topimage
Arbeit&Wirtschaft
Arbeit & Wirtschaft
Arbeit&Wirtschaft - das magazin!
Blog
Facebook
Twitter
Suche
Abonnement
http://www.arbeiterkammer.at/
http://www.oegb.at/
Entwicklung der Aktienindizes
New York Standard & Poors 500

Börsenkapitalismus à la USA und seine Folgen

HINTERGRUND

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich von den USA ausgehend eine Stimmung verbreitet, die dem Finanzsystem die Schlüsselrolle für das Wachstum der Wirtschaft zuschreibt. Demnach liegt vor allem der ständigen Steigerung der Gewinne und der Börsenkurse eine Leistungssteigerung der Wirtschaft zugrunde. Diese Stimmung steht im Gegensatz zur These, dass wirtschaftliches Wachstum durch die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität bedingt ist; also durch technischen Fortschritt bei Mensch und Maschine, durch bessere Qualifikation der Arbeitskräfte, durch steigende Skalenerträge, durch Realisierung von Netzwerkeffekten, durch Erfindung neuer Werkstoffe etc. Eine von der AK in Auftrag gegebene WIFO-Studie entkräftet die aktive Schlüsselrolle der Börsen im wirtschaftlichen Wachstumsprozess: Aktienmarktdominierte Volkswirtschaften weisen keine bessere gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf als Volkswirtschaften, in denen die Bankfinanzierung der Unternehmen die größere Bedeutung hat. Skepsis gegenüber dem Finanzkapitalismus ist in jedem Fall angebracht!

Die realwirtschaftliche Sichtweise erklärt wirtschaftliches Wachstum durch erhöhten Einsatz der Ressourcen Arbeit und Kapital, primär aber durch die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität. Diese wiederum wird auf den technischen Fortschritt bei Maschinen und Anlagen, auf eine Verbesserung der Qualifikationen der Arbeitskräfte, auf steigende Skalenerträge, auf die Realisierung von Netzwerkeffekten, auf die Erfindung neuer Materialien usw. zurückgeführt. Der Finanzierung kommt in dieser Sicht eine dienende Funktion zu, sie steuert die Ressourcenallokation über die Lenkung der Finanzmittel zu den gewinnträchtigsten Verwendungen. Ein schlechtes Finanzsystem ist ein Hindernis für die volle Ausschöpfung des Potentials der Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität.

Euphorie der »New Economy«

In den letzten zwei Jahrzehnten machte sich jedoch zunehmend eine Stimmung breit, welche dem Finanzsystem die Schlüsselrolle im Wachstumsprozess zuschrieb. Ausgegangen ist und weitgehend getragen wurde diese Welle von der Entwicklung in den USA. Die faktische Parallelität von steigenden Börsenkursen und einer außergewöhnlich lang dauernden und im Vergleich zu Europa deutlich stärkeren Expansion der Produktion verleitete einen wachsenden Teil der öffentlichen Meinung, der politischen Entscheidungsträger in so gut wie allen Parteien und auch in breiteren Kreisen der Bevölkerung zu der Ansicht, dass es die ständige Steigerung der Gewinne und Börsenkurse ist, welche der Leistungssteigerung der Wirtschaft zugrunde liegt. Daher sei ein Höchstmaß an Anreizen zur Erzielung von Gewinnen und Wertsteigerungen und eine Gestaltung des Rechnungswesens der Kapitalgesellschaften, welche solche Steigerungen möglichst voll und vor allem schnell durchschlagen lässt, Schlüssel zu dauernder Prosperität. Es entwickelte sich eine Euphorie der »New Economy«, in welcher die Verbindung von neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und Börsenkapitalismus ein Wachstum ohne Rezession (»Ende des Konjunkturzyklus«), kontinuierlich steigende Einkommen und Vermögen bringen würde.

Ernüchterung und Suche nach neuen Regulierungen

Die These von der aktiven Schlüsselrolle der Börsen im Wachstumsprozess wurde inzwischen durch eine im Auftrag der AK erstellte Studie des WIFO1) widerlegt. Aktienmarktdominierte Volkswirtschaften weisen keine bessere gesamtwirtschaftliche Entwicklung auf als Volkswirtschaften, in denen die Bankfinanzierung der Unternehmungen die größere Bedeutung hat. Zusätzlich erbrachte diese Studie Hinweise darauf, dass die heftigeren Schwankungen der Aktienmärkte sich auch auf die Investitions- und Sparpläne der Unternehmen und Haushalte übertragen und so zu stärkeren Schwankungen der Realwirtschaft führen.

Vor allem aber hat der Absturz der Börsen zu einer allgemeinen Ernüchterung geführt. Es lohnt sich aus mehreren Gründen, die Fehlfunktionen konkret aufzuzeigen und zu analysieren: Weil trotz der eingetretenen Ernüchterung sich eine bewundernde Haltung gegenüber dem Finanzkapitalismus à la USA hartnäckig behaupten kann und in finanzkapitalistischen »Nachzüglerländern« wie Österreich immer noch Maßnahmen in die falsche Richtung getroffen oder gefordert sind. Aber auch, weil das Kind nicht mit dem Bad ausgeschüttet werden soll, das heißt, aus spezifischen Formen des Versagens der Finanzmärkte nicht deren »Abschaffung« gefolgert werden kann, sondern alternative Formen der Regulierung (wieder-)gefunden werden müssen, die mit den problematischen Eigenschaften dieser Märkte besser zurechtkommen.

Stock Options-Programme

Geradezu als Wundermittel zur Motivation des Top- und des mittleren Managements wurden bis vor kurzem so genannten »Stock Options-Programme« angepriesen. Die Begünstigten dieser Programme erhalten zusätzlich zu ihrem festen Gehalt das Recht, zu einem definierten Zeitpunkt Aktien zu einem bei Einräumung des Optionsrechts festgesetzten Preis zu erwerben. Der Anreiz für das Management besteht darin, die Performance der Gesellschaft zu steigern und so die Aktienkurse zu erhöhen, und über die Ausnutzung der Option am Wertzuwachs selbst spürbar mitzuverdienen. Ein besonderes Zuckerl kann noch darin bestehen, dass - wie in Österreich - ein Teil des Kursgewinns nicht der Einkommensteuer unterliegt oder mit einem niedrigeren Satz besteuert wird. Die angeblich so großartige Wirkung der Optionen hat in den neunziger Jahren zu einer rasant steigenden Anwendung dieser Entlohnungsform geführt, sodass in den USA cirka ein Drittel der höher qualifizierten Angestellten einen Teil ihres Entgelts in Form von Stock options erhielten.

Katastrophal und obszön

Die Beliebtheit der Stock Options-Programme beruht einerseits darauf, dass sie den Vorständen die Möglichkeit zu für europäische Verhältnisse sagenhaft hohen Einkommen eröffnet haben, und andrerseits die Gesellschaften selber nichts kosteten, weil sie über die Ausgabe neuer Aktien finanziert wurden, die zu Lasten der Anleger ging.

Heute erkennt man die Wirkungen dieser Programme als katastrophal, wozu unter anderem folgende Fakten beigetragen haben. Die Höhe der Optionen wird zunehmend als »obszön« kritisiert: Es gibt in der Zeit der Börsenhausse viele Beispiele für in die Hunderte Millionen US-Dollar gehende Zusatzeinkommen von Spitzenmanagern, welche durch die Nutzung von Optionen erzielt wurden. Der frühere CEO (Vorstandsvorsitzende) der berüchtigten Firma Enron, Kenneth Lay, erzielte durch gefälschte Rechnungsabschlüsse, die noch hohe Gewinne auswiesen, obwohl die Gesellschaft tatsächlich schon bankrott war, allein durch Ausübung seiner Stock options 123 Million US$; alle Enron-Manager zusammen erzielten aus Stock options, Provisionen und anderen Vergütungen mehr als 1 Milliarde US$. Noch mehr als die Enron-Manager haben die Spitzenmanager des ebenfalls bankrotten Telekomunternehmens Global Crossing durch Bilanzfälschung für sich herausgeholt, nämlich 1,3 Milliarden US$. Dies sind nur einige der unverschämtesten aus einer Unzahl von Beispielen.

Kursmanipulation, Bilanzfälschung und Betrug

Seit der Trendumkehr der Börsenkurse werden Stock options immer häufiger neu bewertet, damit die Begünstigten auch bei tieferen Börsenkursen noch einen Verkaufsgewinn erzielen können. In diesem Fall kann von einer Anreizwirkung keine Rede mehr sein, da die Latte für den Erfolg im Nachhinein tiefer gelegt wird.

Die eindeutig nachweisbare Wirkung der Einräumung von Stock options ist die Verleitung von Spitzenmanagern zu Kursmanipulation, Bilanzfälschung und Betrug. Seit dem Platzen des Enron-Skandals werden diesbezüglich fast täglich neue, schockierende Tatsachen bekannt:

Die Veröffentlichung von manipulierten Umsatzzuwächsen, das kurzfristige Wechseln zwischen verschiedenen Gewinnermittlungsarten je nach Vorteilhaftigkeit, und andere Praktiken, entweder legal, am Rande oder schon etwas jenseits der Legalität, wurden gezielt zur Kursmanipulation eingesetzt, um aus den Stock options möglichst hohe Einkommen zu erzielen.

Kaum mehr als Ausnahme, sondern als systemimmanente Erscheinung müssen nach der großen und ständig wachsenden Zahl der bekannt werdenden Fälle Fälschung und Betrug gesehen werden.

Wenn die Beträge illegaler Bereicherung Einzelner schon hoch genug erscheinen, so steht ihnen ein Vielfaches an Verlusten auf Seiten der Aktieninhaber gegenüber, wovon ein nicht geringer Teil auf Anlagen zur Sicherung der Altersversorgung entfällt. Die Mitarbeiter von Enron und zahllosen anderen Unternehmungen verloren zig Milliarden $, weil sie den Ankündigungen und Aussagen ihrer Manager vertrauten und ihre betrieblichen Pensionsvorsorgen einseitig in Aktien der eigenen Firma investierten - gegen alle Vernunft, aber gesetzlich in den USA möglich.

Die maßlosen Anreize der Geldgier haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Diese Wirkung liegt allerdings nicht dort, wo sie die Apologeten des extremen Finanzkapitalismus behauptet haben, sondern in fragwürdiger bis betrügerischer Bereicherung einerseits und Milliardenverlusten andrerseits.

Das Sonderbarste an den Stock options ist aber ein Aspekt, der sonderbarerweise erst jetzt kritisch gesehen zu werden beginnt: Dieses Instrument räumt den US-Gesellschaften eigentlich das Recht zur Geldschöpfung, also zur Schaffung finanzieller Ressourcen aus dem Nichts ein. Der typische Vorgang besteht darin, dass aus dem genehmigten, aber noch nicht zur Zeichnung gegebenen Kapital einer Gesellschaft von der Gesellschaft selbst den Begünstigten Aktien zu einem niedrigeren als zum Börsenkurs überlassen werden. Bei den hohen Volumina der Optionsrechte bedeutet dies eine durchaus fühlbare »Verwässerung« der anderen Aktieninhaber. Diese haben den finanziellen Nachteil.

Was sind Gewinne?

Die Vorschriften für die Rechnungslegung werden in den USA nicht vom Gesetzgeber erlassen, sondern von dem aus Experten der Wirtschaftsprüfung bestehenden »Financial Accounting Standards Board« festgelegt und weiterentwickelt. Diese Vorschriften (»US-GAAP«) unterscheiden sich von den europäischen (IAS) durch ihren Kasuismus, inhaltlich vor allem dadurch, dass sie eine besonders rasche Ausweisung von Gewinnen gestatten. Aber damit nicht genug, waren die amerikanischen Gesellschaften in den neunziger Jahren sehr erfinderisch, wenn es darum ging, das schnelle Geld noch schneller darzustellen.

Ein beliebtes Instrument zur Manipulation waren die vor allem in den USA üblichen so genannten »pro forma-statements« der operativen Ergebnisse. Ursprünglich für interne Zwecke vor allem bei Fusionen erstellt, wurden solche Pro-forma-Bilanzen immer häufiger veröffentlicht, wobei »störende Einflüsse« z. B. resultierend aus Fusionen, Aufwendungen für gerichtliche Vergleiche etc. fortgelassen wurden, um ohne diese Einflüsse ein möglichst rosiges Bild der Ertragslage zu zeichnen. Nach einer Untersuchung der US-Beratungsfirma Smart Stock Investor.com haben in den ersten drei Quartalen 2001 die Top 100 des NASDAQ-Index in pro-forma-statements zusammen 19 Milliarden
US$ Gewinn »bekannt gegeben«, während die Gewinnermittlung nach US-GAAP für denselben Zeitraum einen aggregierten Verlust von 82 Milliarden US$ ergab2).

Freche Manipulationen

Ein Vorschlag des Finanzdienstleistungsunternehmens S&P, bei der Darstellung der nicht offiziellen operativen Erträge gewisse Formen von extremer Manipulation auszuschließen, ist unter den Analysten und Investmentstrategen auf vehemente Ablehnung gestoßen. Diese Kreise wollen sich ihr Spielmaterial für das Zusammenbrauen von »Stories« und das Vorspiegeln von großen Gewinnaussichten einfach nicht nehmen lassen. »Die Wall Street will sich nicht arm rechnen«3), kommentierte die FAZ diese Diskussion.

Ein Beispiel besonders frecher Manipulation sind die so genannten »Rückfahrkarten«-Geschäfte (Hin- und Zurückverkäufe) in der Stromhandelsbranche, so etwa wurde z. B. von der Firma CMS Energy in einem Zeitraum von 18 Monaten ein »Umsatz« von 4,4 Milliarden US$ erzielt. Kurioserweise ist diese spezielle Art von Luftumsätzen in den USA nicht einmal illegal, obwohl sie ganz klar die Täuschung der Anleger zum Zweck hat. Ohne dass dies die Täuschungsmanöver entschuldigen kann, ist es sehr wahrscheinlich, dass aggressive Schwindler mit ihren getürkten Umsatzzuwächsen andere Unternehmungen unter Druck brachten. In der Endphase der Börsenhausse konnte man sich fragwürdigen Praktiken möglicherweise schwer entziehen, da es darum ging, wenigsten halbwegs im allgemeinen Erfolgsrausch mithalten zu können.

Von Anfang an als simpler Betrug sind jene Bilanzfälschungen zu sehen, welche dem Skandal um WorldCom, das zweitgrößte Long-distance-Telekomunternehmen der USA, zugrunde liegen. Mit einem Unternehmenswert zum höchsten Börsenkurs im Juni 1999 von 115 Milliarden US$ übertrifft dieser Konkursfall den Fall Enron (63 Milliarden US$) noch um einiges. In der Hauptsache besteht die Bilanzfälschung darin, dass verschiedene Betriebskosten wie Aufwendungen für laufenden Betrieb und Reparatur des Netzes als Kapitalinvestitionen verbucht wurden.

Enron: Simpler Betrug

Das Vorziehen zukünftiger, oft gar nicht gesicherter Erträge in die Gegenwart wurde als großartige Innovation der New Economy angesehen - die »bösen Überraschungen« ließen allerdings nicht lange auf sich warten. Die in den neunziger Jahren rasch wachsenden Umsätze von Enron bestanden überwiegend darin, dass Enron für einen in der Zukunft liegenden Zeitraum für einen fixierten Preis die Lieferung von Strom, Erdgas oder die Bereitstellung von Leitungskapazitäten in Glasfaserkabeln zusagte, wobei sich die Firma wiederum durch entsprechende Verträge bei Stromerzeugern absicherte. Der abgezinste Gewinn aus diesem Geschäft wurde in die Erfolgsrechnung eingestellt. Begünstigt wurde (und wird immer noch) die enorme Ausweitung dieser Handelsaktivitäten durch die drastische Lockerung der gesetzlichen Bestimmungen, sodass aggressive Unternehmungen wie Enron sich wie »auf freier Wildbahn« bewegen konnten. Höhere Gewinne aus solchen Umsätzen erhöhten den Börsenkurs der Aktien des Unternehmens, womit auch eine gewisse Erhöhung der Gewinnausschüttung einhergeht. Da aber die tatsächlichen Geldflüsse noch mehr oder weniger weit in der Zukunft lagen, mussten die Ausschüttungen kreditfinanziert werden. Es entstand ein Liquiditätsengpass, welcher einige Jahre lang vertuscht wurde. Die Methoden, die dabei angewendet wurden, mündeten schließlich bei Enron in ganz simplen Betrug.

Publizität, Wirtschaftsprüfung, Rating

Die US-amerikanische Sichtweise der Finanzmärkte bzw. der Börse setzt in einem sehr hohen Ausmaß auf die Kontrollwirkung von Seiten privater Interessen: auf Publizität, Kontrolle durch unabhängige private Wirtschaftsprüfer und formalisierte öffentlich gemachte Einstufung durch private Institutionen, genannte Rating-Agenturen.

Insbesondere im Vergleich zu den diesbezüglichen europäischen Vorschriften sind die Publizitäts-, Melde- und Prospektanforderungen für die Notierung an US-Börsen erheblich umfangreicher und strenger. Die Orientierung am amerikanischen Modell in diesem Teilbereich würde für Europas Finanzmärkte keine Nachteile, sondern durch erhöhte Transparenz Vorteile für die Anleger bringen. Die Wirksamkeit von Publizitätsvorschriften zur Verhinderung von Missbrauch, Manipulation, Fälschung und Betrug darf allerdings nicht überschätzt werden. Was haben die maximalen Offenlegungsvorschriften bei Stock Options-Programmen genutzt, Manipulationen hintanzuhalten? Wo war die Kritik, wo sind die Korrekturmechanismen, als die Erfolgsmaßstäbe definiert und nach unten umdefiniert wurden und auch heute noch umdefiniert werden?

In einer Untersuchung des Finanzdienstleisters Bloomberg wurde festgestellt, dass mehr als die Hälfte der zwischen 1996 und 2001 in den USA bankrott gegangenen börsenotierten Gesellschaften zuvor vom Wirtschaftsprüfer einen Bestätigungsvermerk ohne Einschränkung erhalten hatten (»clean audit«)4) - eine Bestätigung dafür, dass die Wirtschaftsprüfer ängstlich alles vermeiden, was zum Verlust des Kunden führen kann.

Besonders zweifelhaft erscheint nach den jüngsten Entdeckungen die Funktion des Ratings bzw. der Ratingagenturen. Das Versagen dieses Verfahrens im Fall Enron ist eklatant und in höchstem Maße blamabel. Denn der Sinn des Ratings ist es, dass für Anleger mit geringerem Informationsstand Ratingfirmen durch spezielles Analyse-Know-how und auch durch Einsicht in nicht allgemein zugängliche Unternehmensdaten die Bonität bzw. das Ausfallsrisiko einer genauen Überprüfung unterziehen.

Für viele Unternehmungen mit hoher Bonität bringt die Prozedur den Anlegern kaum einen wirklichen Informationsgewinn, während im Fall Enron das Rating kläglich versagt hat - die Agenturen ließen sich viel zu lange Zeit mit der warnenden Abstufung. Das heißt, dass man das Rating eigentlich nicht braucht, wo es verlässlich ist und dort, wo man es brauchen würde, hat es geringen Wert oder ist schlicht falsch. Auf der Verantwortungs- und Haftungsseite steht dem enormen Gewicht der Ratingagenturen bisher nichts gegenüber. Es ist kein Fall bekannt, dass für falsche Ratings Schadenersatz geltend gemacht worden wäre. Man könnte diese Institutionen pointiert quasi als Schlussstein des »Systems der organisierten Verantwortungslosigkeit« bezeichnen. Grund genug, die Institution als solche in Frage zu stellen und für den europäischen Finanzmarkt nach Alternativen zu suchen, bevor uns diese Seuche völlig überrennt.

Zur Rolle von Analysten und Investmentbanken

»Kaufempfehlungen sind Verkaufssignale« lautete kürzlich eine Schlagzeile der Financial Times Deutschland. Diese stellte die Aktientipps von 17 europäischen Finanzhäusern der tatsächlichen Entwicklung nach drei Monaten gegenüber, wobei sich zeigt, dass im Durchschnitt aller Empfehlungen die Kurse der zum Kauf empfohlenen Titel sich schlechter entwickelten als jene mit Verkaufsempfehlungen.5)

Seit der großen Wende der Börsenkursbewegung wird die Branche der Aktienanalytiker immer heftiger kritisiert. Der Hartnäckigkeit des Justizministers des Staates New York, Eliot Spitzer, ist es zu verdanken, dass an einem durchaus gewichtigen Einzelfall nachgewiesen werden konnte, mit welcher Kaltschnäuzigkeit Empfehlungen wider besseren Wissens erteilt worden sind, und zwar von der Investmentbank Merrill Lynch. Es gelang der Untersuchungsbehörde, interne E-Mails von Analysten als Beweismaterial sicherzustellen, in welchen Aktien sehr schlecht beurteilt wurden (»Schrott«, »Pulverfass«), die von der Bank zum Kauf empfohlen wurden. Wenn »anständig« verdient werden soll, muss die Kauflust angeregt werden, wofür eben dann entsprechende Empfehlungen zu sorgen haben.

Deutschland imitiert den US-Börsenkapitalismus

Weil das für eine der weltweit führenden Wirtschaftsnationen zum Renommee gehört, und vielleicht auch in der Hoffnung, damit einen Beitrag zur Behebung der Wachstumsschwäche zu leisten, wurden in Deutschland in den letzten Jahren einige spektakuläre Maßnahmen zur Anregung von Aktienhandel und Börsenspekulation gesetzt, z. B. die Privatisierung von 57% der Deutschen Telekom ab 1996 unter dem Titel »Volksaktie«, sowie steuerpolitische Maßnahmen, hier besonders die von der rotgrünen Regierung eingeführte Steuerfreiheit von Veräußerungsgewinnen aus Beteiligungsverkauf.

Damit sollte der Abbau von strategischem Beteiligungsbesitz von Banken, Versicherungen, Finanzinstitutionen, auch Nichtfinanzunternehmungen forciert werden. Der Aktienbesitz sollte mehr in Portefeuilleinvestitionen bestehen, naturgemäß mit wesentlich stärkerer spekulativer Orientierung. Die versprochene wachstumsbelebende Wirkung dieser Maßnahme steht in den Sternen, bereits sichtbar ist schon jetzt ein massiver Ausfall an Einnahmen aus der Körperschaftsteuer.

Der bislang unverschämteste Betrugsfall war wohl jener der Nürnberger Firma Comroad, angeblich führender Anbieter von Telematik-Netzwerken. Von dessen angeblich so rasanten Umsatzzuwächsen stellte sich bald heraus, dass von gemeldeten 93,5 Millionen e Umsatz ganze 1,3 Millionen e echt waren, der Rest »Luft«, das heißt Scheintransaktionen mit einem inexistenten Hongkonger Elektronikunternehmen. Durch solche Umsatzmeldungen hatte der Börsenkurs einen Höchststand von fast 65 e erreicht - man darf annehmen, dass bei günstigem Wind die Gründer-Eigentümer kräftig verkauft haben.

Schlussfolgerungen für ein europäisches Modell der Finanzmarktregulierung und der Corporate Governance:

Man sollte meinen, dass angesichts dieser massiven Evidenz die staunende Bewunderung gegenüber dem amerikanischen Finanzmarktmodell verflogen ist - dies trifft aber keineswegs zu. Noch immer wird versucht, mit den abgewirtschafteten »Analysemethoden« neue »Rallyes« zu erzeugen und euphorische Erwartungen wieder zu beleben, werden von der Politik neue »Kapitalmarktoffensiven« angekündigt, wird an diskreditierten Instrumenten festgehalten.

Langfristige Erfolgsmaßstäbe

Dies gilt in den USA vor allem für die Stock options, gegen die neuerdings massivste Kritik auch aus Kreisen wie dem »Wall Street Journal« geäußert wird, welche gegen extreme Bereicherungsformen an sich keine Bedenken haben. Aufgrund der Erfahrungen gibt es hier eigentlich nur eine Konsequenz: Hände weg von diesem Instrument. In Europa und in Österreich, wo die Gagen noch nicht so exzessiv und Stock Options-Programme noch weniger verbreitet sind, sollte dieses Instrument nicht weiter forciert, sondern zurückgenommen und die Steuerbegünstigung abgeschafft werden. Vor allem sollten Entlohnungsformen für Manager entwickelt werden, welche nicht an kurzfristigen Erfolgsmaßstäben anknüpfen, sondern das Interesse der Manager an einer mittel- und langfristig guten Performance ihrer Gesellschaft stärken.

Was Publizitätspflichten als solche anlangt, so kann Europa in dieser Hinsicht sicherlich noch von den USA lernen. Die Einhaltung sollte jedenfalls viel stärker als derzeit von Amts wegen kontrolliert werden. Das hauptsächliche Problem besteht jedoch im Vordringen des »Systems der Verantwortungslosigkeit«, in welchem sich Entscheidungsträger auf Kontrollore, Ratingagenturen und Berater berufen, die gar nicht oder fast nicht zur Haftung für schlechte Arbeit herangezogen werden können. Hier werden strengere Haftungsbestimmungen notwendig sein. Jede Forcierung des überaus problematischen Instruments Rating, wie sie etwa aus den »Basel II«-Bestimmungen auch in ihrer derzeit diskutierten Form resultieren würde, sollte unterbleiben. Eine weitere notwendige Maßnahme ist die verpflichtende Ablösung des Wirtschaftsprüfers - und zwar in der strengen Form des Wechsels des Prüfungsunternehmens, nicht bloß der Personen - nach einem Zeitraum von 5 bis 7 Jahren, die von der EU-Kommission vorgeschlagen wird. Wenn die Dauer der Tätigkeit von vornherein begrenzt ist, wird die Neigung zur Gefälligkeit, um den Kunden zu behalten, entscheidend reduziert.

Willkür und Manipulation

Bei den Rechnungslegungsvorschriften hat sich die EU zuletzt eindeutig auf IAS festgelegt. Die Basierung der IAS auf grundlegenden Prinzipien im Unterschied zu US-GAAP sollte die Grenzen für Willkür, Spitzfindigkeit und Manipulation enger ziehen.

Andrerseits hat eine beträchtliche Annäherung von IAS an US-GAAP bereits stattgefunden durch den Zwang, Wertsteigerungen von Vermögensteilen sofort auszuweisen, während früher stille Reserven gebildet werden konnten. Die Schwankungsanfälligkeit der gesamten Wirtschaft wird erhöht, wenn zum Über- und Unterschießen neigende Größen auf das Ausgabenverhalten der Unternehmungen kurzfristig stärker durchschlagen. Im System der Corporate governance zeigt das duale System Aufsichtsrat/Vorstand seine Vorzüge bezüglich der Kontrolle des Managements und insbesondere dessen Entlohnung.

Ende der Hausse: unsanfte Landung

Unter der Parole »Shareholdervalue«, den es mit allen Mitteln zu steigern gilt, wurde eine Kapitalmarktkultur der Finanzinvestoren propagiert, an deren Wohltaten über Lebensversicherungen, Fonds und Pensionskassen breiteste Kreise der Bevölkerung partizipieren sollten, denen mit großartigen Renditeversprechungen der Mund wässrig gemacht wurde. Die unsanfte Landung nach dem Ende der Hausse haben das Konzept des Shareholdervalues diskreditiert und lassen die Gefahren einer kurzfristigen »Wertmaximierung« erkennen, die sich immer häufiger als fiktiv erweist.

Die strategischen Eigentümer sind solchen kurzfristigen Versuchungen und Täuschungen gegenüber weit weniger anfällig. Durch ihre Orientierung an der längerfristigen Performance von Unternehmungen wirken sie der Tendenz zum Über- und Unterschießen der Kursentwicklung entgegen und können so die Auswirkungen der Überspekulation auf die gesamtwirtschaftlichen Schwankungen begrenzen.

In Europa besteht gegenwärtig die große Chance, ein tragfähigeres Modell der Finanzmarktregulierung und der Finanzmarktkultur eigenständig zu entwickeln, das sich vom US-Modell deutlich unterscheidet. Dies würde sicher keine gering zu schätzende Bereicherung des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells bedeuten.

1) Franz R. Hahn: »Bedeutung von Aktienmärkten für Wachstum und Wachstumsschwankungen in den OECD-Ländern« (Nr. 79 der Reihe »Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft«)

2) OECD Economic Outlook Nr. 71 (Juni 2002)

3) FAZ vom 6. 6. 2002

4) D. Dietz/D. Voreacos/A. Armitage, Empty Audits. In: Bloomberg Markets May 2002

5) Financial Times Deutschland vom 30. 4. 2000

Eine ausführlichere und umfassend dokumentierte Fassung dieses Aufsatzes ist erschienen unter dem Titel »Börsenkapitalismus. Auswüchse - Fehlentwicklungen - Alternativen« in der Reihe »Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft« Nr. 80, zu beziehen von der AK Wien (auch über internet www.akwien.or.at).

Teilen |

(C) AK und ÖGB

Impressum