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Einkommensungleichheit im internationalen Vergleich
Beschäftigungsanteile der Wirtschaftsbereiche 2001

Ist Kollektivvertragspolitik noch zeitgemäß?

HINTERGRUND

In diesem Beitrag publizieren wir ein weiteres Referat von der ÖGB-Konferenz »Startschuss Zukunft« zum Thema »Einkommens-, KV- und Lohnpolitik« in Wattens/Tirol, um dieses Referat einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dezidiert und detailliert weist Günther Chaloupek von der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der AK nach, dass der KV nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Unternehmer ein unverzichtbares Instrument ist. So nebenbei entlarvt er auch noch einige »Schmähs« der Unternehmer punkto Lohnnebenkosten. Ein Beitrag, der es sicher wert ist, dass man sich dafür Zeit nimmt. Eine Frage ist z. B., ob die Arbeitnehmer mit permanenter Lohnzurückhaltung etwas gewinnen können. Die Antwort vorweg: Nein! Warum? Lesen Sie weiter!

1. Zielsetzungen der gewerkschaftlichen Lohnpolitik und ihre Relevanz

Die Erhöhung der Realeinkommen im Ausmaß der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung (zusammen mit Sicherung der Löhne und Gehälter vor der Entwertung durch Inflation) als mittel- und längerfristiges Ziel hat in Zeiten schwächeren Wirtschaftswachstums und gestiegener Arbeitslosigkeit an Aktualität gewonnen.

Knappheait der Arbeitskraft wirkt sich positiv auf den Preis - nämlich den Lohn - aus. Je weniger knapp die Arbeitskraft, je höher die Arbeitslosigkeit, umso schwieriger wird es, bei der Lohnentwicklung mit der Produktivität, die natürlich ebenfalls langsamer zunimmt, Schritt zu halten.

Bis in die achtziger Jahre war dies kein Problem, seither sind die Löhne etwas hinter der Produktivität zurückgeblieben. Dabei muss man auch einräumen, dass es statistisch immer schwieriger wird, so etwas wie ein »durchschnittliches Arbeitnehmereinkommen« zu berechnen, welches für das Jahr 2000 mit dem Wert z. B. für 1980 vergleichbar ist. Durch die Zunahme von Teilzeit, geringfügigen und anderen »atypischen« Formen der Beschäftigung muss z. B. die Arbeitszeit viel stärker berücksichtigt werden, wenn die Teilzeitarbeit so stark zunimmt wie in den letzten zehn Jahren, und darüber gibt es nur mangelhafte Informationen. Aber selbst unter Berücksichtigung dieser Faktoren ergibt sich in fast allen europäischen Ländern ein gewisser, nicht dramatischer Rückstand.

Teilweise ist diese gedämpfte Lohnerhöhung auch durch eine bewusste Zurückhaltung bei den Lohnforderungen bedingt, etwa in schwierigen Konjunktursituationen, bei steigender Arbeitslosigkeit oder bei Branchenkrisen. Bei aller selbst auferlegten Mäßigung sollten wir als Gewerkschaften jede Verallgemeinerung von der Art zurückweisen, »je geringer die Lohnerhöhung, umso besser für die Beschäftigung«. Manche Wissenschafter und die Nationalbanken beglücken uns regelmäßig mit solchen Ratschlägen. Die Erfahrung in der EU in den letzten 20 Jahren zeigt, dass für eine nachhaltige Änderung auf dem Arbeitsmarkt mit permanenter Lohnzurückhaltung nichts zu gewinnen ist.

Nur Reallohnsteigerungen

Wirtschaftswachstum beruht angebotsseitig auf der Zunahme der Produktivität, nachfrageseitig auf einer Zunahme von Konsum und Investitionen. Mehr Wachstum wird es nur bei entsprechender Zunahme des Konsums geben, und diese Zunahme kann längerfristig nur aus Reallohnsteigerungen kommen, welche den Produktivitätsspielraum stärker ausschöpfen. Auf die Aspekte der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die in diesem Zusammenhang immer erwähnt werden, komme ich noch zurück.

Ein Arbeitsmarkt mit hoher bzw. steigender Arbeitslosigkeit erzeugt zudem einen starken Druck für eine Zunahme der Einkommensungleichheit. Das bedeutet eine starke Herausforderung für die solidarische Lohnpolitik. Diese hat das Ziel, »auch für schwächere Gruppen (auf dem Arbeitsmarkt) durch die Kraft starker Gewerkschaften eine positive Einkommensentwicklung zu garantieren. Damit kann eine gleichmäßige Verbesserung des Lebensstandards aller Arbeitnehmer erreicht werden«.

Eine solche möglichst gleichmäßige Einkommensentwicklung zu erreichen, ist in Zeiten hoher und steigender Arbeitslosigkeit eine große Herausforderung. Der Druck geht vor allem auf die niedrigen Einkommen, deren Bezieher erfahrungsgemäß von Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich betroffen sind. Wie wichtig die Kollektivverträge in einer solchen Situation sind, kann man bei einem Vergleich mit anderen Ländern erkennen. Die deutlich erhöhte Ungleichheit der Verteilung der Löhne und Gehälter in jenen Ländern, in denen die kollektiven Lohnbildungsmechanismen geringe Bedeutung haben, also in den USA und in Großbritannien, zeigt, dass Kollektivverträge für eine möglichst gleichmäßige Teilhabe aller Beschäftigten am Produktivitätszuwachs entscheidend sind (siehe Grafik 1: Einkommensungleichheit im internationalen Vergleich).

»... als soziales Gewissen aufspielen ...«

In Österreich ist dies in den letzten 20 Jahren in vergleichsweise hohem Maße, wenn auch nicht völlig, erreicht worden. Der Abstand zwischen den obersten und den untersten 20% der Lohn- und Gehaltsbezieher hat in den letzten 10 Jahren nur geringfügig zugenommen, sodass man weiterhin fast von einer Parallelentwicklung sprechen kann. Diese Tatsache ist erstaunlicherweise nur wenig bekannt, gerade für die Gewerkschaften ist sie aber sehr wichtig, zeigt sie doch, dass die bei uns kontinuierlich praktizierte Kollektivvertragspolitik durchaus ihre positiven Resultate hat. Diese Feststellung ist für die Gewerkschaften - nicht nur in Österreich, sondern in den meisten Ländern der EU, wo die Entwicklung ähnlich verlaufen ist - von außerordentlich großer Bedeutung angesichts der ständigen neoliberalen Propaganda, dass auch bei uns »alles so wird wie in Amerika«, dass der Versuch, die Dinge anders zu gestalten, schädlich und wirkungslos ist. Letzteres sagen auch manche »progressive« Sozialkritiker, die sich den Gewerkschaften gegenüber gerne als soziales Gewissen aufspielen. Die Herausforderung ist in den nächsten Jahren unverändert stark gegeben, denn auch bei guter Wirtschaftsentwicklung wird die Arbeitslosigkeit nicht über Nacht verschwinden. Zuletzt hat sich immer wieder gezeigt, wie schwierig es in manchen Branchen ist, einen Kollektivvertragsabschluss zu erzielen, der wenigstens die Inflation kompensiert (s. Tabelle 1: KV-Lohnerhöhung (%) 1995-2001).

KV-LOHNERHÖHUNG IN % 1995-2001
laut Tariflohnindex Statistik Austria
Arbeiter
Eisen- u. Metallindustrie 20,3
Chem. Industrie 18,8
Erdölindustrie 18,7
Fremdenverkehr 15,2
Friseure 14,3
Fleischer 13,0
Baugewerbe 12,5
Holz verarbeitende Industrie 11,4
Bäcker 11,4
Angestellte
Handel 13,7
Fremdenverkehr 12,1
Verkehr 12,0

Mindestlöhne und Schere Männer : Frauen

Aus ähnlichen Gründen gilt dies auch für die Mindestlohnpolitik (Ziel 1000 Euro) und für die angestrebte Verringerung der Einkommensunterschiede für Männer und Frauen.

Längerfristig betrachtet - also seit 1990 oder seit 1980 - ist eine gewisse Annäherung der Einkommen der Frauen an jene der Männer erfolgt: Vor allem in der oberen Hälfte der Einkommensbezieher ist sie feststellbar, also die relativ besser verdienenden Frauen haben am deutlichsten aufgeholt. Allerdings ist der Abstand beim mittleren Einkommen - bei der Gesamtheit aller Erwerbstätigen haben die Männer hier um 46,5% mehr - immer noch beträchtlich.

Man muss sich aber auch klar machen, dass der KV wahrscheinlich für eine Annäherung der Fraueneinkommen an jene der Männer nicht mehr sehr viel bewirken kann. Alle formalen Unterschiede in den Lohngruppen sind längst eliminiert. Die Unterschiede ergeben sich nicht nur als Effekt von Differentialen zwischen Branchen, sondern ebenso de facto in der Verteilung innerhalb der Branchen. Die entscheidenden Faktoren sind hier die Ausbildung, unterschiedliche Karriereverläufe von Männern und Frauen durch Berufsunterbrechungen, Aufstiegschancen, Arbeitszeiten u. a. m.

2. Die Kritik am Kollektivvertragssystem

Von Unternehmerseite wird die kollektive Lohnsetzung seit längerem aus den verschiedensten Gründen kritisiert.

Eher vereinzelt ist die Infragestellung des Kollektivvertrags an sich. Einzelne Manager behaupten vollmundig, dass der KV als Instrument der Regulierung der Arbeitsbeziehungen »im Zeitalter der Globalisierung« überholt sei und dass viel besser auf Firmenebene die Arbeitsverhältnisse individuell geregelt gehörten.

Eine gewisse Unterstützung finden diese Stimmen bei der Industriellenvereinigung (IV), die auch die treibende Kraft hinter jenem Passus in der ÖVP-FPÖ-Regierungserklärung ist, der Schritte zu einer »Verbetrieblichung« der jetzt im Kollektivvertrag vorbehaltenen Materien ankündigt. Konkrete Vorschläge hat es dazu bis jetzt zur Lohnbildung nicht gegeben, zur Arbeitszeit erfolgte vor kurzem wieder ein Vorstoß. Die IV tritt bekanntlich nicht als Kollektivvertragspartner auf. Die maßgeblichen Interessenvertretungen der Unternehmer (Teilorganisationen der Wirtschaftskammer Österreich, WKÖ) fordern Änderungen, ohne den KV als solchen zu negieren. Die WKÖ bzw. ihre Teilorganisationen umfassen aufgrund der Pflichtmitgliedschaft immer alle Unternehmungen einer bestimmten Branche und Gruppe, und hier werden offenbar die großen Rationalisierungsvorteile, die der KV hat, von der Mehrheit der Mitglieder durchaus geschätzt. Der KV erspart dem einzelnen Unternehmen einen erheblichen Aufwand bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Er entlastet die betriebliche Ebene (auch auf Arbeitnehmerseite!) von Verhandlungen und von konfliktträchtigen Entscheidungen. Er erhöht die Sicherheit des einzelnen Unternehmens im Konkurrenzverhältnis zu den anderen durch gleichmäßige Entwicklung des Kostenfaktors Lohn. Es gibt also zahlreiche Gründe für die Sinnhaftigkeit des Instruments KV aus Unternehmersicht.

Unternehmensschlagwort »Mehr Flexibilität«

Gefordert wird von den KV-Verhandlern der Unternehmerseite regelmäßig seit vielen Jahren eine »Erhöhung der Flexibilität«. Unter diesem Titel werden teils sehr verschiedenartige Dinge thematisiert.

Immer wieder behauptet wird die Überforderung der Leistungskraft der Unternehmungen durch zu hohe Lohnforderungen bzw. Lohnerhöhungen im Durchschnitt, die angeblich für einen großen Teil der Unternehmungen nicht verkraftbar sein sollen. Dieser Behauptung widersprechen jedoch die statistischen Daten über Ertragsentwicklung der Unternehmungen und Wettbewerbsfähigkeit. Die so genannten »Lohnstückkosten«, das ist die Lohnkostensteigerung je Produktionseinheit, sind in der Sachgütererzeugung in Österreich seit 1997 um mehr als 7% gesunken (bis 2001). Gegenüber den Konkurrenzländern Österreichs, die keine so starken Produktivitätssteigerungen hatten, hat dies zur Folge, dass sich die preisliche und kostenmäßige internationale Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrieerzeugnisse deutlich verbessert hat - seit 1997 um fast 10% (siehe Grafik: Lohnstückkostenentwicklung 1997-2002 bei Karl Klein »Produktivitätszuwächse in Löhne umsetzen!«, Artikel 2).

Exkurs Lohnnebenkosten

Im Gegensatz zu von der WKÖ ständig wiederholten Behauptungen sind die Lohnnebenkosten in den letzten Jahren nicht gestiegen, sondern gesunken. Nach Berechnungen des Wifo gingen sie zwischen 1988 und 2000 von 94,4% auf 90,2% zurück. Auch die letzte Lohnnebenkostenerhebung der WKÖ ergibt eine Senkung der Lohnnebenkosten um fast 4% zwischen 1996 und 1999. Seither wurden durch das »Belastungspaket 1« der derzeitigen Bundesregierung die Lohnnebenkosten durch Entfall der Urlaubsaliquotierung und des Postensuchtages um weitere 300 Millionen Euro (4,2 Milliarden S) reduziert, und zwar zu Lasten der Arbeitnehmer. Die WKÖ betreibt durch ihre missverständliche Verwendung des Lohnnebenkostenarguments seit Jahren eine gezielte Desinformation. Die Lohnneben-kosten sind keineswegs Zahlungen, »die dem Arbeitgeber viel kosten und von denen der Arbeitnehmer nichts hat«. Mehr als die Hälfte davon kommen den Arbeitnehmern in Form von Sonderzahlungen (13. und 14. Bezug, Lohn während des Urlaubs, Krankengeld, betriebliche Sozialleistungen etc.) direkt zugute, weitere etwa zwei Fünftel sind Beiträge an die gesetzliche Sozialversicherung.

Flexibilität von Unternehmern nicht genützt

In der Industrie ist z. B. durch die so genannten »Verteiloptionen« in den KVs zusätzlicher Flexibilitätsspielraum auf betrieblicher Ebene geschaffen worden, der allerdings von Arbeitgeberseite meist nur in geringem Ausmaß genützt worden ist.

Vor allem muss in diesem Zusammenhang auf die hohe Anpassungsfähigkeit des Instruments Kollektivvertrag an unterschiedliche Erfordernisse der einzelnen Wirtschaftsbranchen hingewiesen werden. Wenn in Österreich mehr als 95% der Arbeitnehmer durch Kollektivverträge erfasst werden, so steht aber hinter dieser hohen Gesamtdeckungsrate die große Vielfalt von rund 250 bundesweiten Kollektivverträgen (dazu kommen noch zahlreiche mit regionalem Geltungsbereich). Dies ermöglicht nicht nur bei der Entlohnung, sondern auch bei der Gestaltung sonstiger Arbeitsbedingungen (vor allem auch bei der Arbeitszeit) ein Eingehen auf die differenzierten Verhältnisse. Die Radikalforderungen nach betrieblicher Dezentralisierung stehen daher nicht nur in starkem Gegensatz zu den gewerkschaftlichen Zielsetzungen, sie sind auch nicht mit sachlichen Erfordernissen zu begründen.

Andrerseits liegt aus gewerkschaftlicher Sicht hier dann ein Problem, wenn die Differenzierung an allzu traditionellen Unterscheidungen ansetzt (alte Handwerkseinteilungen), und/oder wenn auf einen Betrieb eine Vielzahl von KVs angewendet werden muss (z. B. Großkonditorei/-bäckerei: Bäcker, Zuckerbäcker, Gastgewerbe, Transport, Handelsangestellte und -arbeiter). Hier sollte die neue Organisationsstruktur des ÖGB deutliche Vereinfachungen bringen.

New Economy

Neu entstehende Typen von Wirtschaftsaktivität erfordern neue Lösungen für kollektivvertragliche Regelung des Inhaltes von Arbeitsverhältnissen. Das klassische Beispiel ist hier die EDV-Branche, oder allgemeiner: neue Tätigkeitsfelder, die sich unter dem Stichwort »new economy« zusammenfassen lassen.

Von Unternehmerseite wird hier gerne für eine möglichst ungeregelte, »freie Wildbahn« argumentiert. Dass dies mit den hohen Aus- und Weiterbildungsanforderungen einer wissensbasierten Branche nicht zusammenpassen kann, ist evident. Für die Zwecke der Kollektivvertragspolitik muss sehr genau zwischen echten und nur vermeintlichen Besonderheiten der Branche unterschieden werden.

Leiharbeit

Die Leiharbeit ist eine in letzter Zeit stark zunehmende Erscheinung, die meines Erachtens weit überwiegend eine Folge der schlechteren Arbeitsmarktsituation ist, in der die Unternehmer ihre stärkere Position ausnutzen können. Der kürzlich erfolgte Abschluss eines Kollektivvertrags zeigt die Möglichkeiten vor, diese Entwicklung nach und nach in den Griff zu bekommen.

»Verbetrieblichung« nur im Übergangsstadium

Eine Entwicklung, die sich als Folge der Ausgliederung von Bereichen des öffentlichen Dienstes in privatwirtschaftliche Rechtsformen (AG oder GmbH) ergeben hat, muss jedenfalls kritisch beobachtet werden: Auf der Arbeitgeberseite wurde den Unternehmungen Post, Telekom Austria, Bundesmuseen etc. Kollektivvertragsfähigkeit zuerkannt, was an sich normalerweise Vereinigungen vorbehalten ist. Sowohl die Telekom Austria als auch die Post sind Mitglieder der WKÖ. Eine solche »Verbetrieblichung« sollte immer nur auf ein Übergangsstadium beschränkt beleiben.

3. Lohn- und Kollektivvertragspolitik im europäischen Vergleich

Die Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedsländern der EU sind äußerst unterschiedlich geregelt, wobei seit Beginn der Währungsunion - eigentlich ziemlich überraschenderweise - ein hohes Maß an Gemeinsamkeit bei der effektiven Regelung der Lohnentwicklung über die Zeit (nicht der absoluten Lohnhöhe und der einzelnen Lohnrelationen) erreicht wird. Es gibt Länder, wo der gesetzliche Mindestlohn dabei eine große Rolle spielt (Frankreich), andere, wo eine Art Allgemeinverbindlichkeit durch Gerichtspraxis gegeben ist (Italien), wieder andere mit großer Bedeutung des Kollektivvertrags (neben Österreich und Deutschland die skandinavischen Länder und die Niederlande).

»Bündnis für Arbeit«

In den Mitgliedsländern der EU haben kollektiv- bzw. tarifvertragliche Instrumente seit etwa 10 Jahren, vor allem als Folge der Schaffung der europäischen Währungsunion, eine beträchtliche Renaissance erlebt. So etwa dadurch, dass im Zusammenhang mit der Schaffung der Europäischen Währungsunion in vielen Ländern »Bündnisse für Arbeit« geschlossen wurden. Unter den derzeit 12 Mitgliedsländern der Währungsunion ist es zu einer deutlichen Konvergenz bei den Forderungen nach Lohnerhöhungen und auch in der tatsächlichen Entwicklung der Nominallöhne gekommen. Eine baldige weitgehende Vereinheitlichung ist weder möglich noch sinnvoll, wohl aber eine Koordinierung auf Gewerkschaftsseite, wobei auf Unternehmerseite ein europäischer Ansprechpartner für Lohnpolitik fehlt. Die großen gewerkschaftlichen Zielsetzungen, Produktivitätsorientierung und solidarische Lohnpolitik, machen eine solche Koordinierung durch Anwendung gemeinsamer Prinzipien seitens der weiterhin national operierenden Gewerkschaften notwendig.

Die Gewerkschaftsseite ist auch einseitig zu einer solchen Koordinierung imstande. Nicht die Kontrolle der Inflation - wie die Europäische Zentralbank fälschlicherweise glauben machen will - ist dabei das zentrale Problem, sondern die Behe-bung der europäischen Nachfrageschwäche durch ein stärkeres Ausschöpfen der Produktivitätsspielräume bei den Lohnerhöhungen. Eine wechselseitige Unterbietung bei den Lohnerhöhungen zur Erzielung - vermeintlicher! - Konkurrenzvorteile fördert die Stagnationstendenzen. Die bessere Ausschöpfung der Wachstumsmöglichkeiten in Europa wird nur gelingen, wenn auch Einkommen und Nachfrage entsprechend zunehmen.

Deutschland : Österreich

Die größte Ähnlichkeit hat das österreichische KV-System mit demjenigen Deutschlands. Von dort werden auch häufig verschiedene Behauptungen auf Österreich übertragen. In Deutschland wurden von Unternehmerseite besonders vehement der Einbau von Öffnungs- und Härteklauseln in die Flächentarifverträge, mehr Möglichkeiten zur Abgeltung von Mehrarbeit in Freizeit (seltener auch umgekehrt) sowie die Möglichkeit untertariflicher Entlohnung bei neu begonnenen Arbeitsverhältnissen gefordert. Eine Übertragung solcher Forderungen auf Österreich ist aber deswegen nicht plausibel, weil in Österreich die KV-Löhne nicht so nahe bei den Effektivlöhnen (»Ist-Löhne« - diesen Begriff kennen die Deutschen kaum) liegen und weil die Möglichkeiten zu Korrekturen auf Betriebsebene in »Härtefällen« durch das Instrument der Änderungskündigung in Österreich größer sind. In Deutschland musste daher die von den Unternehmern so dringend eingeforderte größere Flexibilität durch Einbau neuer Klauseln in die Tarifverträge oft erst neu geschaffen werden, wo sie in Österreich schon vorhanden war. Die Konflikte um die Anwendung solcher Möglichkeiten hat es bei uns auch gegeben, sie wurden aber weit weniger vor medialem Publikum ausgetragen. Gemeinsam für die Situation in beiden Ländern ist, dass das wirkliche Ausmaß der vorhandenen Flexibilität zugedeckt wird durch die permanenten Klagen von Unternehmerseite und auch von Seiten der Medien.

Großer Unterschied

In einer Hinsicht ist der Unterschied zu Deutschland und zur Mehrzahl der anderen EU-Länder sehr groß, nämlich in der automatischen Allgemeinwirkung der Kollektivverträge für alle Arbeitnehmer aller Unternehmungen einer bestimmten Branche durch deren Zugehörigkeit zur Wirtschaftskammerorganisation. In Deutschland ist die Tarifflucht durch Austritt zunehmend ein Problem, sodass heute nur noch etwa 60% aller Arbeitnehmer unter einen Kollektivvertrag fallen, während wir hier zwischen 95% und 100% erreichen. In Deutschland muss im kleingewerblichen Bereich viel stärker mit dem schwierigeren Instrument des »Satzens« gearbeitet werden. Was über die Medien bei uns allgemein bekannt ist, sind die harten Tarifkämpfe der großen deutschen Industriegewerkschaften im gut organisierten Bereich der Großindustrie, wie sie sich auch jetzt gerade wieder abzeichnen. Im übrigen Bereich ist das Tarifsystem in Deutschland nur noch schwach wirksam, während wir in Österreich eine sehr hohe Quote erreichen. Allerdings müssen wir bei den eigenen Vorstellungen kürzer treten, um im Kleingewerbe und im Dienstleistungsbereich einen KV abschließen zu können, der von der Mehrheit der gewählten Fachverbands- und Innungsfunktionäre akzeptiert wird - die Druckmittel auf Gewerkschaftsseite sind hier begrenzt.

4. Kollektivvertrag und Tendenzen der Wirtschaftsstrukturentwicklung

Es ist eine Tatsache, dass der Organisationsgrad der österreichischen Arbeitnehmer in den letzten 20 Jahren kontinuierlich abgenommen hat. Neben der gestiegenen Arbeitslosigkeit sind dafür vor allem zwei langfristige Tendenzen des wirtschaftlichen Strukturwandels maßgeblich.

Die Tertiärisierung der Wirtschaft: Die Beschäftigung in der Sachgütererzeugung geht zurück - allein in dem Zeitraum von 1995 bis 2001 um 56.000 -, während sie im so genannten »Dienstleistungssektor« zunimmt - dort wurde der Verlust der Sachgütererzeugung mit plus 162.500 weit mehr als kompensiert. Kaum noch 30% der Arbeitnehmer arbeiten in Industrie und Sachgütererzeugung, fast 70% in verschiedenen Dienstleistungsbereichen, die eine starke Heterogenität aufweisen.

Bei einer weiteren Untergliederung des Tertiärsektors zeigt sich, dass gerade hier der Organisationsgrad sehr stark zwischen den Teilbereichen differiert (s. Grafik 2: »Beschäftigungsanteile der Wirtschaftsbereiche 2001«).

Eine andere Tendenz, die eng mit der gerade beschriebenen zusammenhängt, ist der abnehmende Anteil der Arbeitnehmer, die in Großbetrieben beschäftigt sind. Allerdings ist die Veränderung in den letzten Jahren in dieser Hinsicht nicht sehr ausgeprägt gewesen. Aber langfristig hat auch dies die Arbeit der Gewerkschaften sehr erschwert.

Wir müssen davon ausgehen, dass sich die beiden aus der Sicht der gewerkschaftlichen Arbeit ungünstigen Strukturtendenzen in den nächsten 10 Jahren mit größter Wahrscheinlichkeit fortsetzen werden (siehe Tabelle 2: Betriebsgröße und Beschäftigung).

BETRIEBSGRÖSSE UND BESCHÄFTIGUNG
Betriebsgröße Beschäftigte in den Betrieben
1990 absolut in % 2000 absolut in %
mehr als 1000 487.129 18,4 489.245 17,2
500-999 199.032 7,5 224.154 7,9
100-499 605.998 22,9 653.836 23,0
50-99 249.204 9,4 279.688 9,8
20-49 336.188 14,7 368.774 13,0
bis 20 770.308 29,1 828.350 29,1
alle Beschäftigten 2,647.779 100,0 2,844.047 100,0

Eine weitere Tendenz ist die Zunahme der Bedeutung von Bildung bzw. Weiterbildung in der »New Economy« oder allgemeiner, in der wissensbasierten Gesellschaft.

Um auch hier breiteren Schichten der Arbeitnehmer den Zugang zu den Weiterbildungsmöglichkeiten zu gewährleisten, wird es notwendig sein, dass entsprechende Rechte im Kollektivvertrag verankert werden.

5. Schlussbemerkungen und Zusammenfassung

Der Kollektivvertrag als Instrument der Lohnbildung ist in Zukunft für die Erreichung der gewerkschaftlichen Zielsetzungen ein unverzichtbares Instrument. Auch für die Unternehmerseite bietet er ein höheres Maß an Berechenbarkeit und Sicherheit bezüglich des wichtigsten Kostenfaktors unter zweifellos schwierigen Konkurrenzverhältnissen. Der Kollektivvertrag kann die schwierige Balance realisieren zwischen betrieblicher Dezentralisierung einerseits und allgemeinen gesetzlichen Regelungen, die oft zu viel Einheitlichkeit voraussetzen würden.

Gerade dadurch ist der Kollektivvertrag in der Sozialpartnerschaft das Instrument, mit dem diese ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Staat wahren kann. Dem Kollektivvertrag wird bei der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und in einer globalisierten Wirtschaft im 21. Jahrhundert eine entscheidende Rolle zukommen.

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