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Volkskrankheit Stress

HINTERGRUND

Moderne Arbeitswelt: Hamster im Laufrad. »Ich bin im Stress«, sagt Kollegin Helga und legt das Telefon auf. Ein Satz, der sich immer öfter bei ihr wiederholt. Gleichzeitig quillt ihre Ablage von unbearbeiteten Papieren über. Je größer ihr Stress, umso langsamer scheint sie zu werden. Und grantiger noch dazu. Chronischer Stress verhindert, das zu tun, was der Mensch gerne täte: gute Arbeit zu leisten. Gegen energieraubenden Stress ist aber ein Kraut gewachsen. Es liegt nicht nur in uns selbst, sondern vorwiegend im betrieblichen Umfeld.

Stress ist heute eines der meist verwendeten Wörter in der Arbeitswelt. »Stress als solcher ist nicht fühlbar«, schreibt Arbeits- und Betriebspsychologe Michael Lenert in seiner Broschüre »Stress in der Arbeitswelt: Entstehung, Ursachen und Abhilfen«, die von der AK Wien herausgegeben wurde (siehe Kasten): »Was wir erleben, sind bereits die Auswirkungen, wie Angst oder hoher Blutdruck.« Stress ist auch ein Prozess, der wieder rückgängig gemacht werden kann. Aber je länger die Stressfaktoren eingewirkt haben, umso länger auch der Aufwand, die Stress-Symptomatik zu lindern. In vielen Fällen können die stressbedingten Beeinträchtigungen der Gesundheit allerdings von Dauer sein, warnt Experte Lenert. Und: »Stress beruht immer auf einer Wechselwirkung zwischen äußeren Bedingungen und den persönlichen Fähigkeiten, damit umzugehen.« Stress entsteht , wenn die Anforderungen auf Dauer zu hoch sind und die Ressourcen zur Bewältigung dieser Anforderungen nicht ausreichen. Mit Unterstützung des Umfeldes können Stress verursachende Arbeitsbedingungen verändert werden. Viele Arbeitnehmer sehen aber nur mehr den Rückzug als Ausweg.

Sinnentleertes Laufrad

Seit Monaten kommt Elke Hartl*) mit »der Arbeit nicht nach«. Sie ist Krankenschwester an der geriatrischen Abteilung eines Landeskrankenhauses. Ihre Arbeit ist auf den ersten Blick die gleiche wie früher, nur mit zwei Kolleginnen weniger an der Station. »Mit den älteren Leuten reden, ihnen zuzuhören und sie ein bisschen aufzumuntern, das geht heute einfach nicht mehr«, sagt sie. »Das Wichtigste ist heute, dass sie ihre Medikamente bekommen, gewaschen sind und die Protokolle ordentlich ausgefüllt werden.« Elke hat das Gefühl, als liefe sie »wie ein Hamster im Laufrad«. Früher hat ihr die schwere Arbeit, die Patienten aus dem Bett zu heben, sie zu waschen und auch die »Drecksarbeit« zu erledigen, nichts ausgemacht. »Es hat immer Zeiten gegeben, wo ich das Gefühl hatte, dass meine Arbeit Sinn macht. Wenn eine alte Dame, die so apathisch war, dass sie sich füttern ließ, wieder selbst zu essen anfing, zum Beispiel. Heute bin ich so gestresst, dass ich kaum noch Geduld habe und aufpassen muss, die alten Leute nicht spüren zu lassen, dass sie mich nerven.« Vorerst hat Elke innerlich gekündigt und »macht die Arbeit mit den Patienten nur mechanisch. Vorgesetzte und Kollegen sind genauso im Stress, mehr Personal bekommen wir nicht. Wenn aus der neuen Stelle in einem Altersheim etwas wird, wo vielleicht noch das Gespräch zählt, bin ich hier weg.«

»Stress ist eine Fehlbeanspruchung«, schreibt die Arbeitspsychologin Martina Molnar in der (von ÖGB, BKA und der Wirtschaftskammer Österreich) herausgegebenen Broschüre »IMPULS: Betriebliche Analyse der Arbeitsbedingungen« (siehe Kasten). »Stress bedeutet, dass wir unter starkem psychischen Druck stehen, weil schwer zu erbringende Leistungen oder Verhaltensweisen von uns gefordert werden und wir dies nicht vermeiden können. Das beeinträchtigt auf Dauer unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit.«

Positiver Stress

Früher - als körperliche Arbeit im Vordergrund stand - galt Stress als Vorbereitung des Körpers auf Kampf oder Flucht, wenn Bedrohung anstand. Den Bildschirm mit Füßen zu treten, wenn der PC das Dokument schluckt, auf das der Chef wartet, wird zwar kurzfristig die bereitgestellte Energie freisetzen. Wahrscheinlich aber auch den Betroffenen aus dem Arbeitsverhältnis. René Möseler*), einer von vielen, den die EDV-Plage unserer Tage in dieser Art heimsuchte, stand zwar zwei Tage unter Stress, ist aber wieder guter Dinge und für weitere Herausforderungen gewappnet. Erst sprach er mit den Kollegen, dann mit dem Chef. In Überstunden wurde das Dokument neu erstellt. Von akutem Stress spricht hier die Medizin, wo das Hormon Adrenalin das Herz schneller schlagen lässt, der Puls steigt und die Zunahme roter Blutkörperchen den Sauerstoff im Blut erhöht. Eine positive Aktivierung, die aufhört, wenn »die Gefahr« vorüber ist.

Krankmachender Stress

Anders war der Fall bei Renate Weninger*), die sich durch die Umstellung der EDV überfordert fühlte, es sich aber nicht zu sagen traute. Unheimlich war es ihr, nicht genau zu wissen, was da am Bildschirm vor sich ging, während die Kollegen fröhlich hineinzutippen schienen. Die Produktion an Gedanken und Gefühlen in Renate war bei weitem größer als ihre Produktion von Statistiken und Tabellen. »Ich bin dumm«, war etwa ein Gedanke. »Das schaffe ich nie.« Vor der nächsten Teamsitzung wurde sie plötzlich krank. So erfuhr sie erst später, dass auch die Kollegen Probleme mit dem neuen System hatten. Renate Weninger litt an unbestimmten Ängsten, die zu Herzbeschwerden führten. Nach längerer Behandlung sitzt sie nun wieder - mit Medikamenten zur Lösung von Spannungs- und Angstzuständen versorgt - auf ihrem Arbeitsplatz. Das neue EDV-System beherrscht sie zwar, aber der Stress ist immer noch da. Von chronischem Stress spricht hier die Medizin, die den Organismus in Dauerspannung und ständiger Kampfbereitschaft hält. Dafür sorgt das Stresshormon Cortisol, das mit der Zeit Befinden und Gesundheit erheblich stört.

»Die häufigsten Stressoren sind Zeitdruck, zu viel Arbeit, zu wenig Handlungsspielraum, unbefriedigende Arbeitsaufgaben, häufige Arbeitsunterbrechungen, schlechte Zusammenarbeit mit Kollegen und Vorgesetzten oder geringe Möglichkeiten der Weiterentwicklung«, zählt die Arbeitspsychologin Martina Molnar einige der zahlreichen Stressfaktoren auf.

Stress hat kein Mascherl, betriebliche Faktoren mischen sich häufig mit privaten Problemen. Hans Maly*) ist Fernfahrer aus Leidenschaft. Er liebt das »Gefühl der Freiheit auf der Straße« und dass er sein »eigener Herr ist«. Beruf und Familie ließen sich bisher vereinbaren. Seit einiger Zeit fährt er aber nachts. »Mit dem Straßenverkehr am Tag wären sonst die Termine nicht einzuhalten. Meine Frau und die zwei Kinder sehe ich daher kaum und bin auch meistens zu müde, um etwas mit ihnen zu unternehmen.« Davon, dass er »sein eigener Herr ist«, spürt er zunehmend weniger. Dafür hat er Magenschmerzen, schläft schlecht und träumt, dass er nach rasanter Fahrt quer durch Österreich zu spät mit seiner Fracht ankommt.

Beziehungsfallen

Hermann Seyfried*), früher beliebter Kumpel in der Firma, mit dem man sich auch gerne in der Freizeit traf, gilt heute als Miesepeter. Er ist im Einkauf eines mittelständischen Betriebes tätig und seit kurzem ist sein Arbeitsplatz mit gelben Spickzetteln übersät. »Ich vergesse plötzlich alles«, klagt er. »Früher habe ich den Terminkalender fast im Kopf gehabt, heute weiß ich oft nicht, wo ich ihn wieder liegengelassen habe.« »Der Alzheimer hat wieder zugeschlagen«, necken ihn die Kollegen. Es sind aber keine Altererscheinungen, die den 52-Jährigen belasten. Vor einigen Monaten kam ein neuer Vorgesetzter, jung und dynamisch, der den Mitarbeitern die Aufgabe zu mehr Selbständigkeit und Hermann Seyfried die Pflicht zu detailliertester Berichterstattung auferlegte. Das Gedächtnis des Einkäufers wurde allmählich bedenklich träge. »Stressfolge: Burn-out«, kommentiert Michael Lenert, Experte der AK-Abteilung für Arbeitnehmerschutz und Arbeitsgestaltung, die Folge des etwas bizarren Arbeitsauftrages. »Es gibt Arbeitsaufträge, die nicht zu erfüllen sind. Viele Betroffene merken dies nicht oder zu spät.« Unmöglich zu bewältigen sind für Lenert die so genannten Beziehungsfallen in Aufgabenstellungen. Etwa das Paradox, einerseits mehr Selbständigkeit bei der Arbeit, andererseits genaueste Rechenschaft vor jedem Schritt zu verlangen. Das macht Stress.

Stress ist aber auch, freundlich sein zu müssen, wenn dies zum Kraftakt wird. Gerda Stiegel*) ist Kassiererin in einem jener Supermärkte, die seit neuestem mit einer großen Tafel Kunden mit mehreren Vorteilen locken. Punkt Eins: »Hier werden sie immer mit einem Lächeln bedient.« Die Dame am Foto lächelt entspannt den glücklich strahlenden Kunden an. Für bezahlte Fotomodelle wahrscheinlich kein Problem, Gerda hinter der Kassa grinst so gequält, dass es die Wartenden ans Herz rühren müsste. Starres Dauerlächeln. Wer weiß, ob dieser lästige Kunde, der auf die langsame Bedienung schimpft, nicht ein betriebsinternes Lächelkontrollorgan ist? »Der Stress an der Kassa war bisher auch kein Honiglecken«, sagt Gerda später am Nachhauseweg. »Wenn ich aber das Schild mit der Lächel-Pflicht sehe, komme ich mir verschaukelt vor. Zu Stoßzeiten habe ich oft solche Wut. Das Lachen ist mir auch in der Freizeit schon vergangen.« Gerda Stiegel hat zu rauchen begonnen und zur Entspannung nimmt sie sich »ab und zu ein paar Dosen Bier nach Hause«. Keine geeignete Methode jedenfalls, Ressourcen zu mobilisieren, um Stress zu bekämpfen.

Ressourcen gegen Stress

»Ressourcen sind die verfügbaren Möglichkeiten oder Hilfsmittel eines Menschen, Stressfaktoren zu verhindern, zu verändern, zu mildern oder auszugleichen«, heißt es in der erwähnten IMPULS-Broschüre. Mit der Broschüre automatisch mitgeliefert wird auch der IMPULS-Test, der zum Erkennen von Stressoren und Optimieren von Ressourcen im Betrieb beitragen soll. Auf jeden Fall, so wird geraten, ist vor der Durchführung des Tests im Betrieb das Einverständnis von Geschäftsleitung und die Unterstützung des Betriebsrates zu suchen. »Denn Stress ist ein sensibles Thema. Das Management befürchtet, dass sich daraus Vorwürfe gegen ihre Entscheidungen oder unerwünschte Veränderungen ableiten lassen. Die Beschäftigten haben Sorge, dass ihre Beurteilung gegen sie verwendet werden könnte«, schreiben die Verfasser. Sicherzustellen sei auf jeden Fall die Anonymität des Tests. Klar muss auch sein, dass der Test allein noch keine Vorgabe für Veränderungen ist. Die gilt es gemeinsam zu erarbeiten.

Denn Stress ist kein Einzelschicksal. »Mehr als 41 Millionen Arbeitnehmer in der EU sind von arbeitsbedingtem Stress betroffen, mehr als ein Viertel der österreichischen Werktätigen kämpft mit diesem Problem«, berichtet Arbeitspsychologin Martina Molnar. Stress betrifft weder allein Leute mit schwachen Nerven noch können Betroffene alleine etwas dagegen tun, zählt die Psychologin aus einer Liste der »verbreiteten Irrtümer über Stress« auf. »Arbeitsbedingter Stress entsteht aus den Arbeitsbedingungen. Er kann daher nicht verändert werden, indem man die Menschen, sondern indem man die Arbeitsbedingungen verändert.« Fernfahrer Hans Maly fühlt sich jetzt auf der Strasse und bei der Familie wieder etwas mehr daheim. Er weiß jetzt, dass nicht nur er unter Druck steht, die meisten seiner Kollegen leiden unter ähnlichen Beschwerden. Chef und Betriebsrat haben ein Anti-Stress-Programm vereinbart. Zuerst gab es Ratschläge vom Arbeitsmediziner, wie Nachtfahrer zu besserem Schlaf und gesünderem Essen kommen. Jetzt will der Chef sich selbst beraten lassen, wie die Fahrtzeiten der Mitarbeiter stressfreier gestaltet werden können.

*) Sämtliche Namen der Betroffenen wurden von der Redaktion geändert

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