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Wer fällt durchs soziale Netz? | Vom Sozialstaat zum Almosengeber

Der Umbau der österreichischen Sozialpolitik von aktiver Gestaltung und Risikovorsorge für Erwerbstätige zum Almosenstaat für Hilflose geht rasant vor sich. Eine Bilanz der Arbeiterkammer hatte bereits nach einem Jahr Regierungskoalition ÖVP-FPÖ gezeigt, dass die propagierte »soziale Treffsicherheit« unser soziales Netz in sämtlichen Aspekten in Mitleidenschaft zieht. »Arbeit & Wirtschaft« hat sich unter Betroffenen umgehört.

Von Einschränkungen bei der Sozialversicherung mit der allgemeinen Krankenversicherung, der Pensionsversicherung, der Besteuerung der Unfallrenten, der Arbeitslosenversicherung mit Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und der aktiven Arbeitsmarktpolitik mit Fortbildungs- und Wiedereingliederungsmaßnahmen: Unser soziales Netz verliert durch die Regierungsmaßnahmen eine wesentliche Aufgabe, nämlich die der Umverteilung. In vielen Fällen erfüllt es kaum noch das Ziel, das der Sozialhilfe als letzter Sicherheitsstufe im System zukommt. Nämlich, die Armut in Österreich zu vermeiden.

»Mir kommt vor, als brächen die Grundlagen weg. Als stünden wir auf einer Insel in einer Gesellschaft, in der wir überhaupt keine Rechte mehr haben.« Die 43-jährige Sekretärin Gerda Hehn*) war zuletzt 1995 fest angestellt, die Zeit der Arbeitslosigkeit hat sie für Weiterbildung genutzt und so - bis vor kurzem - immer wieder Arbeit im Ökologiebereich gefunden.

Sperre des Arbeitslosengeldes

Ein freiwilliger Schnuppertag im Programm »Integra« stellte sich als Verpflichtung heraus. Gerda Hehn wurde mit sechswöchiger Sperre des Arbeitslosengeldes gedroht. Sie hatte sich geweigert, weiter am Programm teilzunehmen. Ihre Begründung: »Was als Reintegration und Qualifizierung für den regulären Arbeitsmarkt vorgestellt wird, ist in Wahrheit eine Methode, Billiglohnkräfte zu werben. Ich sehe keinen Grund, für 8500 Schilling, 617,72 Euro, 40 Stunden zu arbeiten. Noch dazu, wo ich dabei nicht besser qualifiziert werde.«

Der Fall durch das soziale Netz

Bei einem Taggeld von rund 230 Schilling, 16,71 Euro, kommt Frau Hehn auf knappe 7000 Schilling, 508,71 Euro, Arbeitslosengeld im Monat. »Betteln muss ich nicht gehen«, sagt sie, selbst wenn ihrem Einspruch gegen die Sperre des Arbeitslosengeldes nicht stattgegeben wird. Schließlich hilft die Mutter aus, wenn es eng wird. Außerdem kann sie »immer noch etwas weniger einkaufen und die Heizung weiter herunterschalten«.

Um in Armut zu leben, braucht es heute nicht mehr den berüchtigten »Fall durch das soziale Netz«. Die Leistungskürzungen in der Arbeitslosen- und Sozialversicherung zwingen viele, quasi über Nacht, zu einem Leben unter dem Existenzminimum. Ein Begriff, den es ebenso wie die oft zitierte »Armutsgrenze« eigentlich nicht gibt. Gemeint ist damit der so genannte »Ausgleichszulagenrichtsatz« (siehe Kasten). Etwa 320.000 Menschen - rund vier Prozent der österreichischen Bevölkerung - sind nach Schätzungen der Caritas extrem armutsgefährdet.

Pfuschen?

Die Menschen entwickeln ihre eigenen Strategien, um ihren bisherigen Lebensstandard halten zu können. Herwig Mayer*) verdient als Tischler 22.000 Schilling, 1598,80 Euro, brutto im Monat. Seine Frau Anna, persischer Herkunft, hatte zwar ihre Arbeit als Küchenhilfe wegen einer Allergie verloren. Dennoch hatte das kinderlose Ehepaar bisher ein bescheidenes, aber sicheres Auskommen, mit dem sie sich durch geschicktes Planen auch »etwas leisten« konnten. Urlaub wurde bei Freunden oder - wenn Sonderausgaben anfielen - auf der Donauinsel gemacht. Auf ihren Luxus, einen Gebrauchtwagen, Baujahr 95, mussten die beiden dadurch nicht verzichten. Ein »kleines Polster« auf dem Konto half den Mayers zusätzlich, nicht von ihrem Grundsatz »Zeit und Gesundheit sind wichtiger als Geld« abzuweichen.

»Warum soll ich zusätzlich pfuschen, wenn ich dann so kaputt bin, dass ich krank werde?«, hatte sich Herr Mayer standhaft geweigert, das Wochenende mit Tischlerarbeiten zu verbringen. Ein Prinzip, das allmählich ins Wanken gerät: »Ein Innenausbau bei Bekannten«, rechnet Mayer, »an drei bis vier Wochenenden. Das sind zehn Blaue. Damit habe ich die Krankenversicherung wieder herinnen.« Denn: Durch den Wegfall der beitragsfreien Mitversicherung seit Jahresbeginn muss Herr Mayer monatlich mehr als 800 Schilling, 58,14 Euro, zusätzlich für die Krankenversicherung seiner Frau bezahlen.

Notstandshilfe gestrichen

Die Mayers haben etwas Spielraum, ihren bisherigen Lebensstil aufrechtzuerhalten. Bei vielen anderen geht es an die Existenz. Die 47-jährige Hermine Gruber*) etwa, die gekündigt worden war, und danach zwei Jahre - erfolglos - Arbeit suchte. Bis sie sich eines Tages »nicht mehr aus dem Haus rühren konnte«. »Ich bin immer so faul«, wandte sie sich schließlich an den Arzt, der eine schwere Depression diagnostizierte.

Medikamente und Gespräche halfen; die finanzielle Situation von Hermine Gruber und ihrem Lebensgefährten ist dennoch extrem angespannt. Vom gemeinsamen Einkommen von etwa 21.000 Schilling, 1526,13 Euro, sind die beiden auf 16.000 Schilling, 1162,77 Euro, monatlich gerutscht. Wegen des Gehalts des Partners (von 16.000 Schilling) wurde Frau Gruber die Notstandshilfe gestrichen (siehe Kasten). Schon die Erhöhung des Medikamentenbeitrags hat Frau Gruber »gespürt«. Die rund 700 Schilling, 50,87 Euro, durch die neue Krankenversicherung ist ein schwerer finanzieller Schlag für sie.

Arbeitsunwilligkeit

So mancher Fall, bei dem der größtanzunehmende Schaden für die Betroffenen einzutreten droht, kann durch das bestehende Netz an Beratungs- und Betreuungseinrichtungen verhindert werden. Im Fall von Peter Huber*) beispielsweise, der seinem AMS-Berater verschwiegen hatte, an klaustrophobischen Ängsten zu leiden. Aus Angst, als »arbeitsunfähig« (siehe Kasten) eingestuft zu werden, wie sich in späteren Beratungsgesprächen herausstellte. Als die Krankheit im Keller des Unternehmens, das ihn als Lagerarbeiter eingestellt hatte, schließlich wieder ausbrach, lief er in Panik davon. Ihm wurde das Arbeitslosengeld gestrichen. Erst durch Vermittlung einer Wiener Beratungsstelle wurde der AMS-Betreuer auf Herrn Hubers Problem aufmerksam. Er hat nun eine Tätigkeit, die ihn nicht in enge Räume und große Menschenmengen zwingt.

Unsicherheit

Aber auch unter den Mitarbeitern des Betreuungsnetzes herrscht Unsicherheit. Von »einem verstärkten Kampf um Qualifizierungsmaßnahmen« spricht Michael Sturm, Geschäftsführer des Berufsförderungsinstitutes (bfi), Wien. In einigen Bundesländern - besonders in Wien - steht das Arbeitsmarktservice diesen Herbst vor der Aufgabe, das Budget für Qualifizierungsmaßnahmen kürzen zu müssen. Welche Bildungs- und Beratungseinrichtungen, die im Auftrag des AMS die diversen Maßnahmen durchführen, konkret betroffen sind, steht derzeit noch nicht fest. Eines aber ist laut Michael Sturm zumindest klar: »Alle Zeichen deuten darauf hin, dass es zu keinen Zuwächsen im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik kommt.«

Das Netz in Zahlen

Oft werden Begriffe verwendet, die es eigentlich nicht gibt. Die »Armutsgrenze« ist einer davon. Gemeint ist die Ausgleichszulage, auf die jeder Bürger im Notfall Anspruch hat. Hier einige Fakten:

  • »Existenzminimum«
    Die im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) festgelegte so genannte »Ausgleichszulage« beträgt derzeit 8437 Schilling, 613,14 Euro.
    Bezieht eine Person zum Beispiel 4000 Schilling, 290,69 Euro, Notstandshilfe, hat sie einen Anspruch von ergänzenden 4437 Schilling, 322,23 Euro, Sozialhilfe.
  • »Streichung der Notstandshilfe«
    Die Freigrenze für Ehepartner bzw. Lebensgefährten beim Bezug von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe beträgt laut Arbeitslosenversicherungsgesetz derzeit 5863 Schilling, 426,08 Euro, monatlich. (Dieser Betrag erhöht sich bei Frauen ab 50 Jahren, bei Männern ab 55.) Verdient zum Beispiel der Ehemann 10.000 Schilling, 726,72 Euro, während die Ehefrau 7000 Schilling, 508,70 Euro, Notstandshilfe hat, werden ihr von diesem Betrag 4137 Schilling (10.000 minus 5863) abgezogen. Die Notstandshilfe beträgt demnach 2863 Schilling, 208,06 Euro.
    Im Fall von Hermine Gruber, deren Gatte 16.000 Schilling, 1162,76 Euro verdient, fällt die Notstandshilfe gänzlich dem Rechenstift zum Opfer.
  • »Streichung des Arbeitslosengeldes«
    Im Arbeitslosenversicherungsgesetz (AlVG) wird zwischen Arbeitsfähigkeit (§ 8) und Arbeitswilligkeit (§ 9) unterschieden.
    Laut § 10 AlVG verliert der Arbeitslose für die »Dauer der Weigerung, jedenfalls aber für die Dauer der auf die Weigerung folgenden sechs Wochen, den Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn er


- sich weigert, eine ihm von der regionalen Geschäftsstelle zugewiesene zumutbare Beschäftigung anzunehmen oder die Annahme einer solchen Beschäftigung vereitelt, oder

- sich ohne wichtigen Grund weigert, einem Auftrag zur Nach-(Um-)Schulung zu entsprechen oder durch sein Verschulden den Erfolg der Nach-(Um-)Schulung vereitelt, oder

- ohne wichtigen Grund die Teilnahme an einer Maßnahme zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt verweigert oder den Erfolg der Maßnahme vereitelt, oder

- auf Aufforderung durch die regionale Geschäftsstelle nicht bereit oder in der Lage ist, ausreichende Anstrengungen zur Erlangung einer Beschäftigung glaubhaft zu machen.«

Laut § 11 verlieren Arbeitslose den Anspruch, deren »Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet worden ist, oder die ihr Dienstverhältnis freiwillig gelöst haben (...).«

Zu wenig Geld ...

Aus der Beratungspraxis kennt AK-Expertin Gabriele Schmid die »unterschiedlichsten Konstruktionen« von Armut oder Armutsgefährdung von Menschen, die sich durchaus noch im sozialen Netz befinden. »Da ist generell das Problem, dass die Arbeitslosenentschädigung zu gering bemessen ist. Besonders betroffen sind Alleinerzieherinnen, die ihre Arbeit verloren haben, viele Unfallrentner und Migranten. Für viele verschärft sich die Situation durch die Aufhebung der beitragsfreien Mitversicherung durch den Partner, der nun überaus hohe Beiträge zahlen muss.«

Genaue Zahlen sind, nicht zuletzt wegen der Übereiltheit der getroffenen Maßnahmen, nicht erfassbar. Eklatant sind die fehlenden Zahlen bei der Wohnungslosigkeit, dem für die Öffentlichkeit sichtbarsten Zeichen vom »Fall aus dem Netz«. Laut einer älteren Studie der Caritas sind 5000 Menschen obdachlos, nicht dazugezählt wurden Jugendliche, Frauen, Migranten und »versteckte« Obdachlose. Auch bei Letzteren handelt es sich in den meisten Fällen um Frauen, die sich in Zweckpartnerschaften vor dem Leben auf der Straße flüchten.

Lücken im »Netz«

Die Leistungskürzungen unter dem Titel der »sozialen Treffsicherheit« tragen keineswegs dazu bei, Menschen in Österreich vor einem Leben auf der Straße zu bewahren. Lücken ortet AK-Expertin Gabriele Schmid vor allem »bei der Mitversicherung, bei Geldleistungen - generell ist das Arbeitslosengeld zu niedrig bemessen -, bei der Wohnraumbeschaffung, der Hilfe zur Arbeitsplatzsuche oder der Kinderbetreuung«.

Die Sozialberatungsstellen, eine Art Seismograph der gesellschaftlichen Veränderungen, verzeichnen immer mehr Fälle von sozialer Ausgrenzung. Der Fall einer Familie, die beständig am Rand der Gesellschaft lebt, steht für viele: Die Familie Lindner*) lebte mit den beiden Kindern »auf 27 Quadratmetern«, ohne Bad und WC und seit mehreren Jahren - wegen Schulden bei den Stadtwerken - auch ohne Strom. Nicht nur die Mietschulden aus früherer Zeit machten einen Neubeginn - ohne Hilfe von außen - unmöglich. Auch die Vorgeschichten der beiden sind Hürden, die kaum zu bewältigen sind.

Bei Frau Lindner eine Kindheit, geprägt von Alkohol, Aggression und Gewalt. Auch sie hat »Erfahrung« mit Depressionen. Herr Lindner war in seiner Jugend mehrmals straffällig geworden. Das hängt ihm heute noch bei der Arbeitsplatzsuche nach. Mit Unterstützung erhielten die Lindners eine Gemeindewohnung. Herr Lindner arbeitete tageweise im Caritaslager. Durch diesen Zusatzverdienst erreichte er, dass es in der neuen Wohnung auch Strom gibt. Alles in Ordnung? Die vierköpfige Familie lebt von 15.000 Schilling, 1090,09 Euro, monatlich. Zittern müssen die Eltern heute nur noch vor besonderen Ereignissen: einer kaputten Heizung etwa, oder dem Schulbeginn mit seinen Sonderausgaben

*) Namen von der Redaktion geändert

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