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Ein Jahr ver.di | Kommentar von Vorsitzendem Frank Bsirske

KOMMENTAR

Durch Zusammenschlüsse entstand in Deutschland die größte (!) Einzelgewerkschaft der Welt. Über ein Jahr ver.di berichtet der Vorsitzende dieser Gewerkschaft.

Exemplarisch für die Erfolge, die ver.di im vergangenen Jahr erzielen konnte, ist die Aussage eines Verhandlungsführers nach monatelangem, zähem Ringen um die Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. Der niedersächsische Finanzminister Heinrich Aller bekannte freimütig: »Früher saßen bei den Verhandlungen immer die Vertreter von ÖTV und DAG am Tisch und waren sich nicht immer grün. Jetzt tritt ver.di geschlossen auf - das hat eine ganz neue Qualität.«

Das macht ver.di aus - wir sind weder außerordentlich harmoniesüchtig noch machen wir es uns immer einfach, aber wenn es darum ging, politische Akzente zu setzen, kann sich unsere Bilanz nach einem Jahr schon sehen lassen.

Im März 2001 sind wir angetreten, eine »lebendige, vielfältige, streitlustige Dienstleistungsgewerkschaft für das 21. Jahrhundert« aufzubauen.

Fünf Organisationen

Wir haben hierzu fünf Organisationen zusammengefügt, die alle ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Strukturen, ihre Erfahrungen - und ihren Stolz eingebracht haben: Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) hat es geschafft, in so unterschiedlichen Bereichen wie den Banken und dem Einzelhandel erfolgreiche Streiks zu organisieren und darüber eine starke, branchenübergreifende Identität herauszubilden. Die Deutsche Post-Gewerkschaft (DPG) hat sich durch einen sehr hohen Organisationsgrad ausgezeichnet und durch zukunftsweisende Ansätze in der Mitgliederwerbung - auch bei der Jugend. Die DPG kann selbstbewusst und stolz die ausgeprägte Rolle einbringen, die ehrenamtliche Arbeit in ihrer Gewerkschaft gehabt hat. Der IG Medien verdanken wir, dass ver.di nicht nur die jüngste Gewerkschaft in Deutschland ist, sondern sich zugleich die älteste nennen darf: Der Deutsche Buchdruckerverband, aus dem die IG Medien hervorging, war 1866 die erste Gewerkschaft in Deutschland. 1873 erstreikte er auch den ersten überregionalen Tarifvertrag im Deutschen Reich. Die Keimzelle der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) entstand hingegen erst 1896 - mit dem »Verband der Arbeiter in Gasanstalten, auf Holz- und Kohleplätzen und sonstiger Arbeitsleute«. Zuletzt war die ÖTV durch eine große innere Vielfalt gekennzeichnet und eine Organisationskultur, die mit dieser Vielfalt produktiv umgegangen ist.

Dazu gehörte auch eine starke Stellung der Frauen in der Organisation und die konsequente Quotierung aller Wahlfunktionen. Nicht zuletzt ist die DAG mit der ver.di-Gründung unter das Dach des DGB zurückgekehrt. Sie hat von allen Gründungsgewerkschaften den weitesten Weg zurückgelegt - aus der Erfahrung heraus, dass Statusunterschiede zwischen den Beschäftigtengruppen an Prägekraft verloren haben und es sich lohnt, gewerkschaftliche Konkurrenz im Interesse der Beschäftigten zu überwinden. Die DAG hat seinerzeit das größte Erwachsenenbildungswerk Deutschlands aufgebaut, zu dem auch eine staatlich anerkannte Fachhochschule gehört.

Veränderte Arbeitswelt

ver.di hat sich im Moment ihrer Gründung einerseits in die Tradition ihrer Ursprungsorganisationen gestellt. Zugleich steht ver.di aber für etwas Neues: Dafür, sich den Veränderungen in der Arbeitswelt zu stellen.

Und das ist zwingend notwendig. Denn die klassischen Organisationsbereiche, aus denen wir unsere traditionelle Stärke schöpfen, werden - zum Teil jedenfalls - abnehmen, während jene, in denen wir noch schwach sind, wachsen.

So wird auf höchster Konzernebene durch Fusionen die Konzentration in den Branchen vorangetrieben, während gleichzeitig Großbetriebe zerlegt werden. Zahlreiche Bereiche werden »outgesourct«. Die Zahl der Klein- und Mittelbetriebe nimmt zu und damit auch die Zahl der Beschäftigten in diesen Betrieben.

Die Zahl der Angestellten steigt im Vergleich zu der von Arbeiterinnen und Arbeitern. Und gleichzeitig nehmen befristete, Teilzeit-, Leiharbeits- und andere neue Beschäftigungsverhältnisse zu - wobei wir zur Kenntnis zu nehmen haben, dass dabei nicht nur prekäre Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden, sondern auch solche, die Chancen eröffnen - für den Einzelnen wie für die Gesellschaft insgesamt.

Wer auf diese Entwicklung Antworten finden will, muss sich auf Veränderungen einstellen und Neues wagen - und so entstand ver.di, mit rund 2,8 Millionen Mitgliedern die mitgliederstärkste Einzelgewerkschaft der Welt.

Leistungen

Wir haben in diesem Jahr nach der ver.di-Entstehung Tarifrunden im Handel, für das Bodenpersonal bei der Lufthansa sowie im Banken- und Versicherungswesen absolviert, deren Ergebnisse im Durchschnitt beispielsweise über denen der IG Metall lagen und die wir ohne falsche Bescheidenheit durchaus als erfolgreich bezeichnen können. Zugleich haben wir für die Zivilbeschäftigten bei der Bundeswehr in Zeiten massiver Standortschließungen Verträge abgeschlossen, die betriebsbedingte Kündigungen von vornherein ausschließen - ein Novum. Dann galt es, die Zusatzversorgung für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst davor zu bewahren, immer teurer zu werden, ohne dass sie den Beschäftigten ihre Versorgungsansprüche garantiert hätte - ein harter Brocken, ich bin darauf ja eingangs schon eingegangen.

Und wir haben politische Akzente gesetzt, die richtungsweisend sind: Arbeits- und Entlohnungsbedingungen zu regulieren, ist im Zeichen von Deregulierung und Massenarbeitslosigkeit nicht einfacher geworden. Auf der einen Seite hat es riesige Produktivitätszuwächse und Gewinnsteigerungen gegeben. Auf der anderen Seite stehen die Löhne seit Jahren unter Druck. Dieser Druck kann sich durch die Osterweiterung der EU noch verstärken, das ist kein neues Problem. Das Lohngefälle an der deutsch-polnischen Grenze beträgt 7:1! Wenn es da kein Hauen und Stechen auf Kosten von Tarif-, Sozial- und Sicherheitsstandards geben soll, muss der Gesetzgeber Rahmenbedingungen schaffen.

Um polnische Kollegen als Busfahrer für fünf Mark Stundenlohn im Personennahverkehr einzusetzen, wie es ein Busunternehmer in Niedersachsen getan hat - dazu bedurfte es dabei gar nicht erst der EU-Osterweiterung. Auch auf den Baustellen herrscht zum Teil eine unglaubliche Unterbietungskonkurrenz. Und wenn wir ins ostdeutsche Metall- und Holzhandwerk schauen, stoßen wir auf ganze tariffreie Zonen. Hier besteht schon lange Handlungsbedarf.

Mindeststandards

Es gilt, für Tariftreue und Allgemeinverbindlichkeitserklärungen zu sorgen. Das heißt, wir brauchen ein Vergabegesetz, das öffentliche Aufträge an soziale und tarifliche Mindeststandards bindet. So etwas Ähnliches haben die Kollegen von der ehemaligen DPG in ihrem Bereich schon durchgesetzt. Sie haben eine Klausel im Postgesetz verankern können. Danach bekommt in Deutschland nur eine Postlizenz, wer die im Gesetz definierten sozialen Mindeststandards einhält.

Wir haben hierzu noch vor der ver.di-Gründung gemeinsam mit Kollegen von der Gewerkschaft Nahrung, Gaststätten, Genuss (NGG) und der IG Bauen, Agrar, Umwelt (IG BAU) zahlreiche Aktionen durchgeführt - mit Erfolg, das Vergabegesetz ist auf gutem Wege und wurde am 1. Februar in den deutschen Bundesrat eingebracht.

Warnstreik

Wir haben den Verantwortlichen in Bund und Ländern unter anderem mit einem Warnstreik, an dem sich im Frühsommer letzten Jahres 60.000 Kollegen aus dem Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs beteiligt haben - auch dies ein Novum -, deutlich gezeigt: Wir wollen die EU-Osterweiterung und die weitere Vertiefung der europäischen Integration, aber sie kann und muss - um der inneren Akzeptanz willen - mit sozialpolitischen Instrumenten abgesichert werden, wie sie Bund und Ländern zur Verfügung stehen. Es reicht eben nicht, nur Übergangsfristen für die Liberalisierung des Arbeitsmarktes festzulegen.

Europa ist Innenpolitik

Aber nicht nur die Politik, wir selbst sind auch gefordert. ver.di hat seit ihrer Gründung ihre europapolitischen Aktivitäten verstärkt und ausgebaut.

Denn was auf der europäischen Ebene in Brüssel und Straßburg passiert, ist in den Wirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger zu 80 Prozent Innenpolitik und da müssen wir schnell in der Reaktion und handlungsfähig sein, auf europäischer Ebene und, vor dem Hintergrund der zunehmenden Dezentralisierung multinationaler Konzerne, so genannter Global Players, auch international.

Wir haben, um auf diesem Gebiet Erfolge erzielen können, die Tradition der ehemaligen HBV fortgesetzt, die sich gesellschaftlicher und sozialer Bündnisse bedient bzw. diese aufgebaut hat, um ihren Interessen mehr Nachdruck zu verleihen. So hat ver.di den Schulterschluss mit der IG Metall ebenso gesucht wie mit Misereor, WEED und attac, um für die Einführung der Tobin-Tax zu werben. Während des WTO-Gipfels in Katar haben wir mit den örtlichen Gruppierungen von attac gemeinsam Aktionen veranstaltet, die den Verbrauchern deutlich vor Augen geführt haben, wie jeder und jede Einzelne von der hemmungslosen Liberalisierung globaler Märkte gerade auch auf dem Gebiet der öffentlichen Daseinsvorsorge betroffen ist - zum Beispiel beim Thema »Trinkwasser«.

Schlaglichtartig habe ich die politische und die tarifpolitische Arbeit von ver.di in den letzten Monaten skizziert. Nun darf dabei aber nicht in den Hintergrund geraten, dass wir dazu auch räumlich fusioniert haben, sowohl auf Bundes- als auch auf Landes- und Bezirksebene. ver.di besteht aus 106 Bezirken, 13 Landesbezirken und der Bundesebene einerseits sowie 13 Fachbereichen bzw. 19 Ressorts andererseits, die alle noch zueinander finden und die fünf Gründungsgewerkschaften in sich neu strukturieren mussten: Das ist unsere Umsetzung der Matrixorganisation, in der es nicht nur Existenzen über- oder untereinander, sondern auch ein gleichberechtigtes Nebeneinander gibt.

Weiße Flecken in der Arbeitswelt

Wir waren im März in dieser Formation angetreten, auch die so genannten weißen Flecken der Arbeitswelt gewerkschaftlich zu organisieren - auch auf diesem Gebiet haben wir bereits »Pflöcke eingerammt«. So hat das ver.di-Projekt connexx-av etwa 1000 Mitglieder aus der »Neuen Ökonomie« gewonnen und ist von uns entsprechend verstärkt worden. Auch im Bereich der Logistik erweitern wir Projekte konsequent, die uns helfen, grade die Tätigkeitsbereiche gewerkschaftlich zu erschließen, die es in den jetzigen Ausmaßen bis vor wenigen Jahren gar nicht gegeben hat. Mit Erfolg: So kann das ver.di-Projekt »Logistik« in Bad Hersfeld nach einem Jahr Laufzeit auf die Gründung von 25 Betriebsräten und neue Maßstäbe in der internationalen Betriebratsarbeit verweisen. Das macht uns Mut für die Zukunft. Denn unser Ziel, den Mitgliedertrend in ver.di umzukehren, haben wir bislang noch nicht verwirklichen können. ver.di verliert, wie die anderen DGB-Gewerkschaften auch, noch immer Mitglieder, etwa 65.000 seit ihrer Gründung.

Diesen Trend umzukehren haben wir uns für das nächste Jahr vorgenommen, und der Blick auf ein Jahr erfolgreiche Arbeit in ver.di wird uns dabei ebenso helfen wie der Blick auf die Tarifrunden, die in diesem Jahr anstehen: Nach etwa zwanzig Jahren Umverteilung zugunsten der Gewinne wollen wir auch für die Löhne der Beschäftigten eine Trendwende herbeiführen - zugunsten ihrer Geldbörsen.

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(C) AK und ÖGB

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