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Zwischen Rot und Grün | Bemerkungen zur Zukunft des Beschäftigungsproblems

Schwierige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge lassen sich schwer »einfach« darstellen. Für diejenigen, die diese Zusammenhänge erkennen wollen, bietet sich in diesem Beitrag eine Möglichkeit. Der Autor sieht drei Strömungen, die sich um Lösungen bemühen: die traditionelle Gewerkschaftsbewegung (einschließlich dem linken Flügel sozialistischer Parteien), die Frauenbewegung und die ökologische Bewegung.

»Es gilt, aus dem Teufelskreis auszubrechen, dass wir immer mehr an Produktion, an Leistung aus uns herauspressen, um den Wert jener Freizeit zu steigern, der ja doch infolge der Arbeitsbelastung sinkt«.
(Erwin Weissel 1997)

Die siebziger Jahre brachten eine entscheidende Zäsur in der ökonomischen und politischen Nachkriegsentwicklung der kapitalistischen Staaten. Ein gesellschaftlicher Konsens ermöglichte in den Nachkriegsjahren eine breite Akzeptanz wohlfahrtsstaatlicher Konzepte. Insbesondere sollten Arbeitslosigkeit und extremer Protektionismus zurückgedrängt werden. Dieser Konsens konnte zustande kommen, weil auf ökonomischer Seite mehrere günstige Bedingungen (Nachkriegs-Wiederaufbau, rückgestaute Konsum- und Investitionsnachfrage etc.) sowie erweiterte theoretische und wirtschaftspolitische Erfahrungen zur Verfügung standen und auf politischer Seite ein durch die soziale Aufbruchstimmung der dreißiger und vierziger Jahre verschrecktes Bürgertum eine größere Konzessionsbereitschaft in Richtung einer aktiveren Sozial- und Beschäftigungspolitik an den Tag legte.

»Goldene« Sechziger

Dieser Konsens führte zu jener »goldenen« Periode der sechziger Jahre, die eine für die Geschichte des Kapitalismus ungewöhnlich lange Zeitspanne hohen Wachstums und hoher Beschäftigung mit sich brachte. Sehr bald zeigte sich jedoch, dass diese willkommenen Resultate zum Teil mit anderen ökonomischen Zielen und Erfordernissen, insbesondere Preisstabilität und Zahlungsbilanzgleichgewicht, in Konflikt kommen können. Daraus entstand das Problem der so genannten »magischen Vielecke«, das heißt der Schwierigkeit, mehrere miteinander in Konflikt stehende Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Aber im Rahmen des Konsenses für die grundlegenden Ziele der Beschäftigung und des Wachstums bemühte man sich, möglichst tragbare wirtschaftspolitische Wege und Kompromisse zu finden (zum Beispiel Lohn- und Preispolitik), um eventuell notwendige Abstriche in der einen oder anderen Zielsetzung in Grenzen zu halten.

Im Laufe der siebziger Jahre begann dieses System allmählich abzubröckeln und schließlich ganz zusammenzubrechen: Die expansiven Kräfte des nachkriegsbedingten Aufbau- und Nachholbedarfs waren erschöpft und erste Anzeichen eines wiederauflebenden Konjunkturzyklus machten sich schon zu Ende der sechziger Jahre bemerkbar; die andauernd hohe Beschäftigung und die inflationistische Finanzierung des amerikanischen Vietnamkriegs verschärften das Inflationsproblem und führten zum Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems; und schließlich versetzte der Ölpreisschock (1973) der bereits labilen Situation einen weiteren Stoß. Diese äußeren Umstände mussten wohl unweigerlich eine Störung des »goldenen« Zustands der sechziger Jahre herbeiführen. Aber nichts sprach dagegen, dass man nach einigen notwendigen Korrekturen wieder einigermaßen auf den früheren wirtschafts- und sozialpolitischen »Erfolgskurs« zurückkehren könne.1)

Dass dies nicht geschah, hatte seinen entscheidenden Grund in tief greifenden Umschichtungen in der gesellschaftlichen Macht- und Interessenlage. Zu Beginn der siebziger Jahre hatte die Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit mit ihrem starken Druck für Reformen ihren Schwung verloren, und die konservativen Strukturen früherer Jahre hatten wieder Fuß gefasst. Dies bedeutete, den Sozialstaat und die Gewerkschaften mit ihren Ansprüchen auf hohe Beschäftigung und materielle Absicherung zurückzudrängen und es den privaten Kapitalinteressen zu ermöglichen, auf »freien« Märkten Gewinn bringend disponieren zu können. Gestützt auf zum Neoliberalismus aufpolierte alte liberale ökonomische Ideen und Forderungen wurde der Konsens der sechziger Jahre aufgekündigt. Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit verschwanden aus der aktuellen Agenda mit vagen Andeutungen, dass diese Ziele - soweit sie »effizient« und wünschenswert seien - automatisch vom funktionierenden Markt abgedeckt werden würden.

Störungsanfälligkeit der »freien« Marktwirtschaft

Wie nicht anders zu erwarten, konnten diese Aussichten nicht realisiert werden. Die historisch belegte Störungsanfälligkeit einer »freien« Marktwirtschaft kam wieder deutlich zum Zug und schlug sich bei wachsender weltweiter Deregulierung (GATT, WTO, IMF, OECD etc.) und insbesondere in der Europäischen Union mit ihrem extrem einseitigen kapitalfreundlichen Maastricht- und Stabilitätsprogramm in wachsenden Einkommensdifferenzen, Armutsproblemen und vor allem in einer von Konjunkturzyklus zu Konjunkturzyklus steigenden Arbeitslosigkeit nieder.

Insbesondere in Westeuropa, wo die offizielle Propaganda ihre radikal-neoliberale Wirtschafts- und Währungspolitik in einem »Crash-Kurs« unterstützte, lässt sich diese Diskrepanz zwischen interessenorientierter Aktivität und politisch opportunen Versprechungen besonders deutlich erkennen. Zu Beginn der neunziger Jahre, als eine Beschleunigung des Deregulierungs- und Integrationsprozesses und die Einführung einer gemeinsamen Währung in Angriff genommen wurde, häuften sich die optimistischen Prognosen und Versprechungen, wie positiv sich diese konservativen »wirtschaftsfreundlichen« Maßnahmen schon nach wenigen Jahren auswirken würden. Die Realität sah und sieht anders aus. Die Arbeitslosigkeit war im Verlauf dieser Jahre nicht nur nicht gesunken, sondern in nahezu allen Ländern weiter gestiegen.

Eklatante Misserfolge im Beschäftigungsbereich zudecken?

Um die Wirkung dieser enttäuschenden (aber von manchen Ökonomen vorhergesagten) Entwicklung zu entschärfen, wurde noch mehr als zuvor eine dominierende Priorität des Preisstabilitätsziels und der Budgetbeschränkungen in den Vordergrund geschoben und die Beschäftigungsfrage vernachlässigt. Die Erfolge auf dem Gebiet der Inflationsbekämpfung und der Jubel über die Geburt des EURO sollten den eklatanten Misserfolg im Beschäftigungsbereich zudecken. Aber die Realität der Arbeitslosigkeit konnte schließlich nicht weiter heruntergespielt werden. Sie bewirkte einen politischen Druck, der sich allmählich in den Wahlergebnissen niederschlug und schließlich dazu führte, dass die Beschäftigungsfrage wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt wurde.

Dort nimmt sie jetzt wieder einen breiteren Raum ein. Zunächst allerdings überwiegend nur in der politischen Rhetorik. Politisch und wirtschaftspolitisch hat sich bisher noch wenig bewegt. Nach wie vor wird eine Wirtschaftspolitik verfolgt, die neoliberal orientiert und auf die Interessen der großen Industrie- und Finanzkonzerne zugeschnitten ist. Verstärkte Anstrengungen, die Probleme allein durch Flexibilisierung und Schulung der Arbeitskräfte sowie Lohnsenkungen in den Griff zu bekommen, scheitern am Mangel einer makroökonomischen Beschäftigungspolitik. Sie führen vielfach nur zu zusätzlicher Frustration, wenn »lebenslanges Lernen« und der Verzicht auf soziale Errungenschaften seitens der Arbeitnehmer nicht die erwünschte Landung auf einem Arbeitsplatz ermöglichen.

Drei gesellschaftliche Strömungen

Die rahmenbedingten Beschränkungen beschäftigungspolitischer Initiativen durch die herrschende neoliberale Ausrichtung kann nicht genügend betont werden. Ohne eine Reform der Rahmenbedingungen können die Anstrengungen einzelner Regierungen nur sehr beschränkt erfolgreich sein. Zwei Folgerungen ergeben sich aus dieser Situation. Die erste betrifft vor allem die politische Szene. Europäische Parteien und Regierungen, die aufgrund ihrer Bereitschaft, die Arbeitslosigkeit drastisch zu reduzieren, demokratisch gewählt wurden, sind zu Misserfolgen verurteilt. Wenn sie zudem nicht bereit sind, die neoliberalen Rahmenbedingungen und die hinter ihnen liegenden Interessen und Kräfte anzugreifen, müssen sie früher oder später diskreditiert werden. Das öffnet populistischen und demokratiefeindlichen Entwicklungen Tür und Tor. Die zweite Folgerung, die mit der ersten eng verknüpft ist, läuft darauf hinaus, dass wirksame Vorschläge und Strategien zur »Lösung« der Arbeitsmarktprobleme nur von gesellschaftlichen Gruppen kommen können, welche nicht vor einer zumindest teilweise kapitalismuskritischen (Kapitalismus in der heutigen neolibera- len Globalform) Haltung zurückschrecken.

In dieser Richtung bieten sich heute drei gesellschaftliche Strömungen an: 1. die traditionelle Gewerkschaftsbewegung (einschließlich dem linken Flügel sozialistischer Parteien); 2. die Frauenbewegung und 3. die ökologische Bewegung.

Gemeinsames: Kritik am »Turbo«-Kapitalismus

Die Gemeinsamkeit der drei Strömungen besteht in einer kritischen und reformorientierten Einstellung gegenüber der herrschenden Dominanz eines neoliberal inspirierten deregulierten »Turbo«-Kapitalismus. Aber wenn es um konkrete Kritikpunkte und anzustrebende Reformen geht, so lassen sich deutliche Unterschiede in den Perspektiven der drei Gruppen erkennen. Für die Arbeiterbewegung steht die gegenwärtige hartnäckige immer wiederkehrende Tendenz zu Arbeitslosigkeit im Mittelpunkt: Die sofortige und dauernde Beseitigung dieser Bedrohung der gesamten Arbeiterschaft durch die ökonomisch und sozial negativen Wirkungen der Arbeitslosigkeit. In der Frauenbewegung geht es vor allem um ein Verteilungsproblem. Die Diskriminierung der Frauen soll beseitigt werden. Bei der ökologischen Perspektive schließlich geht es um die Herstellung eines ökologisch verträglichen Wirtschafts- und Arbeitsprozesses, der ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum ermöglichen soll.

Konflikte zwischen »Rot« und »Grün«

Dies sind drei verschiedene Zielpunkte, die aber nicht unbedingt in Widerspruch zueinander stehen. So ist zum Beispiel Vollbeschäftigung für alle Beteiligten als wünschenswerter »Hintergrund« akzeptiert. Die Forderungen der Frauen können im Prinzip ohne Schwierigkeit in die beiden anderen Zielsetzungen eingebaut werden, wenn die politischen Widerstände seitens der davon betroffenen Unternehmen und/oder Berufsgruppen überwunden werden. Eine prinzipielle Schwierigkeit ergibt sich hingegen bei einer Konfrontation der Ziel- und Strategievorgaben der »Arbeiter« einerseits und der »Ökologen« andererseits. Hier treffen wir auf einige schwer vereinbare Anforderungen und Perspektiven, welche verschiedene nicht leicht lösbare Probleme aufwerfen. Diese Probleme sollen jetzt behandelt werden.2)

Will man die Ursachen für Konflikte zwischen »Rot« und »Grün« in komprimierter Form andeuten, so entspringen sie letzten Endes Unterschieden in der Gewichtung alternativer zeitlicher Perspektiven. Für das rote Vollbeschäftigungsziel steht der unmittelbare sozio-ökonomische Druck der Arbeitslosigkeit im Vordergrund. Die »Grünen« hingegen, mit ihrer Betonung des längerfristigen Konflikts einer im heutigen Stil ständig wachsenden Wirtschafts- und Arbeitswelt und einer begrenzten Natur, sehen vor allem die Dringlichkeit von Änderungen in den Grundlagen der Wachstums- und Arbeitsphilosophie.

Humanistische Ziele

Beides sind offensichtlich humanistische Ziele, welche es mit dem beliebten Bekenntnis, dass »der Mensch im Mittelpunkt stehe«, ernst nehmen. Es sind auch nicht prinzipiell unterschiedliche Ziele. Aber wenn es zu praktischen Fragen der Arbeitswelt und der Wirtschaftspolitik kommt, stellt sich heraus, dass die unterschiedliche Gewichtung der Perspektiven zu schwer überbrückbaren Gegensätzen führen kann oder muss.

Ein Hauptproblem, das hinter all den noch zu besprechenden Schwierigkeiten steht, betrifft eine gewisse »time-inconsistency« welche eine kombinierte »rot-grüne« Strategie mit sich bringt. Es ist ja nicht so, dass wir es mit einem einfachen, klar abgegrenzten Zweiperiodenschema zu tun haben, mit dem gegenwärtigen Kapitalismus mit seinen Wachstumserfordernissen als Grundlage für Gewinne, Investitionen, Konkurrenzfähigkeit und eine darauf aufbauende Vollbeschäftigungspolitik, dem dann später eine neue Ära folgen muss, in der der Produktionsfortschritt einerseits und ökologische Zwänge andererseits (nebst sozialen Erfordernissen) entscheidende Änderungen erzwingen werden, durch die Wachstum und Erwerbsarbeit zum Teil reduziert und zum Teil umgemodelt werden müssen, mit dem Ziel, ausreichende Ressourcen- und Energieersparnisse zu ermöglichen. Wenn dem so wäre, so könnte man wenigstens einigermaßen konsistente Pläne entwerfen, welche zunächst eine »rote« Beschäftigungsstrategie unterstützen, von der man dann auf »grüne« Strategien umsteigt. In Wirklichkeit haben wir es jedoch mit allmählichen Übergängen in einer dynamischen Welt zu tun.

Diese Umstände schaffen selbstverständlich Probleme für viele in die Zukunft reichende Überlegungen, wie zum Beispiel Fragen der öffentlichen Infrastruktur, langfristiger Investitionen usw. Aber sie erhalten eine besonders einschneidende Bedeutung, wenn es um Fragen der Arbeitspolitik geht. Und dies aus dem einfachen Grund, weil es hier im Gegensatz zu Sachinvestitionen um Menschen geht. Intensiviert wird dieser Unterschied durch den Umstand, dass den Menschen betreffende Umstellungen, wie sie der Arbeitsprozess erfordert, emotionelle und soziale Effekte ins Spiel bringt. All dies hat einen Einfluss bei jeder Änderung in den äußeren Umständen des Arbeitsmarkts. Aber während das normalerweise nur kleinere Probleme und Anpassungen nach sich zieht, gewinnen diese bei einem so umwälzenden Prozess, wie wir ihn hier im Auge haben, weit bedeutendere Dimensionen.

Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer beschäftigungsorientierten Politik

Es geht hier um die Frage, welche Schwierigkeiten bzw. welche Möglichkeiten für eine beschäftigungsorientierte Politik bestehen, wenn man sowohl das »rote« als auch das »grüne« Anliegen im Auge hat. Dabei wird angenommen, dass sich die kommende »ökologische« Periode, begleitet von weiterem technischen Fortschritt und einer wachsenden Arbeitsproduktivität, von der heutigen Situation, was den Arbeitssektor betrifft, vor allem dadurch unterscheiden wird, dass ressourcenverzehrende Produktions- und Konsumtendenzen eingebremst werden und die Erwerbsarbeit drastisch zugunsten von Freizeit verringert wird, die (eventuell verknüpft mit einem Grundeinkommen) für Eigenarbeit, Bildung, Muße etc. verwendet werden kann. Die Erwerbsarbeit wird weiterhin durch den technischen Fortschritt vielfach rasch wechselnde Formen annehmen und eine hohe Flexibilität erfordern, wie dies zum Teil schon heute der Fall ist.

Von entscheidender Bedeutung ist, dass die »ökologische« Welt nicht nur andere Institutionen und Technologien brauchen wird, sondern auch einen anderen Menschen. Der heutige »moderne« Mensch ist zu einem Individuum sozialisiert worden, das die Erwerbsarbeit als einen Lebensmittelpunkt empfindet. Ausreichende und möglichst ertragreiche Erwerbsarbeit wird nicht nur Mittel zum Zweck, sondern ein unmittelbares Lebensziel. Für diesen Menschen und auf diesen Menschen ist eine unmittelbare (»rote«) Vollbeschäftigungspolitik genau zugeschnitten.

Die Zukunft des »postmodernen« Menschen

Eine ökologisch und auch technisch veränderte Zukunft muss sich von dieser unqualifiziert expansionshungrigen kapitalistischen Erwerbsgesellschaft unterscheiden und mit ihr auch der arbeitende Mensch. Dieser »postmoderne« Mensch wird weniger Zeit für Erwerbsarbeit aufbringen müssen und weit mehr Zeit für andere Tätigkeiten zur Verfügung haben. Lebenserfüllung und Arbeitszufriedenheit erfordert dann Menschen, die nicht mehr in der Erwerbsarbeit ihren dominierenden Lebensinhalt und die Bestätigung ihres sozialen Status suchen, sondern diese bloß als einen manchmal mehr, manchmal weniger geliebten Teil eines viel umfangreicheren Tätigkeitsbereichs sehen, mit dem die gewachsene Freizeit ausgefüllt wird. Die Formung solcher Menschen und Zustände erfordert aber tief greifende Änderungen in traditionellen Institutionen und Einstellungen. Erwerbsarbeit wird ihren hohen Stellenwert als Statusmerkmal verlieren müssen und mehr der Frage nach Sinn oder Unsinn von Tätigkeiten Platz machen. Weiters müssten Bildung und Ausbildung wieder weit mehr an alte humanistische Zielsetzungen anknüpfen und an den »ganzen« Menschen und seine Entwicklung denken, der es lernt, frei von Langeweile und Pensionsschock seine ihm zur Verfügung stehende Freizeit in einer für ihn sinnvollen Weise »lustbetont« auszufüllen.

Trägheit

Das entscheidende »Rot-Grün«-Dilemma ist nun die extreme Trägheit in der Wandlung gesellschaftlicher und individueller Wertvorstellungen und Normen. Die Gegenwart und die auf sie ausgerichtete Vollbeschäftigungsperspektive erzeugt und benötigt Menschen mit einer nicht nur ökonomisch bedingten starken Motivierung zur Teilnahme an der traditionellen Erwerbsarbeit. Dies mag für die mittlere und ältere Generation noch einigermaßen angemessen sein. Jüngere und künftige Jahrgänge werden in Bildung, Zeitplanung, Motivierung und Werthierarchien ganz andere Fähigkeiten und Vorstellungen haben müssen. Andererseits benötigt eine breite Umstellung auf die kommende alternative Welt einen langwierigen Lern- und Umdenkungsprozess. Die Spannweite zwischen diesen Positionen zeigt sich zum Beispiel in dem Gegensatz zwischen den weit verbreiteten gereizten Reaktionen gegen ein Grundeinkommen einerseits und der extremen Ablehnung traditioneller Berufskarrieren durch einige »Aussteiger« andererseits, welche die »Brüchigkeit« einer einseitigen Erwerbsphilosophie bereits avantgardistisch vorwegnehmen.3)

Zusammenfassung

Die Ausführungen haben versucht zu zeigen, dass es in dieser Hinsicht offensichtlich keine einfachen Rezepte geben kann. »Rot« und »Grün« sind beides humanistisch motivierte Entwürfe, die aber zum Teil auf einen schwer überbrückbaren »trade-off« in der Gewichtung der notwendigen Schritte und ihrer Periodisierung stoßen. Es sollte aber nicht übersehen werden, dass über weite Bereiche die beiden »Farben« durchaus problemlos im Gleichschritt marschieren können (bzw. könnten). Wie schon eingangs erwähnt wurde, vereint die beiden Gruppen eine Bereitschaft, die ihren Reformvorschlägen entgegenstehende Vorherrschaft der neoliberalen Philosophie eines völlig deregulierten Kapitalismus zu bekämpfen. Aber auch in positiver Hinsicht gibt es Gemeinsamkeiten. So ist die Forderung nach einer Fortsetzung der historischen Tendenz zu einer Kürzung der (Erwerbs-) Arbeitszeit sowohl im Sinne unmittelbarer Arbeitsplatzvermehrung wie im Sinne längerfristiger Akzeptanz sinnstiftender nicht erwerblicher Tätigkeitsmöglichkeiten von Bedeutung. Auch Flexibilität ist generell erwünscht, allerdings auch hier wieder mit unterschiedlichen Gewichten: kurzfristige Flexibilität der Qualifikation (»lebenslanges Lernen«?) zwecks größerer Beschäftigungseignung (Anpassung an heutige Wirtschaftsbedürfnisse) auf der einen Seite, (zusätzlich dazu) längerfristige Flexibilität in der Wahl alternativer Lebensstile (zum Beispiel geteilte Hausarbeit) auf der anderen. Letztendlich soll noch betont werden, dass bei allen Unterschieden, die es bezüglich der Reihung und Periodisierung von Zwischen- und Endzielen bei »Rot« und »Grün» gibt, beide doch im Prinzip dem gleichen »Endziel«, der gleichen »Utopie« zustreben:4) Die Schaffung einer Welt mit hoher ökonomischer Produktivität und hohem solidarischen Zusammenhalt, in der sich alle Menschen in ihrer Tätigkeit voll entfalten können.

LITERATURVERZEICHNIS
Bosch, G. (Hrsg.) (1998): Zukunft der Erwerbsarbeit. Strategien für Arbeit und Umwelt, Frankfurt/Main.
Falk, R. (1997): State of Siege: Will Globalization Win Out?, in: International Affairs vol. 73/1, 123-136.
Greenpeace und Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (1999): Wirtschaft ohne Wachstum?, Wiesbaden.
Kurz-Scherf, I., Senghaas-Knobloch, E. (1993): Arbeit zwischen Rationalisierung und gesellschaftlicher Modernisierung, Bonn.
Weber, F., Venus, T. (Hrsg.) (1993): Austro-Keynesianismus in Theorie und Praxis, Wien.
Weissel, E. (1997): Diskussionsbeitrag in Paul-Horn, I. (Hrsg.): Transformation der Arbeit. Prozesswissenschaftliche Erforschung einer Grundkategorie, Wien.
Dieser Beitrag ist leicht gekürzt aus der Festschrift für Erwin Weissel:
»Politische Ökonomie, Macht und Arbeitnehmerinstitutionen im Kapitalismus.«
Herausgegeben von Josef Schmee, Metropolis-Verlag Marburg 2000, Preis ca. S 480,-

1) Die in Österreich verfolgte Kreisky'sche »austro-keynesianische« Politik einer anhaltend beschäftigungsorientierten Strategie basierte auf dieser Annahme und versuchte, die Rückschläge durch ein »Durchtauchen« zu mildern bzw. zu vermeiden (Weber und Venus 1993).
2) Siehe dazu auch die verschiedenen Perspektiven in den Beiträgen in Greenpeace und Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (1999)
3) Ansätze zu einem Wertewandel beginnen sich, wie Umfrageergebnisse zeigen, seit den achtziger Jahren auf etwas breiterer Ebene bemerkbar zu machen (Kurz-Scherf und Senghaas-Knobloch 1993, 23 ff.). 4) Zu dieser Utopie haben sich so verschiedene »große Geister« wie Marx, John Stuart Mill und Keynes bekannt.

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