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Indien: Männer arbeitslos, Frauen erfinderisch

INTERNATIONALES

Die Self Employed Women’s Association (SEWA) im Bundesstaat Gujarat reagierte auf den Niedergang der Textilindustrie mit völlig neuen Organisationsformen.

Dem Trend zu neuen Beschäftigungsverhältnissen passen sich Europas Gewerkschaften bisher kaum an. In Indien, wo informelle Arbeitsverhältnisse fast die Regel sind, ist man da flexibler. Die SEWA erfüllt Aufgaben, die weit über die einer gängigen Gewerkschaft hinausgehen. Sie unterhält eine eigene Bank und Versicherung, stieg in die Gesundheitsversorgung ein und errichtete ein Ausbildungszentrum für Funktionärinnen. Der ethnisch-religiöse Konflikt, der aus dem benachbarten Kaschmir nach Gujarat hereinschwappt, wird aus der Arbeit herausgehalten. »Arbeit&Wirschaft« bat Namrata Bali, die Geschäftsführerin dieser bemerkenswerten Organisation, zum Interview.

A&W: SEWA ist mit 30 Jahren nicht nur die älteste, sondern auch die größte Organisation dieser Art weltweit. Was sind nun die Gründe für diese Erfolgsgeschichte von SEWA?
Namrata Bali: SEWA ist eine sehr indische Bewegung. Sie begann in der Stadt Ahmedabad im Bundesstaat Gujarat, damals ein Zentrum der Textilindustrie. Doch Ende der 70er-Jahre schlitterte diese Branche in eine schwere Krise. Von den etwa 40 Textilfabriken vor 30 Jahren sind heute nur mehr sechs in Betrieb. SEWA reagierte auf diese Entwicklung mit großer Einfühlsamkeit. Wir erkannten den Unterschied in der Situation der Arbeiter in den Unternehmen und jenen im informellen Sektor oder in der Heimarbeit. Und unsere Stärke war und ist es eben, diese Armen zu organisieren, sie hinter gemeinsamen Interessen zu vereinigen. Das ist wohl auch die Erklärung für unseren Erfolg.

A&W: SEWA arbeitet ja in vielen Sektoren und mit verschiedensten Bevölkerungskreisen, am Land und in der Stadt. War diese Vielfalt von Anfang an angelegt oder hat sich das im Lauf der Zeit entwickelt?
NB: Wir begannen im urbanen Raum, und dementsprechend war unsere Klientel: Straßenverkäuferinnen, Marktfrauen, Textilarbeiterinnen, Trägerinnen. In den späten 70er-Jahren erlebte Gujarat eine schwere Dürre und viele Menschen wanderten in die Städte ab. Sie erzählten uns von ihren Familienangehörigen, die in den Dörfern zurückgeblieben waren und baten uns, unsere Arbeit auf die ländlichen Regionen auszuweiten. Heute ist nur mehr ein Drittel unserer Mitgliedschaft städtisch, die anderen zwei Drittel leben auf dem Land. Viele unserer Mitglieder sind Heimarbeiterinnen, denn Fabriken und Industrien sperren zu, und die Arbeiterinnen arbeiten nun zu Hause weiter. Die Wohnung wird zum Arbeitsplatz. Für die Auftraggeber ist das ein großer Vorteil, denn sie ersparen sich alle Nebenkosten. Die von SEWA organisierten Heimarbeiterinnen üben 74 verschiedene Tätigkeiten aus.

A&W: Was ist der Grund für den Niedergang der Textilfabriken?
NB: Die Regierung begann, Baumwolle und Technologie für die Textilverarbeitung zu importieren. Dadurch stiegen die operativen Kosten in der Textilindustrie stark an und die Unternehmen konnten im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten.

Trotzdem werden kaum weniger Textilien produziert, nur eben in viel kleineren Einheiten, also in Sweatshops oder in den Wohnungen. Von den männlichen Arbeitern sind die meisten arbeitslos geworden, während die Frauen sich im informellen Sektor als Putzerinnen, Straßenverkäuferinnen oder eben als Heimarbeiterinnen verdingen.

A&W: Eure Arbeit geht weit über die traditionelle Gewerkschaftsarbeit hinaus.
NB: Jede Gewerkschaft hat die Verantwortung, sich um die Sicherheit ihrer Mitglieder zu kümmern. In Indien haben wir kein allgemeines Sozialversicherungssystem, und so fällt es unter die Verantwortung der Gewerkschaft, für die soziale Sicherheit der Mitglieder zu sorgen. Und besonders, wenn die Mitglieder aus dem informellen Sektor stammen, die ja überhaupt keine Versicherung und staatliche Fürsorge genießen. So ist unser Ziel ganz klar: ein gewisses Maß sozialer Wohlfahrt für alle unsere Mitglieder. Das heißt, sie sollen das ganze Jahr hindurch Arbeit haben, ein Dach über dem Kopf, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung und irgendwelche Produktionsmittel.

Ein anderes Ziel ist Vollbeschäftigung und Selbstvertrauen. Damit meinen wir nicht nur ökonomische Unabhängigkeit, sondern auch ein neues Selbstwertgefühl gegenüber der männlich dominierten Umwelt, sodass Frauen individuell und kollektiv Führungspositionen einnehmen können. Mit der fachlichen Ausbildung unserer Mitglieder fördern wir auch deren Selbstvertrauen und Selbstsicherheit.

A&W: Wie kam es zur Gründung der SEWA Bank?
NB: In den 70er-Jahren baten uns staatliche Banken, ihnen bei der Kreditvergabe an die Armen zu helfen. Sie hatten ja zu denen keinen Zugang. Bei einer Mitgliederversammlung, zu der 6000 Frauen kamen, hatte eine der Frauen die Idee, eine eigene Bank gründen. Doch dafür brauchte man 100.000 Rupien Startkapital, das war eine Riesensumme für uns. So begannen wir eine Sammelaktion, gingen von Tür zu Tür, und in sechs Monaten hatten wir das Geld beisammen. Doch als wir die Bank als Genossenschaft anmelden wollten, sagte man uns: Ihr könnt keine Bank gründen, ihr seid arm und Analphabeten. Wie wollt ihr in einer Bank arbeiten, wenn ihr nicht einmal lesen könnt? Ihr geht sofort bankrott. Aber schließlich gelang es uns, alle Schwierigkeiten zu überwinden, und wir wurden als Bank registriert. Heute haben wir über 300.000 Mitglieder, alles Frauen, die zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebenssituation bei der Bank einen Kredit aufnehmen können.

A&W: Erhalten Sie auch von staatlichen Stellen Unterstützung für Ihre Arbeit?
NB: Ja, für verschiedene Programme, zum Beispiel in der Wasserversorgung ländlicher Gebiete.

Das Wasserholen ist ja normalerweise ein Frauenjob, oft müssen die Frauen vier bis fünf Kilometer weit gehen, um einen Eimer Wasser zu holen. Wir ermutigen und befähigen sie nun, alte Techniken des Wassersammelns, auch des Regenwassers, wieder zu beleben. Im städtischen Raum arbeiten wir mit Gemeindeverwaltungen zusammen, um für die armen Familien in den Slums sieben Grundbedürfnisse zu erfüllen, darunter Wasserversorgung, Kanalisierung, Strom, WC. Wir erhalten für unsere Programme auch aus dem Ausland Unterstützung.

A&W: Gibt es SEWA nur im Bundesstaat Gujarat?
NB: Es gibt in Indien sechs SEWAs in verschiedenen Staaten, aber das sind alles unabhängige, autonome Organisationen. Unser verbindendes Element ist die gemeinsame Ideologie, die gleichen Prinzipien und das selbe Ziel: für die Frauen im informellen Sektor zu arbeiten. Wir haben eine Dachorganisation gebildet, die wir SEWA India nennen.

Wir breiten uns auch international aus. In Südafrika haben wir bereits eine Organisation für Heimarbeiterinnen gebildet, die SEWU, und nun wird gerade in Istanbul eine ähnliche Einrichtung aufgebaut. In unser Ausbildungszentrum, die SEWA-Akademie, kommen jährlich zahlreiche Gruppen aus anderen Ländern, um sich unsere Arbeit anzuschauen und Ideen für die eigenen Organisationen zu holen.

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