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Kinderarbeit | Nicht immer ein Skandal

GESELLSCHAFTSPOLITIK

Kinderarbeit ist in vielen Kulturen üblich und unentbehrlich für die Gesellschaft und für die Kinder.

Kinderarbeit sei immer und überall ein Skandal: Dieser weit verbreiteten Meinung war auch eine Berliner Journalistin, als im Mai 1998 auf Einladung der Kinderhilfsorganisation terre des hommes einige arbeitende Kinder aus Nicaragua Deutschland besuchten. Sie reagierte ratlos, als ihr eine Zwölfjährige auf die Suggestivfrage, sie würde doch wohl nicht mehr arbeiten, wenn ihre Mutter allein genug Geld heimbrächte, antwortete: »Wieso denn nicht? Selbst etwas zu verdienen macht mich stolz. Ich lerne mit Geld umzugehen. Es bringt mir Unabhängigkeit.« Übereinstimmend erklärten die Kinder aus Nicaragua, sie wollten sehr wohl arbeiten, aber eine menschenwürdige, respektierte Arbeit.

Recht auf Kinderarbeit?

Manfred Liebel erwähnt die Geschichte von der deutschen Journalistin in der Einleitung seines Buches »Kindheit und Arbeit - Wege zum besseren Verständnis arbeitender Kinder in verschiedenen Kulturen und Kontinenten«. Er lehrt an der Berliner Technischen Universität Soziologie mit dem Schwerpunkt Kindheits- und Jugendforschung. Nach sieben Jahren Erfahrung mit arbeitenden und auf der Straße lebenden Kindern in Lateinamerika und auch einigen Erfahrungen in Afrika stellt er die üblichen Ansichten über Kinderarbeit auf den Kopf. Oder, wie er selber meint: Vom Kopf auf die Füße.

Die Nobelpreisträgerin Rigoberta Mench berichtet in ihrer Autobiografie, dass sie schon mit fünf Jahren in den Plantagen half, wo ihre Eltern in der Erntezeit arbeiteten, und dass sie sich in Zeiten, in denen sie für ihre Mutter nichts tun konnte, als ihr Brüderchen zu hüten, nutzlos fühlte: »In dieser Zeit ist mein Bewusstsein erwacht. Ich wollte richtig arbeiten und Geld verdienen, um ihr eine größere Hilfe zu sein.« Mit acht Jahren verdiente die spätere Trägerin des Friedensnobelpreises in den Plantagen ihr erstes Geld. Obwohl sie sich »wie Vieh behandelt« fühlte, war sie stolz, dass sie jetzt "merklich zum Lebensunterhalt der Familie beisteuern" konnte, und fühlte sich "wie ein erwachsener Mensch.«

Praxis - die beste Schule

Liebels Botschaften lassen sich auf folgenden Nenner bringen: In vielen bäuerlichen Kulturen und bei vielen Hirtenvölkern wachsen die Kinder früh in ihre künftigen Tätigkeiten hinein. Die Praxis ist ihre beste Schule. Das entscheidende Prinzip dieser Erziehung ist Lernen durch Zuschauen und Nachmachen. Nicht Drohung und Strafe, sondern Lob und Bestätigung bilden den Ansporn. Viele Konflikte mit der »modernen« Schule sind auf die Missachtung dieses nonverbalen Wissenserwerbs zurückzuführen.

In den kapitalistisch durchökonomisierten Gesellschaften des Südens hingegen lernen die Kinder ebenso früh, dass selbst die Grundbedürfnisse ihren Preis haben. Lateinamerikanische Kinder in Interviews: »Wenn wir kein Geld verdienen, können wir unsere Zähne nicht in Ordnung halten und die Schule können wir auch vergessen.« Oder: »Wenn wir nicht arbeiten würden, blieben wir Analphabeten, müssten im Elend verkommen und vor Hunger sterben.«

Arbeit an sich ist für sie eine Selbstverständlichkeit und wird nicht als quälend oder entwürdigend empfunden. Ein richtig verstandenes Engagement für die Kinder des Südens tritt daher nicht für die unterschiedslose Abschaffung der Kinderarbeit ein, sondern für die Rechte arbeitender Kinder und gegen ihre Ausbeutung. Gefragt ist Unterstützung für die seit den Achtzigerjahren entstandenen Bewegungen und Organisationen arbeitender Kinder, in denen diese beweisen, dass sie in der Lage sind, sich zu artikulieren und ihre Interessen selbst zu vertreten.

Kinder organisieren sich

Alle diese Organisationen stimmen, so Liebel, darin überein, dass den arbeitenden Kindern nicht die Arbeit zu schaffen macht, sondern die Bedingungen, unter denen sie arbeiten müssen. Kaum ein arbeitendes Kind wolle sich »zurückversetzen lassen in ein arbeitsfernes Kindheitsreservat, in dem es nichts zählt und auf Gedeih und Verderb den Erwachsenen ausgeliefert ist.« Kaum ein arbeitendes Kind halte ein Verbot der Kinderarbeit für hilfreich. Wenn sie etwas von Gesetzen erwarten, dann besseren Schutz und mehr Mitsprache. Kinderorganisationen, denen vor allem Kinder von 12 bis 16 Jahren angehören, entstanden vor allem in Lateinamerika, Afrika und Indien, wobei die Initiative häufig von Erwachsenen ausging und humanitäre Organisationen Hilfestellung leisteten.

12 Rechte des Kindes

Diese Kinder, die ihre Angelegenheiten selbst in die Hand genommen haben, berufen sich auf die UN-Konvention über die Rechte des Kindes aus dem Jahr 1989, die aber im Hinblick auf die eigene Situation umformuliert und auch fallweise ergänzt werden. 1994 erarbeiteten die afrikanischen Kinderorganisationen gemeinsam die 12 Rechte des Kindes: Einen Beruf zu lernen, im Dorf zu bleiben, in vollkommener Sicherheit zu arbeiten, sich zu vergnügen und zu spielen, angehört zu werden, lesen und schreiben zu lernen, sich zu organisieren und eine Meinung zu äußern sowie das Recht auf eine faire Justiz, auf leichte und begrenzte Arbeit, auf Respekt sowie auf Gesundheitspflege und Krankenurlaub. In einer Erklärung der arbeitenden Kinder von Madagaskar aus dem Jahr 1996 werden drei Rechte gefordert: Frei zu arbeiten, ohne gejagt oder Opfer von Gewalt zu werden; frei zu leben und sich frei bewegen zu können; wie jeder andere Mensch behandelt zu werden.

Die lateinamerikanischen Kinderorganisationen legen besonderes Gewicht auf die Rechte, die ihre Partizipation an der Gesellschaft betreffen. Bei einem Treffen der Delegierten von Kinderorganisationen aus 14 lateinamerikanischen Ländern in Lima wurde 1997 betont, dass die Partizipationsrechte der Kinder in der Kinderrechtskonvention der UNO nicht genügen, weil sie in der Praxis nicht respektiert werden. In Lateinamerika und Afrika wird auch immer wieder ein Recht eingefordert, das in der UN-Konvention gar nicht vorkommt: Das Recht des Kindes, zu arbeiten.

Verbote nützen wenig

Die sich organisierenden arbeitenden Kinder verstehen sich mit größter Selbstverständlichkeit als juristische Subjekte, die ein Recht auf Erfüllung ihrer Ansprüche haben und dieses nicht dem Wohlwollen der Erwachsenen überlassen wollen, sondern die Verantwortung für ihre Angelegenheiten selbst übernehmen. Im »Abolitionismus«, der Forderung nach Verbot der Kinderarbeit, sehen sie dieses ihr eigenes Subjekt-Sein und ihre Menschenwürde verletzt. In einer Erklärung des Ersten Welttreffens der arbeitenden Kinder, das 1996 in Kundapur in Indien stattfand, hieß es: »Wir wollen Respekt und Sicherheit für uns und die Arbeit, die wir leisten«.

Manfred Liebel stellt das Problem der Kinderarbeit auf eine Weise dar, die nur Menschen unserer Breiten schockiert, die von den Ländern des Südens keine Ahnung und über die Siutation der Kinder der Dritten Welt nicht viel nachgedacht haben. Dabei ist auch in Europa und den USA eine massenhafte Wiederkehr der Kinderarbeit zu beobachten - die ebenfalls in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Mit Verboten ist ihr keinesfalls beizukommen. Bevor man die damit verbundenen Probleme löst, muss sie überhaupt erst einmal zur Kenntnis genommen, muss ihre ökonomische Bedeutung, aber auch ihre Bedeutung für die Entwicklung der Kinder verstanden werden.

In den Gesellschaften des Südens ist Kinderarbeit notwendig - für die Kinder selbst, aber auch für ihre Familien, die sonst oft nicht überleben könnten. In den meisten Ländern mit verbreiteter Kinderarbeit heißt die Alternative zur Arbeit als Schuhputzer, Lastenträger, Hirte oder Bote nicht daheim bleiben und lernen, sondern Kinderprostitution.

Daher wird die Arbeit nicht als Fron, sondern als Recht gesehen, jedoch als eine Sache, die gesetzlicher Regelungen bedarf, die auch eingehalten werden. Dies können die Kinder nur erreichen, wenn sie sich organisieren.

Das Kind ist kein Objekt

Manfred Liebel sieht die Arbeit der Kinder aber nicht nur als ökonomische Notwendigkeit, sondern untersucht das Phänomen auch theoretisch und interpretiert die Kinderarbeit als für die Länder des Südens charakteristische neue Formen der Resubjektivierung des Kindseins.

Im letzten Kapitel seines Buches untersucht er die Entstehung des Subjektbegriffes im Vorfeld der europäischen Aufklärung, der das Kind zum Objekt degradierte und auch philosophisch in eine Nischenexistenz verbannte. Im bürgerlichen Kindheitsprojekt sei das Kind »zum Entwicklungs-Objekt stilisiert« worden: »Aus kleinen Menschen, die offenkundig auf Zuneigung, Fürsorge und Versorgung angewiesen sind, werden ›unreife‹ Wesen, die erst für voll genommen werden, wenn sie ›entwickelt‹ sind« und bis dahin als Gegenstände ohne Rechte behandelt werden.

Wer Kinder als soziale Subjekte verstehen will, komme aber »um die Frage nach der Arbeit der Kinder und den Erfahrungen und Bedeutungen, die für die Kinder mit Arbeit verbunden sind, nicht herum.« Liebel zitiert die britischen Soziologen Allison James, Chris Jenks und Alan Prout, die Kritik daran üben, dass solche Fragen bisher kaum gestellt werden und darin einen »Teil der Unsichtbarmachung der Arbeit der Kinder - oder ihrer Sichtbarmachung nur als Problem« erblicken.

Langsames Hineinwachsen

Besonders wichtig und auch für jedermann interessant und lesenswert sind die Abschnitte über die frühe Einbeziehung der Kinder in die Arbeitsprozesse in vielen Gesellschaften. Darüber liegen mittlerweile zahllose Forschungen vor, die auch für die »modernen« Gesellschaften wertvoll sein könnten, aber viel zu wenig beachtet werden. Dabei fällt auf, in welch starkem Ausmaß das langsame Hineinwachsen in den Arbeitsprozess in vielen Dorfgesellschaften (beispielsweise indianischen) die Kreativität der Kinder fördert, die bei der in den westlichen Schulsystemen noch immer vorherrschenden passiven Aufnahme von Wissen oft auf der Strecke bleibt.

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