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Die Folgen des medizinischen Fortschrittes | Längerfristige Aspekte und Entwicklungen

Ein grundsätzlicher Diskussionsbeitrag, bei dem es vor allem um längerfristige Aspekte und Entwicklungen geht - denn im Kampf um grundsätzliche Details verliert man oft den Blick aufs große Ganze.

Gerade in der Sozialpolitik kommt es auf die Details an. Es gilt, ein genügend dichtes und tragfähiges soziales Netz zu knüpfen. Und gleichzeitig darauf zu achten, dass die Bestimmungen nicht so gefasst sind, dass selbst Gutwillige verleitet werden, sie zu missbrauchen, und dass Böswillige sie nicht allzu leicht missbrauchen können. Jede einzelne Bestimmung, jede Formulierung ist da wichtig. Deshalb vertiefen sich die Sozial-politiker oft zu Recht in winzige, aber letztlich doch sehr bedeutsame Details.

Vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen ...

Eine Gefahr sollte man dabei aber wo-möglich zu vermeiden trachten: dass man die großen Trends, die bedeutsamen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf unser Sozialsystem zu wenig beachtet oder gar völlig übersieht. Dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht.

Eine solche große Entwicklung ist der rasante medizinische Fortschritt der letzten Jahrzehnte. Denn dieser Fortschritt wird auf mannigfaltige Weise entscheidende Auswirkungen auf viele Bereiche unseres Sozialsystems haben. Gewaltige Anpassungen werden stattfinden müssen. Anpassungen, deren Notwendigkeit wir derzeit erst allmählich erkennen und mit deren Verwirklichung wir erst jetzt punktuell beginnen. Anpassungen, die wir aber im Interesse des gesamten Systems planen und systematisch angehen sollten.

Der medizinische Fortschritt hat vor allem zwei Auswirkungen, auf die hier näher eingegangen werden soll: Die Menschen leben wesentlich länger und die medizinische Versorgung dieser Menschen wird wesentlich teurer. Damit wird die Finanzierung zweier wichtiger Elemente unseres Gesellschaftssystems - zumindest in ihrer bisherigen Form - in Frage gestellt: die Altersversorgung und die Krankenversorgung. Das gilt nicht nur für Österreich und die Art, wie wir derzeit in Österreich diese Fragen regeln, sondern für alle modernen Industriestaaten und in letzter Konsequenz auch für die Länder der Dritten Welt, die diese Problembereiche erst langsam angehen.

Die Kostenfrage

Wenden wir uns vorerst dem Gesundheitswesen zu. Niemand, der sich nur ein wenig auskennt, wird leugnen, dass Österreich ein ganz ausgezeichnetes Gesundheitssystem hat. Das gilt in vielerlei Hinsicht. Wir haben eine hervorragende medizinische Versorgung auf höchstem Niveau, eine erstklassige Ausbildung der Ärzte und aller anderen Berufszweige des medizinischen Sektors, unser System ist so gestaltet, dass die gute Versorgung allen Schichten der Bevölkerung zur Verfügung steht und das alles zu - im Verhältnis zu unserem Volkseinkommen und zu den Systemen anderer vergleichbarer Länder - doch halbwegs erträglichen Kosten.

Das soll nun sicher nicht heißen, dass alles perfekt wäre. Sicher kann und soll man alle Aspekte dieses Systems immer wieder kritisch durchleuchten. Es ist sogar offenkundig, dass sich noch vieles verbessern lässt und daher verbessert werden sollte. Unser Gesundheitssystem wurde von Menschen entworfen und wird von Menschen durchgeführt. Es wird daher unweigerlich Fehler aufweisen. Man kann und muss darüber diskutieren, welche Details, aber auch welche grundsätzlichen Aspekte verbessert werden sollten. Im Großen und Ganzen liefert aber das österreichische Gesundheitssystem bisher gute Resultate zu annehmbaren Kosten.

Nun sehen wir uns aber einem immer rasanter werdenden medizinischen Fortschritt gegenüber, der auch gigantische Auswirkungen auf die Kosten der medizinischen Versorgung hat. In allen Ländern steigt daher der Anteil der Kosten dieser medizinischen Versorgung am BNP mehr oder weniger rasch an. In den USA, die hier an der Spitze liegen, hat er 2000 bereits 14 Prozent des BNP erreicht - und trotzdem ist ganz offenkundig, dass die USA zwar die teuerste, aber mit Sicherheit nicht die beste medizinische Versorgung in der Welt haben. So ist nur etwa ein Drittel der Amerikaner ausreichend, ein weiteres Drittel ist wenigstens teilweise, aber ein volles Drittel gar nicht für Medikamentenkosten versichert. Wer keine Versicherung hat, kann sich aber in der Regel die immer teurer werdenden Medikamente ganz einfach nicht leisten.

Neue Medikamente

Denn die neuen Medikamente wirken zwar oft beinahe Wunder, aber sie sind manchmal extrem teuer. Das gilt auch und gerade für Medikamente, die über Jahre (oft für das restliche Leben) täglich eingenommen werden müssen. Dabei handelt es sich in manchen Fällen um wirksame Medikamente gegen sehr häufig auftretende Krankheiten und Beschwerden. Die Versicherungen - ob private oder staatliche - sind immer weniger in der Lage, für diese Medikamente zu bezahlen. Ähnliches gilt auch für manche »Apparaturen« wie zum Beispiel Herzschrittmacher oder für manche »Verfahren« wie die Dialyse. Immer mehr Menschen brauchen sie (weil sie nicht früh an allen möglichen anderen Krankheiten sterben und daher älter werden), aber die Kosten dafür schlagen dann voll zu Buche.

Beitragserhöhung

In dieser Situation versuchen die Versicherer - ob private oder staatliche - sich mit verschiedenen Methoden zu helfen. Erstens gibt es das Mittel der Beitragserhöhung. Von der Krankenversicherung verlangt man immer mehr Leistungen, sie wird daher immer teurer. Dieser Methode sind aber vermutlich Grenzen gesetzt, obwohl es sehr auf die Einstellung der Bevölkerungen ankommen wird, wo diese Grenzen liegen.

Kostenbeteiligung

Ein zweites, häufig eingesetztes Instrument ist der Versuch, die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen durch die Kranken dadurch zu verringern, dass man eine Kostenbeteiligung vorsieht. Gegen dieses System spricht die Gefahr, dass dann notwendige Versorgungen, sei es aus Sparsamkeit oder aus finanzieller Notwendigkeit, ganz einfach unterbleiben. Dennoch wird es fast überall angewendet: bei uns in Österreich beispielsweise bei den Rezeptgebühren, seit allerneuestem bei den Ambulanzgebühren, bei der Kostenbeteiligung an verschiedenen Leistungen bei Zahnarzt und Optiker oder sogar generell sowohl bei öffentlichen (BVA der Beamten) als auch bei privaten Versicherungsträgern.

Rationierung der Leistung

Eine weitere Möglichkeit ist die Rationierung der Leistungen: Gewisse Leistungen werden ganz einfach gar nicht oder nur sehr begrenzt erbracht. Auf die fehlende Versicherung für Medikamentenkosten für weite Kreise (vor allem die Pensionisten, die das aber besonders dringend brauchen würden) in den USA wurde schon hingewiesen. In England ist die Wartezeit für viele Spitalsbehandlungen so lange, dass man von einer De-facto-Rationierung sprechen kann. Und die bei manchen Medikamenten in Österreich erforderliche chefärztliche Bewilligung hat auch ein gewisses Rationierungselement.

Neoliberale Rezepte

Von Neoliberalen aller Schattierungen wird auch gerne ein freier Wettbewerb zwischen den Krankenversicherungsträgern empfohlen. Im Wettbewerb würden sich alle um niedrigere Tarife und bessere Leistungen bemühen. Bei den niedrigeren Tarifen stimmt das vermutlich, bei den besseren Leistungen, wie die amerikanische Entwicklung beweist, offenkundig nicht - ganz im Gegenteil. Die, wie sie allgemein genannt werden, HMOs (Health Maintenance Organizations) genießen inzwischen den denkbar schlechtesten Ruf. Nicht nur, dass sie fürchterlich bürokratisch sind und fast jede Leistung umständlich bewilligt werden muss (falls sie überhaupt bewilligt wird, denn im Rationieren sind die HMOs auch ganz groß), erbringen sie nach Meinung ihrer Versicherten vielfach nur minderwertige Leistungen. Die mit den HMOs zusammenarbeitenden Ärzte meinen wiederum oft, dass ihnen die Regeln dieser Versicherung eine optimale Versorgung ihrer Patienten unmöglich machen. Die Unzufriedenheit mit den HMOs ist eines der Hauptthemen der amerikanischen Innenpolitik.

Nicht voll befriedigende Kompromisslösungen

Offenkundig ist bis jetzt niemandem ein System eingefallen, wie man eine ausreichende Versorgung aller Schichten der Bevölkerung mit allen Fortschritten der modernen Medizin zu erträglichen Kosten gewährleisten kann. Wir müssen uns daher weiterhin (und vermutlich sogar zunehmend) mit nicht voll befriedigenden Kompromisslösungen abfinden. Das Problem wird in Zukunft sicher sogar zunehmen, obwohl wir ebenso sicher einen steigenden Anteil unseres BNP für die medizinische Versorgung aufwenden werden.

Damit kommen wir zu den Auswirkungen der modernen Medizin (und damit der viel längeren Lebenserwartung) auf unser Pensionssystem. Hier wird (besonders von Bankern, Versicherungsmanagern und anderen Finanzfachleuten) häufig so getan, als ob man die Probleme durch eine zumindest teilweise Umstellung von unserem Umlagesystem auf ein Ansparsystem (und jeder von ihnen bietet sofort das beste Produkt dafür aus seinem Bauchladen an) lösen könnte. Wäre das nur wahr! Aber leider ist es bei weitem nicht so einfach.

Pension

Längere Lebenserwartung heißt vorerst, dass die Menschen bei gleichbleibendem Pensionsantrittsalter länger in Pension sind - konkret viel länger als früher, und diese Tendenz verstärkt sich ununterbrochen weiter. Wenn man einmal alle Fragen der Finanzierung beiseite lässt, bedeutet das: Bei einem gegebenen Volkseinkommen und mehr Pensionisten im Verhältnis zur Zahl der Berufstätigen (lassen wir für den Augenblick die noch nicht berufstätigen Kinder und Jugendlichen außer Acht) steht entweder ein Mehr an Gütern und Leistungen für die Pensionisten (und damit weniger für die Berufstätigen) zur Verfügung, oder für jeden einzelnen Pensionisten stehen weniger Güter und Leistungen zur Verfügung.

An dieser Tatsache kann keine noch so geschickte Finanzierungsmethode etwas ändern.

Denn die Verschiebung im Verhältnis zwischen der Zahl der Berufstätigen und der Zahl der Pensionisten muss sich auch auf das Verhältnis der für jede dieser beiden Gruppen zur Verfügung stehenden Güter und Leistungen aus dem gesamten Volkseinkommen auswirken. Erst wenn man das zur Kenntnis genommen hat, kann man sinnvollerweise über die beste Methode zur Finanzierung dieser Verteilung und ihrer eventuell notwendigen Veränderung nachdenken.

Unangenehme Schlussfolgerungen

Da dieses Nachdenken aber zu unangenehmen Schlussfolgerungen führen muss, steht es vielleicht auch dafür, die Alternativen in Erwägung zu ziehen. Man könnte das Problem mildern (wenn auch vermutlich nicht beseitigen), wenn man die Altersgrenze zwischen Berufstätigen und Pensionisten verschiebt, das heißt anhebt. Wenn die Menschen später in Pension gehen, sind sie länger berufstätig und kürzer in Pension, das Verhältnis zwischen der Zahl der Berufstätigen und der Zahl der Pensionisten ändert sich.

Auch das ist keine angenehme Botschaft. Denn in fast allen Industriestaaten ist das effektive Pensionsantrittsalter in den letzten Jahrzehnten gesunken, und zwar sogar auch dann, wenn das offizielle Antrittsalter angehoben wurde. Das hat seine guten Gründe: Das Arbeitstempo wird immer weiter verschärft, die physische und psychische Belastung am Arbeitsplatz nimmt zu und die Unternehmen, die jüngere und oft leistungsfähigere Arbeitskräfte bevorzugen, drängen ältere Arbeitnehmer aus dem Arbeitsprozess. Doch die Realitäten zwingen die Industriestaaten zum Umdenken. In einzelnen Ländern beginnt das effektive Pensionsantrittsalter (nicht zuletzt als Folge von Gesetzen, die eine frühe Pensionierung erschweren oder finanziell bestrafen) wieder sachte zu steigen, und sogar österreichische Unternehmen sind wieder zunehmend bereit, arbeitslos gewordene ältere Menschen einzustellen. Denn viele Menschen haben nicht zuletzt deshalb eine Frühpensionierung angestrebt und sind aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden, weil ihnen ihr Arbeitgeber ein diesbezügliches Angebot gemacht hat, zu dem sie nicht nein sagen konnten und sie genau wussten, dass sie in ihrem Alter einen anderen Arbeitsplatz auf dem Arbeitsmarkt kaum finden würden.

Die Jungen und die »Kinderzahl«

Das Thema der noch nicht im Berufsleben Stehenden wurde bisher ausgeklammert. Tatsächlich ist die Zahl der Kinder pro Jahrgang in Österreich (wie in den meisten Industriestaaten) zurückgegangen, dafür dauert die Ausbildung im Schnitt wesentlich länger, obwohl wir zu den Ländern mit der geringsten Zahl an Hochschulabsolventen zählen. Insgesamt hat sich die Zahl der von den Berufstätigen zu erhaltenden jungen Menschen nicht so dramatisch verändert wie jene der Pensionisten, aber hier droht Gefahr für die Zukunft. Die Bevölkerungsstatistiker sagen uns, dass ohne Wanderungsbewegungen die Zahl der Berufstätigen in den kommenden Jahrzehnten sehr spürbar zurückgehen wird. Damit würde sich das Problem des Verhältnisses zwischen Berufstätigen und Pensionisten noch weiter verschärfen. Daran könnte (und das auch nur mittelfristig) eine steigende Kinderzahl etwas ändern, die aber auch mit allen möglichen kostspieligen Unterstützungsprogrammen kaum in ausreichendem Ausmaß zu erreichen sein dürfte. Eine andere Möglichkeit wäre der Zustrom von Berufstätigen aus dem Ausland, wogegen sich in Österreich die größere Regierungspartei (und in ihrem Schlepptau die Gesamtregierung unseres Landes) allerdings mit größter Heftigkeit wehrt.

Verteilungsprobleme

Wenn man sich einmal darüber im Klaren ist, wie man das Problem der Verteilung des Volkseinkommens zwischen Berufstätigen und Pensionisten regeln will, muss man sich natürlich auch mit den Methoden der Finanzierung der gewählten Verteilungsstrategie befassen. Kein vernünftiger Mensch (einzelne so genannte Finanzfachleute beweisen mit ihrem Widerspruch nur, dass sie nicht vernünftig, sondern nur geldgierig sind) wird bezweifeln, dass das in Europa bewährte Umlagesystem (das heißt, die Pensionen werden aus den Einkommen der Berufstätigen finanziert) die Hauptsäule unseres Pensionssystems bleiben soll und wird. Daneben kann es aber auch durchaus sinnvoll sein, eine ergänzende Finanzierung aus angesparten Beträgen (also aus dem Kapitaleinkommen in unserer Volkswirtschaft) heranzuziehen. Ein Ansatzpunkt könnten dabei durchaus auch die von den Unternehmen für Abfertigungszahlungen zurückgestellten Beträge sein. Solche Gedanken wurden zum Beispiel bereits 1975 am 8. Bundeskongress des ÖGB zur Diskussion gestellt.

Arbeitnehmergelder und Mitbestimmung

Bei allen solchen Überlegungen sollte man aber nicht außer Acht lassen (die Unterlagen zum 8. Bundeskongress sind darauf stark eingegangen), dass es sich dabei um Gelder der Arbeitnehmer handelt und dass sie daher ein Recht auf einen entsprechenden Einfluss auf die Veranlagung dieser Gelder haben. In manchen Ländern sind von Arbeitnehmern und Gewerkschaften kontrollierte Pensionsfonds wichtige Teilnehmer auf dem Kapitalmarkt, die ihren Einfluss auf die Unternehmen, an denen sie Aktien besitzen, in vielfältiger Form geltend machen. Es gibt (auch in Österreich) allerdings Finanzfachleute, die das nicht gerne hören.

Dennoch wäre es ein Unsinn zu glauben, wir würden irgendwann in absehbarer Zeit in der Lage sein, unsere Pensionen ausschließlich aus dem Einkommen eines angesparten Kapitalstockes zu finanzieren. Dafür wäre selbst das gesamte Kapitaleinkommen im Rahmen des Volkseinkommens unseres Landes bei weitem zu wenig.

Um zum Anfang zurückzukehren: Der medizinische Fortschritt stellt auch unser gesamtes System der sozialen Vorsorge vor gewaltige neue Aufgaben. Es ist heute noch nicht abzusehen, wie wir diese Aufgaben im Detail lösen werden. Aber es steht sicher dafür, auch im Trubel der notwendigen täglichen Entscheidungen diese längerfristigen Aspekte und Entwicklungen nicht aus den Augen zu verlieren. Denn je früher man die Probleme angeht, um so allmählicher und sanfter kann jeder notwendige Übergang gestaltet werden. Daher sollten wir uns schon jetzt mit allen diesen Problemen ernsthaft befassen.

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(C) AK und ÖGB

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