da sie vielfach nicht öffentlich subventioniert werden, können es sich viele Familien nicht leisten, ihre Kinder dort unterzubringen. Das Problem, Beruf und Familie zu vereinbaren, wird damit vollkommen ins Private delegiert. Skandinavien zeichnet sich also durch eine breite öffentliche und daher leistbare Kinderbetreuung ab frühem Alter aus, während andere Länder entweder die private Kinderbetreuung mit Geldleistungen unterstützen (Deutschland und Österreich) oder die Familien völlig im Regen stehen lassen (USA).

Wie wirkt sich dies nun auf die Frauenerwerbstätigkeit aus? Tabelle 2 (Frauenerwerbsquote) zeigt, wie sich die Frauenerwerbsquote nach Zahl der Kinder unterscheidet. Die skandinavischen Länder haben durchgehend höhere Frauenerwerbsquoten als die Vergleichsländer. Außerdem wirkt sich die Zahl der Kinder, wenn überhaupt, so wesentlich geringer aus als in Österreich und Deutschland, aber auch in Großbritannien und den USA.

Frauenerwerbsquote
Ein Kind Zwei und mehr Kinder Einkommensdifferenz
Schweden 80,60% 81,80% 90%
Dänemark 88,10% 77,20% 93%
Österreich 75,60% 65,70% 80%
Deutschland 70,40% 56,30% 83%
Großbritannien 72,90% 62,30% 85%
USA 75,60% 64,70% 79%
Früher wieder zur Arbeit heißt höhere Einkommen

Höhere Fraueneinkommen

Diese höhere Präsenz und die besseren Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt wirken sich natürlich auch auf die Fraueneinkommen aus. Die rechte Spalte von Tabelle 2 zeigt das durchschnittliche Frauen-Vollzeiteinkommen im Vergleich zum durchschnittlichen Männer-Vollzeiteinkommen. In allen Ländern gibt es eine Differenz, nirgendwo ist sie aber so groß wie in den USA, gefolgt von Großbritannien, Österreich und Deutschland. Dies bedeutet aber auch, dass die besseren Erwerbsmöglichkeiten der Frauen auch massive Auswirkungen auf deren materielle Situation und damit auch der Familien hat. Womit wir bei der Frage der Armutsbekämpfung sind.

Armut
Armutsquoten Kinderarmut Armutspersistenz
Schweden 6,40% 3,00% 1,10%
Dänemark 5,00% 7,00% n.a.
Österreich 7,40% n.a n.a.
Deutschland 9,40% 11,00% 1,80%
Großbritannien 10,90% 18,00% 6,10%
USA 17,00% 22,00% 4,60%
Armut ist ein angelsächsisches Phänomen

Tabelle 3 (Armut) zeigt eindeutig, dass Armut ein angelsächsisches und insbesondere ein US-amerikanisches Phänomen ist. Der »konservative« Sozialstaat Deutschlands und Österreichs sowie noch mehr das skandinavische Modell sind tendenziell armutsverhindernd. Erschreckend ist vor allem die Kinderarmut in den USA: Obwohl sie eines der reichsten Länder der Welt sind, führt die hohe Einkommensungleichheit zu enorm hohen Kinderarmutsraten. Viele Autoren kommen zu dem einhelligen Schluss, dass dies an der mangelnden öffentlichen Unterstützung von Kinderbetreuungsangeboten liege, gleichzeitig gebe es zu wenig Unterstützung des Mutterschutzes, so dass Frauen mit kleinen Kindern aus der Erwerbstätigkeit hinausgedrängt und damit einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt werden.

Bildungsweltmeister Finnland

Die Bildungsperformance stellt den dritten Teil der Esping-Andersenschen These dar. Wenngleich es methodische Kritik gibt, bietet doch die PISA-Studie eine der besten Möglichkeiten des internationalen Vergleichs. In ihr wurden schulische Kompetenzen von 15-jährigen Schülern und Schülerinnen getestet. Tabelle 4 (Bildungsperformance) zeigt die Ergebnisse.

Bildungsperformance
...% erreichen Tertiärabschluss
Lesekompetenz (PISA) Männer Frauen Öffentl. Ausgaben für Bildung
Schweden 516 30,00% 34,00% 8,30%
Dänemark 497 24,00% 29,00% 8,10%
Österreich 507 17,00% 11,00% 5,40%
Deutschland 484 28,00% 18,00% 4,80%
Großbritannien 523 27,00% 25,00% 5,30%
USA 504 37,00% 37,00% 5,40%
Mehr Bildung brächte auch unseren Frauen mehr Wohlstand

Die skandinavischen Länder schneiden auch hier recht gut ab. Den besten Wert erreichte Finnland mit 546 Punkten, Norwegen hatte 505 Punkte, Dänemark ist ein Ausreißer nach unten. Österreich liegt mit 507 Punkten über dem OECD-Durchschnitt (500 Punkte), Deutschland liegt weit darunter, was dort zu massiven politischen Debatten geführt hat. Die angelsächsischen Länder mit einer starken Bildungstradition haben hingegen sehr gute Werte. Betrachtet man, wieviel Prozent einer Bevölkerungsgruppe einen Tertiärabschluss erreichen (also Universität oder Ähnliches), so liegen Österreich und Deutschland weit zurück, insbesondere, was die Frauen betrifft.

Staat schlägt Markt

Und schließlich sieht man noch, dass die skandinavischen Länder einen wesentlich höheren Anteil ihres BIPs in Bildung investieren als die anderen Länder. Esping-Andersen kann also auch hier recht gegeben werden: Die skandinavischen Länder können in ihrer Bildungsperformance es durchaus mit den traditionell bildungsstarken angelsächsischen Ländern aufnehmen.

Die Esping-Andersensche These scheint insgesamt somit bestätigt. Sie weist auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem skandinavischen und dem angelsächsischen Modell hin. Beide sind in einem wesentlich stärkeren Ausmaß als Österreich und Deutschland auf Bildung und damit auf zukunftsorientierte Sozialausgaben ausgerichtet. Bildung und Sozialstaat sind dabei in Skandinavien öffentliche bzw. staatliche Aufgaben. In den angelsächsischen Ländern agieren sie wesentlich marktnäher. Dies führt dazu, dass es zwar nicht sehr bedeutende Unterschiede in der materiellen Situation der Mittelschicht gibt, dass aber die wesentlichen Unterschiede an den Rändern zu finden sind (siehe Tabelle 5: Einkommensverteilung).

Einkommensverteilung
Einkommensanteil der untersten 10% Einkommensanteil der obersten 10% Reichste 10% zu ärmste 10% Gini-Koeffizient
Schweden 3,70% 20,10% 5,4 mal 25,0
Dänemark 3,60% 20,50% 5,7 mal 24,7
Österreich 4,40% 19,30% 4,4 mal 23,1
Deutschland 3,30% 23,70% 7,1 mal 30,0
Großbritannien 2,60% 27,30% 10,4 mal 36,1
USA 1,80% 30,50% 16,6 mal 40,8

Ein Maß für die Ausgeglichenheit der Einkommensverteilung zu messen, ist der so genannte Gini-Koeffizient: Je niedriger er ist, umso ausgeglichener ist die Verteilung. In der rechten Spalte der Tabelle sind seine Werte ausgewiesen. Und Sofort sieht man: Die Einkommen sind in den angelsächsischen Länder wesentlich ungleicher verteilt sind als in den skandinavischen Ländern. In diesem Vergleich hat Österreich (heute noch) eine sehr gute Position. Dies gilt auch, wenn man beachtet, welchen Anteil am Gesamteinkommen die untersten zehn Prozent erhalten und wie viel die obersten.

Während in Skandinavien, Deutschland und Österreich etwa ein Fünftel der Einkommen den obersten zehn Prozent zufließen, sind es in den USA über 30 Prozent. Anders gesagt: In Skandinavien verdienen die reichsten zehn Prozent fünf mal soviel wie die ärmsten zehn Prozent, in den USA fast 17-mal so viel.

Sozialstaat schafft Freiheit

In den angelsächsischen Ländern und insbesondere in den USA wird der Sozialstaat als Hemmschuh gesehen: Es gibt noch immer den Traum »Vom Tellerwäscher zum Millionär«, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied, und so fort. Daher wird dort eine gewisse Beweglichkeit in der Einkommenssituation durchaus begrüßt. Im Gegensatz dazu wirkt in Europa noch immer die in den 1970ern formulierte Beschreibung des Sozialstaates durch den Gesellschaftstheoretiker Richard Titmuss nach: Der Sozialstaat erhöhe die Freiheit des Einzelnen, denn er sichere einerseits gegen unwägbare Lebensrisiken ab, ermögliche aber andererseits auch Altruismus und Großzügigkeit gegenüber Fremden.

Die Meinungsumfragen zeigen auch stets: Die europäische Bevölkerung befürwortet nach wie vor einen starken Sozialstaat. Damit ist aber auch bereits die Antwort auf die eingangs gestellte Frage gegeben: Wenn die Einkommensverteilung nicht noch viel stärker auseinander gehen soll, wenn alle Gruppen einen gleich berechtigten Zugang zu Wohlstand und Sozialleistungen haben sollen, dann kann der Weg nur in Richtung skandinavisches Modell gehen. Noch steht Österreich im internationalen Vergleich ganz gut da, die Sozial-Investitionen in die Zukunft und insbesondere für Frauen müssen aber verstärkt werden.

Kein »Frauenanliegen«

Selbstverständlich ist so ein Umbau nicht von heute auf morgen machbar. Außerdem müssen unterschiedliche Traditionen und Mentalitäten berücksichtigt werden. Es wäre schlicht und einfach unmöglich, einer Gesellschaft, die ihre Wurzeln in Katholizismus, Föderalismus und Obrigkeitshörigkeit hat, ein System aufzupropfen, das auf Puritanismus, Zentralismus und Emanzipationsdenken beruht. Der Versuch, teilweise Modelle und Instrumente zum Teil zu übernehmen, wäre aber dringend notwendig.

Damit sind Reformen vor allem in zwei Bereichen gefragt, die zusammenhängen: in der Familien- und in der Bildungspolitik.

Wie die Analyse gezeigt hat, ist eine Ganztagesbetreuung von Kindern nicht vordergründig ein frauenpolitisches Anliegen (das gerne mit dem Vorurteil des »Abschiebens der Kinder« abqualifiziert wird), sondern vor allem ein bildungspolitisches Instrument. Die demografischen Herausforderungen der Zukunft werden leichter zu bewältigen sein, wenn die Masse der Beschäftigten gut qualifiziert ist. Breit angelegte vorschulische Erziehung und Förderung gehören ebenso dazu wie Ganztagsschulen.

Die familienpolitischen Leistungen müssen auch in diese Richtung unterstützend umgebaut werden. Leistbare öffentliche Kinderbetreuung statt Geldleistungen, die Mütter wie Kinder zu Hause halten. Und es müssen auch Tabus diskutiert werden. Ein Schwerpunkt auf der frühkindlichen und Pflichtschulbildung wirkt stärker sozial ausgleichend (sowohl was die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund betrifft als auch die Förderung bildungsferner Schichten) als der viel zu späte Ansatz des vorgeblich freien Hochschulzugangs.

Früher wieder arbeiten?

Die Unterstützung der Universitäten und die Förderung der Studierenden sind wichtig, sollten aber nicht Teil der Familienpolitik sein. Ebenso wird aber auch zu diskutieren sein, ob Leistungen wie das Kinderbetreuungsgeld nicht zeitlich gekürzt werden sollten und die Anstrengungen viel stärker in Richtung rascher Reintegration von Frauen in den Arbeitsmarkt gehen sollen. Dafür bedarf es aber auch massiver Überzeugungsarbeit bei allen Betroffenen.

Diese Überlegungen sind selbstverständlich noch keine fertigen politischen Positionen und sollten nur als persönliche Meinung der Autorin verstanden werden. Ohne Mut und visionäre Kraft wird es aber niemals gelingen, den Sozialstaat nachhaltig umzubauen. Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass Zuwarten und die Befürchtung, Bevölkerungsgruppen zu verschrecken, im Endeffekt nur zum Abbau des Sozialstaates führen.


R E S Ü M E E

Der Sozialstaat, wie wir ihn kannten, stößt an seine Grenzen. Er wird sich künftig an skandinavischen oder angelsächsischen Vorbildern ausrichten. Überzeugende Erfahrungen belegen die Überlegenheit des skandinavischen Modells. Kinderbetreuungseinrichtungen, zu denen alle und nicht nur die »Besserverdienenden« Zugang haben, sowie Investitionen in die Bildung verbessern nicht nur die Situation der Familien, verringern die Armut und führen zu mehr sozialer Gerechtigkeit.

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(C) AK und ÖGB

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