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35-Stunden-Woche in Frankreich
Gertrude Degenhardt: 35 Stunden sind genug. 1979. Tempera auf Holz

35-Stunden-Woche in Frankreich | Zwei Jahre Erfahrung

Das Experiment der Arbeitszeitverkürzung in Frankreich ist noch nicht abgeschlossen. Doch dieser Überblick über die Situation und über die (Zwischen-) Ergebnisse kann auch bei den Diskussionen in unserem eigenen Land als Orientierung dienen.

Bei ihrer Amtsübernahme im Juni 1997 war die Regierung der »pluralen Linken« (Sozialisten, Kommunisten und Grüne) mit einer Arbeitslosigkeit von mehr als 3,1 Millionen konfrontiert gewesen: Das entsprach 13 Prozent der aktiven Bevölkerung. Mehr als 20 Jahre hindurch hatte es zahlreiche Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen gegeben. Die Erfolge waren jedoch trotz hoher Kosten eher bescheiden.

Das Übel, das die französische Gesellschaft untergräbt, konnte nicht beseitigt werden. Arbeitslosigkeit und Unterstützungsgelder kosteten mehr als 350 Milliarden Franc (700 Milliarden Schilling) pro Jahr aus dem Haushaltsbudget. Fast jeder vierte Jugendliche (unter 25) war ohne Arbeit, Frauen und Ältere waren besonders betroffen. Das bedrohte Gleichgewicht der politischen Gesellschaft Frankreichs zeigte sich am Aufstieg einer extrem rechten Partei, die in zahlreichen Gemeinden an die Macht kam und in vielen Regionen die herrschenden Koalitionen von Rechten oder Linken gefährdete.

Arbeitgeber und Gewerkschaften verhandelten schon seit über fünfzehn Jahren über die Senkung der Arbeitszeit: ohne Ergebnis. Ein neuerlicher Versuch war 1995 unternommen worden, mit eher mageren Resultaten. Die sozialistische Regierung rief im Sommer 1997 neuerlich die sozialen Akteure zusammen. Weil sie zu keinem Einverständnis gelangten, beschloss die Regierung, den legislativen Weg in Richtung 35-Stunden-Woche einzuschlagen.

Ein legislativer Weg in drei Etappen - ein experimentelles Gesetz vor den definitiven Gesetzen

Die Idee, auf gesetzlichem Weg eine Arbeitszeitsenkung von 39 auf 35 Stunden zu erlassen, erschien »extravagant« und geschah abseits der laufenden politischen Prozesse. Die Linksregierung stützte sich auf die Erfahrung eines Gesetzes, das bereits 1996 1) von der Rechtsregierung verabschiedet worden war.

Dieses hatte die Unterzeichnung von etwa 1500 Verträgen ermöglicht und die öffentliche Meinung und sozialen Kräfte auf das Interessante und die Schwierigkeiten dieser Vorgangsweise aufmerksam gemacht. Die Regierung schlug vor, den Weg zur Arbeitszeitverkürzung in drei Etappen einzuteilen. Ein Gesetz vom Juni 1998 legte die Bedingungen einer experimentellen Verhandlungsperiode von 18 Monaten fest. In dieser Zeit sollten Unternehmen oder Branchen über die Senkung der Arbeitszeit von 39 auf 35 Stunden verhandeln.

Wurde dies erreicht und konnten zudem neue Arbeitsplätze geschaffen werden, gewährte der Staat fünf Jahre hindurch finanzielle Unterstützung. Bezüglich der Löhne sah das Gesetz nichts vor. Die Verhandlungspartner hatten über deren Anpassung an die neuen Arbeitszeiten zu entscheiden.

Die zweite Stufe war der Evaluierung gewidmet; ein zweites Gesetz per Anfang 2000 legte die allgemeinen Bedingungen (Jahres- und Wochenarbeitszeit, Flexibilitätspielräume) fest, in deren Rahmen Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmern die 35 Stunden verhandeln sollten. Ein drittes Gesetz regelt, wie die kleineren Unternehmen die Arbeitszeitverhandlungen ab Anfang 2002 praktizieren werden.

Staatsinterventionismus?

Die Arbeitgeberorganisationen konnten diesem Gesetz, das vorwiegend »experimentellen« Charakter hat, nichts abgewinnen. Sie lehnten es strikt ab, über eine allgemeine Senkung der Arbeitszeit zu verhandeln. Beklagt wurde auch der »Staatsinterventionismus« im sozialen Bereich bei gleichzeitiger Verwendung öffentlicher Gelder, um Arbeitszeitverkürzung zu erleichtern.

Die Unternehmerseite erwartete sich von all dem keine Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt, sondern fürchtete durch weitere Verpflichtungen eine Stagnation der Wirtschaft. Auch auf Seite der Gewerkschaften dominierte die Skepsis. Die einen fürchteten kümmerliche Ergebnisse der Verhandlungen in den Unternehmen durch Arbeitgeberdruck. Die anderen eine Verschlechterung sozialer Normen zugunsten dezentralisierter Verhandlungen.

Besondere Skepsis galt den Verhandlungen in kleinen Unternehmen ohne Gewerkschaft 2). In diesem Fall gestattet es das Gesetz, dass Arbeitnehmerdelegierte das Einverständnis der Gewerkschaften mit den Klauseln des Vertragsprojektes einholen. Das Gesetz brachte trotzdem viele Unternehmen dazu, über eine Senkung der Arbeitszeit zu verhandeln: Schließlich war damit eine finanzielle Unterstützung verbunden.

Die Gewerkschaften sind daran wegen der Schaffung von Arbeitsplätzen interessiert. Zwei wesentliche Folgen: Einerseits sind die nationalen Berufs- oder Branchenverbände, die gegen das Gesetz sind, de facto durch ihre Mitglieder desavouiert. Andererseits müssen die Unternehmen mit ihren Arbeitnehmern verhandeln, um Unterstützung zu bekommen - kein Abkommen, keine Finanzspritze.

Die Glaubwürdigkeit der Arbeitgeber

Die Arbeitgeberorganisationen der Branchen sahen sich so quasi zu Verhandlungen gezwungen. Sie fürchteten, dass die erzielten Ergebnisse einzelner Unternehmen als Grundlage zur Erarbeitung des zweiten Gesetzes herhalten könnten. Deutlich wurde auch, dass jene Unternehmen, die in dieser Periode Verhandlungen eröffneten, besser um die sozialen Bedingungen Bescheid wussten.

Es ging also auch um die organisatorische Glaubwürdigkeit. Schließlich war ein Diskurs gegen das Gesetz nicht aufrechtzuhalten, der von den Einzelorganisationen nur aufgrund von Partikularinteressen geführt wurde. Daher starteten hunderte Branchen vom Erscheinen des Gesetzes an mit den Verhandlungen, um nationale Standards an die Unternehmensverhandlungen zu knüpfen.

Aber die erzielten Abkommen zur Senkung der Arbeitszeit konnten auf dieser Ebene nur allgemeinen Charakter haben. Meist waren die Besonderheiten der einzelnen Unternehmen zu markant, als dass Branchenabkommen einfach von Tausenden betroffenen Unternehmen übernommen werden konnten.

Daher kamen relativ wenig Branchenabkommen zustande, die eine Gewährung staatlicher Hilfe durch deren direkte Anwendung autorisierten. Eine ergänzende Verhandlung auf Unternehmensebene war dafür nötig. Im Verhandlungsprozess stehende Unternehmen meinten zudem, dass die Auswirkung der Branchenverhandlungen auf ihre eigenen sehr schwach waren (MES. 1999, Seite 30).

Die Bilanz des ersten Gesetzes im Herbst 1999

Eine Bilanz der experimentellen Periode wurde angesichts des zweiten Gesetzes im September 1999 gezogen. Zu dieser Zeit waren mehr als 15.000 Unternehmensabkommen unterzeichnet. Sie betrafen 2,2 Millionen Lohnabhängige (von 12 Millionen aus der Privatwirtschaft, einschließlich Kleinbetrieben) und sie ermöglichten die Schaffung von 108.000 und die Erhaltung von 12.000 Arbeitsplätzen.

Die Arbeitszeit wird im Allgemei- nen auf Jahresbasis berechnet; die Abkommen berührten nicht die vorheri-gen sozialen Errungenschaften bezüglich des Jahresurlaubs (fünf Wochen) und die Feiertage. Gegebenenfalls werden Urlaubstage oder -wochen zusätzlich gewährt, um auf durchschnittlich 35 Wochenstunden zu kommen.

Die Verhandlungen kombinierten im Allgemeinen mehrere Arten von Stundenregelungen in ein und demselben Unternehmen oder demselben Dienstleistungssektor (Senkung der Tages- oder Wochenarbeitszeit, Ansammlung von Freistunden auf Tage oder Wochen etc.). Die Zeitberechnung blieb äußerst vage; die interne Organisation war stark gefordert, wollte sie diese neuen Zeitpläne umsetzen.

Die große Mehrheit der Abkommen war offensiv und brachte neue Arbeitsplätze. In fast allen Fällen, nämlich zu 90 Prozent, blieben die Gehälter unangetastet, was de facto einen Anstieg des Stundenlohnes von 11,4 Prozent bedeutete. Im Gegenzug wurden die Lohnverhandlungen vertragsmäßig über einen mehr oder weniger längeren Zeitraum unterbrochen. Klauseln zum Wirtschaftsergebnis wurden oft formuliert, um die Wiederaufnahme von Verhandlungen anzukurbeln.

Die Dauer der Arbeitswoche wurde manchmal flexibel auf das Jahr berechnet gehalten, um komplexere oder spezifischere Anpassungen zu ermöglichen. Die vorgesehene maximale Wochenarbeitszeit wurde häufig mit 42 Stunden begrenzt und erreichte in seltenen Fällen die frühere Grenze von 48 Stunden.

Die neu geschaffenen Arbeitsplätze wurden in die neue Stundenlohntabelle einbezogen. Neue Arbeitsplätze kommen oft qualifizierten Arbeitnehmern zugute. Fachkräfte in wichtigen fachlichen oder hierarchischen Funktionen unterliegen nicht dem Stundenabzug.

Für sie sind freie Tage vorgesehen, die sie über das Jahr gemäß einem Durchrechnungszeitraum nehmen können (das werden im zweiten Gesetz 217 Tage sein). Fast die Hälfte der Unternehmen, die in dieser Phase verhandelt haben, beschäftigt weniger als zwanzig Arbeitnehmer, 70 Prozent weniger als fünfzig, wobei das zweite Gesetz nicht vorsieht, sie einzuschließen.

Diese Verhandlungen folgten häufig der oben erwähnten Vorgangsweise. Abkommen wurden in etwa hundert Branchen unterzeichnet, wo die Bestimmungen nur in seltenen Fällen im Widerspruch zu den allgemeinen Tendenzen in den Unternehmen stehen.

Das zweite Gesetz: die wichtigsten Bestimmungen

Das zweite Gesetz griff diese Erfahrungen auf, um den möglichen Diskussionsrahmen in Branchen und Unternehmen abzustecken. Die wichtigsten Bestimmungen: Ein Durchrechnungszeitraum von 1600 Stunden ist die offizielle Jahresarbeitszeit, die offizielle Wochenarbeitszeit beträgt 35 Stunden.

Die gesetz- liche Urlaubsdauer und die Feiertage bleiben unangetastet. Jährlich können 130 Überstunden geleistet werden. Überstunden von zwischen 35 und 43 Stunden sind um 25 Prozent hinaufgesetzt (oder Zeitausgleich von 125 Prozent). Ab der 43. Stunde liegt die Rate bei 50 Prozent (oder äquivalenter Zeitausgleich). Branchenverhandlungen können den Überstundensockel anheben. Aber ab der 130. Überstunde muss der Zeitausgleich genommen werden.

Hat ein Unternehmen ein Zeitmodell, wo die Wochenarbeitszeit im jährlichen Durchrechnungszeitraum berechnet wird, werden die Überstunden auf 90 pro Jahr reduziert. Dieses Zeitmodell muss verhandelt wer- den und leitet sich nicht, wie vorher, einfach von der Anwendung des Gesetzes ab. Das zweite Gesetz sieht Unterstützung beim Übergang zur 35-Stunden-Woche vor.

Je geringer der Lohn, umso geringer die Lohnnebenkosten: Niedrigere Einkommen werden demnach bevorzugt. Sie können Unternehmen zugute kommen, die mit den Arbeitnehmervertretern ein Abkommen zur Arbeitszeitsenkung unterzeichnen, ohne sofortige Arbeitsplatzbeschaffung.

Das monatliche Mindestentgelt (vom Staat festgelegt: bei etwa 6800 Franc) wird nur bei Senkung der Arbeitszeit abgeändert. Die Verhandlungen um die anderen Löhne bleiben offen.

Die Ergebnisse für den Arbeitsmarkt und die wirtschaftlichen Folgen

Anfang März 2000 zählte das Arbeitsministerium 27.000 Unternehmensabkommen, die drei Millionen Lohnabhängige und 175.000 neue oder bewahrte Arbeitsplätze betrafen. Dazu gehören die zahllosen Unternehmen, die direkt die 132 Branchenabkommen - betreffend zehn Millionen Erwerbstätige - angewendet haben.

Die Arbeitszeitverhandlung kam in einem für die nationale Wirtschaft besonders günstigen Moment; sie brachte seit 1997 durchschnittlich mehr als 300.000 Arbeitsplätze pro Jahr. Über die Qualität der durch Arbeitszeitsenkung geschaffenen Arbeitsplätze kann man diskutieren.

Außer Diskussion aber steht, dass sie keineswegs die befürchtete wirtschaftliche Katastrophe verursacht hat:Das Wachstum war in Frankreich während dieser Verhandlungsphase stärker als in den meisten anderen europäischen Ländern und wurde durch anhaltenden internen Konsum gestützt.

Die Vielfalt der Unternehmensverhandlungen zeigt, dass die Senkung der Arbeitszeit relativ unabhängig von der wirtschaftlichen Situation der einzelnen Unternehmen ist: Die Senkung der Arbeitszeit um mehr als 11 Prozent, mit neuen Arbeitsplätzen, verlangt eine komplette Umorganisierung der Produktion, die sehr wohl zum Vorteil von Unternehmen sein könnte, die sich in Schwierigkeiten befinden.

Sie ermöglicht substantielle Verbesserungen der Produktivität. Durch sie werden Maschinen und Anlagen besser ausgelastet (viele Unternehmen öffnen sechs Tage pro Woche statt wie früher fünf), ohne dass die Arbeitnehmer gezwungen sind, mehr Wochentage zu arbeiten:

Im Gegenteil!

Allein durch Arbeitszeitverkürzung werden neue Kräfte auf den Arbeitsmarkt geholt oder dort behalten, die früher oft durch die lange Arbeitszeit davon ferngehalten wurden (besonders Frauen). Die Arbeitszeitverkürzung schadet keineswegs dem verfügbaren Arbeitsvolumen im Wirtschaftsgefüge.

Sicher braucht die Arbeitszeitverkürzung vor allem soziales Know-how innerhalb der Unternehmen. Die soziale Akzeptanz steigt, je eher die Lohnabhängigen an den Verhandlungen beteiligt werden. Umfragen zeigen, dass nach einem Jahr der Praxis 80 Prozent jener Arbeitnehmer, die 35-Stunden-Wochen haben, mit den neuen Bedingungen zufrieden sind. Und die französische Wirtschaft wird 2000 eine Wachstumsrate zwischen 3,7 und 3,9 Prozent haben, also weit über dem europäischen Durchschnitt.

Die Arbeitslosigkeit wurde dank des Wachstums, der Maßnahmen zur Jugendbeschäftigung und der Arbeitszeitverkürzung seit Juni 1997 von 13 auf zehn Prozent gesenkt.

1) Im Mai 1996 brachte der liberale Abgeordnete G. de Robien in der Nationalversammlung ein Gesetzesvorhaben zur Abstimmung, das die Arbeitszeitverkürzung, kompensierende Personaleinstellungen und staatliche Subventionen miteinander verband. Arbeitgeberverbände und einige Gewerkschaften kritisieren es als verdeckte Form von Arbeitsplatzsubvention.

2) In Frankreichs Unternehmen sind es die Gewerkschaften, die verhandeln, und nicht die gewählten Instanzen, die es ab zehn Arbeitnehmern gibt. Gleichzeitig ist aber der gewerkschaftliche Organisationsgrad sehr gering (durchschnittlich neun Prozent, im Privatsektor sicher nicht über fünf Prozent) und in Kleinbetrieben im Allgemeinen überhaupt bei null.

Bibliographie

Dufour Christian (1999): Die 35-Stunden-Frage in Frankreich - Verhandlung oder Zwang? Kurswechsel 4/1999, S. 79-89

Dufour Christian, Adelheid Hege, Catherine Vincent, Mouna Viprey (1999):
Le mandatement dans le cadre de la loi du 13 juin 1998, Paris. IRES.

MES (Ministère de l’Emploi et de la Solidarité, 1999): Les enseignements des accords sur la réduction du temps de travail, Tome I, septembre.

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