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Gewinn und Lohnsteuern in % des jeweiligen Einkommens
Privater verbrauch in den 90er Jahren

Vollbeschäftigung in Zeiten der Globalisierung?

Dieser Beitrag eines renommierten Wirtschaftsexperten enthält nicht nur massive Kritik an der gegenwärtigen Wirtschaftspolitik der Europäischen Union, die von einer Konzeptlosigkeit gekennzeichnet ist. Der Autor befürwortet einen Kurswechsel und weiß auch Auswege. Er war unter Lafontaine Staatssekretär im deutschen Finanzministerium. Wer sich die Mühe macht, diesen Beitrag zu studieren, dem können wir wiederum einige »Aha«-Erlebnisse garantieren.

Kann es Vollbeschäftigung noch geben? Die meisten Ökonomen und Wirtschaftspolitiker würden diese Frage mit einem eindeutigen »Nein« beantworten oder doch zumindest erhebliche Abstriche an der Definition dessen machen, was unter Vollbeschäftigung zu verstehen ist. Zu fundamental verändert scheint sich die Welt zu haben, als dass man einfach zurückkehren könnte zu Konzepten, die die »heile« Welt der fünfziger und sechziger Jahre gekennzeichnet hatten.
Doch einer genaueren Analyse halten solche pauschalen Urteile in der Regel nicht stand. Zwar hat es erhebliche Verwerfungen in der Weltwirtschaft in den letzten drei Jahrzehnten gegeben, keine der großen Krisen jedoch, wie sie etwa im Gefolge der Ölpreisexplosionen aufgetreten sind, gibt Anlass zu der Vermutung, die klassischen Instrumente der Wirtschaftspolitik wirkten nicht mehr.
Die wichtigsten Gründe für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit in Europa sind nicht in »zu hohen Kosten«, »strukturellen Verhärtungen auf dem Arbeitsmarkt« oder »mangelnder Flexibilität der Wirtschaft« zu suchen. Die entscheidende Ursache der Arbeitslosigkeit in Europa ist ein sich über 15 Jahre erstreckender schmerzhafter Anpassungsprozess, der zwar schließlich zur Konvergenz der Inflationsraten im Vorfeld der Europäischen Währungsunion geführt hat, aber mit hohen Wachstumseinbußen erkauft werden musste. Hinzu kamen in den neunziger Jahren eine Reihe wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen.
Die lang anhaltende Wachstumsschwäche hat in der Tat aber zu einer strukturellen Verhärtung der ursprünglich nachfrageseitig entstandenen Arbeitslosigkeit geführt. Solche Verhärtungen sind jedoch, wie der immense Beschäftigungsaufbau während der deutschen Vereinigung und die Rückführung der Arbeitslosigkeit in einigen kleineren Ländern bewiesen haben, im Zuge eines Nachfrageschubes keineswegs unüberwindbar. Zwar ist ein expansives Nachfrageprogramm wie die deutsche Vereinigung nicht ohne weiteres wiederholbar, aber die monetären Bedingungen lassen sich, wie das Beispiel USA in den neunziger Jahren zeigt, so gestalten, dass über eine hohe Investitions- und Nachfragedynamik ein vergleichbarer Beschäftigungsaufbau eingeleitet werden kann.

Mäßige Lohnforderungen

Die Möglichkeiten der Angebotspolitik hingegen sind weitgehend ausgereizt. Schon in den gesamten achtziger Jahren verfolgte die Wirtschaftspolitik in Europa die Verbesserung der Angebotsbedingungen mit Vorrang. Unter dem Druck der hohen Arbeitslosigkeit mäßigten die Gewerkschaften ihre Lohnforderungen in einer vorher nicht gekannten Weise. Die realen Zuwachsraten der Arbeitskosten blieben in Europa weit hinter den Produktivitätszuwächsen zurück. Damit war das entscheidende Erfordernis der Angebotspolitik in Europa erfüllt. In den USA hingegen kam es überhaupt nicht zu einem Zurückbleiben der Reallöhne. Doch weder die Investitions- noch die Arbeitsmarktentwicklung in den neunziger Jahren folgte dem von der Angebotspolitik vorhergesagten Muster. Die Investitionsdynamik in Europa war schwächer als jemals zuvor in einer Aufschwungphase der Wirtschaft. Auch die Arbeitsmarktentwicklung blieb weit hinter den Erwartungen und der der USA zurück.
Zudem kam es in Deutschland und anderen Ländern zu einer massiven steuerlichen Entlastung der Gewinne und zu einer Deregulierungswelle auf den Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten. In Deutschland etwa sank die Steuerbelastung der Unternehmen um ein Drittel (siehe Grafik Gewinn- und Lohnsteuern).
Nach dem Ende der Rezession von 1992 wiederholte sich in Europa die Entwicklung vom Anfang der achtziger Jahre: Anhaltend hohe Realzinsen, wiederholte Aufwertungen der europäischen Kernwährungen und eine schwache Konsumnachfrage bremsten die Investitionstätigkeit. Die steigende Massenarbeitslosigkeit führte über mehr Sozialausgaben und Steuerausfälle zu einem weiteren Anstieg der Staatsverschuldung.
Die Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung wurden im Vorfeld der Europäischen Währungsunion europaweit forciert und dämpften die verhaltene Aufwärtsentwicklung. Die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften half zwar bei der Bekämpfung der Inflation und verbesserte die internationale Wettbewerbsfähigkeit, dies ging aber lange Zeit zu Lasten einer Expansion der Binnennachfrage. Nur mit einer Strategie der realen Abwertung gegenüber dem Rest der Welt konnte Europa zeitweise seine Beschäftigungsprobleme mildern. Mit der Weltwährungskrise in den Jahren 1997 und 1998 kam es aber auch hier zu einem erneuten Rückschlag.

Paradoxie

Zu Ende der neunziger Jahre ist die wirtschaftliche Entwicklung in Europa von einer angebotspolitischen Paradoxie gekennzeichnet: Nur die Länder expandieren kräftig, die in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts nicht in gleichem Maße wie Deutschland auf »Gürtel-enger-Schnallen« bei den Löhnen gesetzt hatten. Das gilt insbesondere für England, Frankreich und die Niederlande, außerhalb Europas selbstverständlich für die USA. In diesen Ländern stieg auch nach der Weltfinanzkrise die gesamtwirtschaftliche Produktion kräftig, weil der private Verbrauch sogar noch einmal beschleunigt zunahm (siehe Grafik Privater Verbrauch in den neunziger Jahren).
Die Arbeitslosigkeit in Europa insgesamt kann nicht abgebaut werden, wenn die Wirtschaftspolitik nur auf der Angebotsseite ansetzt und die Geldpolitik - weitgehend ohne Abstimmung mit der übrigen Wirtschaftspolitik - nur auf die Erhaltung von Preisstabilität ausgerichtet ist. Um es an der gegenwärtigen Lage zu illustrieren: In Deutschland werden Jahr für Jahr im Inland hohe Ersparnisse gebildet, aber niemand ist bereit, sich zu verschulden: die privaten Haushalte nicht, weil sie keine günstigen Einkommensperspektiven haben, die Unternehmen nicht, weil die Nachfrage- und Gewinnerwartungen schlecht und/oder die Realzinsen zu hoch sind, der Staat nicht, weil er nun in forciertem Tempo versucht, die laufenden Defizite auf null zu fahren und die Staatsverschuldung dauerhaft abzubauen. Bleibt wiederum nur das Ausland!

Aufwertung des Euro

Europa, und allen voran Deutschland, setzt weiterhin darauf, dass sich das Ausland verschuldet. Derzeit kommen die Impulse fast ausschließlich vom schwachen Euro und der ungebremst steigenden Nachfrage des Auslandes. Das kann nicht gut gehen. Europa kann auf diesem Weg seine Probleme nicht lösen. Der Anteil des Außenhandels am Inlandsprodukt ist mit weniger als 10 von hundert gering und die anderen Länder können eine solche Politik auf längere Sicht nicht hinnehmen. Eine Aufwertung des Euro ist daher früher oder später unvermeidbar. Setzt Europa diese Politik mittelfristig fort, ist gar ein Zerfall der Welthandelsordnung durch einen neuen Abwertungswettlauf oder/ und eine weltweite Deflation zu befürchten. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Konzeptionslosigkeit der europäischen Wirtschaftspolitik bedroht nicht nur die Fortführung des globalen und des europäischen Integrationsprozesses; sie gibt zudem neuen Heilslehren Auftrieb. Die Lehre des Protektionismus à la Le Pen und Haider verspricht, den nationalen Wohlstand durch eine teilweise Abschottung des eigenen Landes zu erhöhen oder wenigstens zu sichern. Tatsächlich lehrt die historische Erfahrung, dass sich hierdurch lediglich die inländischen als auch die ausländischen Einkommen vermindern, ohne beim Abbau der Arbeitslosigkeit zu helfen.

Tiefe Einschnitte ins soziale Netz

Die Auffassung aber, man könne nur über tiefe Einschnitte in das soziale Netz die internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und den eigenen Lebens- und Sozialstandard wahren, ist ebenso wenig Erfolg versprechend wie Protektionismus. Tatsächlich gerät hierdurch die soziale Stabilität in Gefahr, ohne dass sich letztlich die »Wettbewerbsfähigkeit« steigern ließe. Beiden Lehren fehlt eine ökonomische Basis; die hohe Arbeitslosigkeit und das schwache Wachstum scheinen ihnen aber eine gesellschaftliche Basis zu verschaffen.
Die aktuelle Lageanalyse ist vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nicht die Globalisierung bedroht den Sozialstaat, nicht die Verringerung der Weltmarktintegration vermindert die Arbeitslosigkeit, sondern die Verminderung der Arbeitslosigkeit durch eine geeignete Wachstumspolitik ist die Voraussetzung für die Bewahrung des erreichten Integrationsniveaus der Weltwirtschaft und einer Verbesserung der Chancen der weniger entwickelten Länder. Gerät dieses in Gefahr, leidet nicht nur der Wohlstand der Industrieländer, sondern auch derjenige der Entwicklungsländer - mit unabsehbaren politischen Folgen.
Die weit verbreitete Vorstellung, die Industrieländer seien durch den Konkurrenzdruck der Entwicklungsländer gezwungen, ihre Produktivität stärker zu erhöhen und gleichzeitig ihre Kosten zu senken, ist unzutreffend. Ebenso wenig zu halten ist die Vorstellung, wegen des zunehmenden Konkurrenzdrucks habe sich die Arbeitslosigkeit im Norden der Erdhalbkugel verhärtet. Zwar geraten im Zuge des weltwirtschaftlichen Strukturwandels immer wieder neue Branchen unter Konkurrenzdruck, doch entstehen in den humankapital- und technologieintensiven Branchen auch neue Absatzchancen. Beispielsweise konnte Deutschland im Handel mit Südostasien und Osteuropa seine Exporte von Erzeugnissen des Maschinenbaus, des Straßenfahrzeugbaus, der Elektro- und der Nachrichtentechnik besonders stark steigern. Die Industrieländer insgesamt verzeichnen gegenüber den Entwicklungsländern hohe - und zuletzt sogar steigende - Exportüberschüsse. Die Asienkrise war vor allem eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit - allerdings nicht bei uns, sondern dort. Das spricht für den Export von Arbeitslosigkeit und nicht für den von Arbeit.

Arbeitsplätze erhalten

Im Zuge des intertemporalen wie des internationalen Strukturwandels fallen natürlich Arbeitsplätze in bestimmten Regionen und Branchen sowie bei bestimmten Qualifikationen weg, während in anderen Regionen und Branchen neue entstehen; damit kann die Arbeitslosigkeit in einigen Arbeitsmarktsegmenten steigen, während sie in anderen abnimmt. Das war immer so. In Zeiten schwachen Wachstums und hoher Arbeitslosigkeit fallen diese Kosten des Strukturwandels allerdings stärker ins Gewicht als bei hoher wirtschaftlicher Dynamik. Damit steigt für die Wirtschaftspolitik der Druck, Arbeitsplätze in bestimmten Regionen und Branchen zu erhalten. Politiker folgen diesem Druck, weil es um ihre eigene regionale politische Basis geht. Kurzfristig kann dann in der Tat ein Abfedern des Strukturwandels sinnvoll sein. Langfristig ist das aber keine Lösung. Die kurz- und mittelfristige Lösung liegt in Europa selbst und ist ganz einfach: Entweder es gelingt, über forcierte Zinssenkungen die Unternehmen zum Investieren zu bewegen, oder die Staaten Europas müssen den Versuch aufgeben, ihre Verschuldung zu vermindern, weil sie damit die Nachfrageseite weiter destabilisieren. Notwendig ist es, von Seiten der Geld- und Finanzpolitik die Voraussetzungen für günstige Gewinnerwartungen und eine dynamische Investitionstätigkeit zu schaffen. Die Lohnpolitik muss sich strikt an der Produktivität orientieren, um weder inflationäre noch deflationäre Tendenzen aufkommen zu lassen. Das wichtigste Missverständnis Ein solches Konzept bedeutet zuallererst, Abschied zu nehmen von der Vorstellung, die Gesamtwirtschaft sei wie ein privater Haushalt oder ein einzelnes Unternehmen zu lenken.

Das wichtigste Missverständnis:

Gesamtwirtschaftliches »Sparen« ist etwas ganz anderes als einzelwirtschaftliches »Sparen«. Die Volkswirtschaft als Ganzes kann im üblichen Sinn des Wortes nicht »sparen«, weil das »Sparen« des einen voraussetzt, dass es einen anderen gibt, der sich in gleicher Höhe verschuldet. Das hat weit reichende Konsequenzen. Die gesamte Rentendebatte beispielsweise steht auf dem Kopf, weil die große Mehrzahl der Beiträge diese Trivialität nicht zur Kenntnis nimmt oder bewusst zur Seite schiebt.
Neben einem geeigneten makroökonomischen Ansatz steht natürlich auch die Verbesserung der Effizienz staatlicher Maßnahmen und Einrichtungen, also ein Ansatz auf der Mikroebene, auf der Tagesordnung. Wie bei privater Innovation und Rationalisierung auch, wird dadurch, wie Ökonomen das beschreiben würden, die gesamtwirtschaftliche Angebotskurve nach rechts verschoben oder die Einkommenschancen aller am Wirtschaftsleben Beteiligten werden erhöht. Mit mehr Beschäftigung - wie das Angebotstheoretiker behaupten - hat das allerdings ebenso wenig zu tun wie mit einem Abbau der Beschäftigung - wie das häufig von Rationalisierungsgegnern gefürchtet wird. Diese Maßnahmen sind sinnvoll und notwendig, weil sie unseren Wohlstand erhöhen, sie können aber niemals einen eigenständigen Beitrag zur Lösung des Arbeitsmarktproblems leisten. Sie können eine geeignete Makropolitik ergänzen, aber nicht ersetzen.

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