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Mitsprache seit dem 19. Jahrhundert - Verhältnis Arbeitgeber zu ArbeitnehmerInnen Zum Vergrößern auf die Abbildung klicken!

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Schwerpunkt Gedenken aus ArbeitnehmerInnensicht

Im Jahr 1888 wurde die Pflichtversicherung eingeführt. Seither wurde die Selbstverwaltung der Beschäftigten ausgeweitet. Die neue Regierung hebelt sie völlig aus.

Es mag bei der hitzigen Debatte, die rund um den von der Regierung geplanten Umbau der Sozialversicherungen aufgeflammt ist, ein wenig untergehen. Aber es hat einen handfesten Grund, warum ArbeitnehmerInnen in der Selbstverwaltung bisher den Ton angegeben haben. Immerhin handelt es sich etwa bei der Gebietskrankenkasse um „ihre“ Versicherung. So war ihnen die Mitsprache darüber gesichert, was mit jenen Beiträgen geschieht, die sie Monat für Monat in die Hände der Versicherung legten.  
Die Regierung legt nun die Sozialversicherung der ArbeitnehmerInnen in die Hände des Wirtschaftsbundes. Durch die paritätische Besetzung (gleiches Stimmenverhältnis von ArbeitnehmerInnen und Arbeitgebern) des Verwaltungsrates der Österreichischen Gesundheitskasse bestimmen 100.000 Wirtschaftstreibende über die Gesundheitsversorgung von rund 3,6 Millionen   ArbeitnehmerInnen und ihren Angehörigen, insgesamt rund sieben Millionen Versicherte.

Auf das Wohlwollen angewiesen
Das ist ein Rückschritt ins 18. Jahrhundert, als das Wohlwollen der „Diensthälter“, „Fabrikanten“ und „Gewerbetreibenden“ die Krankenversorgung der „Dienstnehmer“ bestimmte.
Es war immer schon für das Selbstverständnis der ArbeitnehmerInnen wichtig, sich von Abhängigkeiten vom Arbeitgeber und dessen Bevormundungen zu befreien. Bis zum Spätmittelalter war es „traditioneller Brauch“ und „alte Gewohnheit“, dass Dienstherren für ihre kranken Dienstpersonen zu sorgen hatten.
Dieser Grundsatz entsprach dem sogenannten Schutz-Treue-Verhältnis zwischen Vater und Kind, Herr und Diener im patriarchalischen Hausverband, egal, ob es sich bei den Dienstherren um Fürsten, Grundherren, Beamte, Kaufmänner, Handwerker oder Bauern handelte.
Bereits im 14. und 15. Jahrhundert emanzipierten sich die Handwerksdiener aus dieser „Schutzgewalt“ des Meisters und wurden mehr und mehr als selbstständige Arbeiter angesehen. Sie waren unter der Bezeichnung „Geselle“ gegen Lohn bei der Ausführung eines Werkes behilflich und nicht mehr im patriarchalisch-häuslichen Sinn dienstbar.

Selbst zu unterhalten
Demzufolge war beispielsweise in der General-Handwerksordnung aus 1527 für Niederösterreich festgelegt, dass sich der Handwerksgeselle im Krankheitsfall selbst zu unterhalten habe.
Damit die Gesellen in diesem Fall nicht vor dem Nichts standen, errichteten Handwerker unter anderem sogenannte „Gesellenbüchsen“, in die sie einzahlten, um im Krankheitsfall daraus versorgt zu werden. Das ist nichts anderes als eine selbstorganisierte Krankenversicherung.
Im 17. und 18. Jahrhundert kam es allgemein in der ständischen Gesellschaft zu einem Rückfall in patriarchalische Ge-pflogenheiten. In der Zeit des „Vormärzes“ bis zur Revolution von 1848 kam die Gesetzgebung generell zum Stillstand. Ins-besondere die Untätigkeit und Gleichgültigkeit des „absoluten“ Staates gegenüber der „sozialen Frage“, die durch die sich auch in Österreich ausbreitende industrielle Revolution immer drängender wurde, forderte die Selbsthilfefähigkeiten der ArbeiterInnen heraus.
Noch im Juni 1848 wurde der „Allgemeine Arbeiterverein“ gegründet, der ein Arbeiterparlament und die Errichtung von Kranken- und Invalidenkassen mit Beihilfe des Staates forderte.

Verpflichtung für Unternehmer
Der nächste Schritt war die Gewerbeordnung von 1859, die von liberalen Strömungen geprägt war. Sie regelte Fabrikskrankenkassen und verpflichtete die Unternehmer, ab einer bestimmten Firmengröße für Arbeitsunfälle und Erkrankungen eine Unterstützungskasse einzurichten. Als Alternative waren auch Genossenschaftskassen vorgesehen. Ein wichtiger Fortschritt aus damaliger Sicht: Ausdrücklich wurde den Gehilfen ein angemessener Einfluss auf die Verwaltung eingeräumt.
Für die selbstorganisierte Krankenversicherung der ArbeitnehmerInnen war das Vereinsgesetz von 1867 ein wesentliches Datum. Damit war die rechtliche Grundlage für die freie Bildung von Unterstützungskassen geschaffen. Im Dezember 1867 nahm der Wiener Arbeiterbildungsverein seine Tätigkeit auf. Zum Gründungszeitpunkt gehörten ihm 16 Kassen mit 30.000 Mitgliedern an. Rückenwind erhielten die KämpferInnen für den Sozialstaat damals durch eine Wirtschaftskrise. Denn der Börsenkrach von 1873 brachte den Glauben an die Selbstregelungsfähigkeit des Marktes auch bei führenden Vertretern des Liberalismus ins Wanken. Es war damit nämlich bewiesen, dass eine schrankenlose wirtschaftliche Betätigung schwere volkswirtschaftliche und soziale Schäden anrichten kann.

Beginnender Sozialstaat
Die Zeit des Nachtwächterstaates, der sich auf den Schutz des Privateigentums und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung beschränkte, war vorerst vorbei. Der Sozialstaat begann sich durchzusetzen. Eine seiner ersten Errungenschaften war das Krankenversicherungsgesetz (KVG) von 1888. Nach dem Bismarck’schen Modell wurde auch in Österreich die Pflichtversicherung in der Kranken- und Unfallversicherung eingeführt.
Die Hauptleistung dieses Gesetzes war das Festschreiben von Mindestleistungen wie die freie ärztliche Behandlung oder die Verpflegung in einem Krankenhaus auf Kosten der Krankenkasse. Den ArbeiterInnen stand Krankengeld in der Höhe von 60 Prozent des ortsüblichen Taglohns zu, und zwar vom Tag der Erkrankung an, wenn diese mehr als drei Tage dauerte und der Erkrankte erwerbsunfähig war. Das Krankengeld konnte man mindestens 20 Wochen beziehen.
Im Jahre 1901 gab es in Österreich (Zisleithanien) insgesamt 2.935 Krankenkassen, sie hatten eine Mitgliederzahl von 2,5 Millionen (neun Prozent der Bevölkerung). Und: Sie wurden in Selbstverwaltung mit Arbeitnehme­rInnenmehrheit geführt. Diese rief auch damals schon Widerstand hervor. So sollte nur wenige Jahre später, im Jahr 1905, ein stark ausgeprägtes Aufsichtsrecht des Staates eingeführt werden. Der Krankenkassentag erklärte daraufhin: „Gelingt es die Selbstverwaltung auch auf dem Gebiet der Arbeiterversicherung zu vernichten (…) dann wäre die Arbeiterversicherung nur zu einer Armenversorgung auf Kosten der Arbeiter umgestaltet (…) Nie und nimmer wird die Arbeiterschaft es dulden können, dass ihr der wohlbegründete Anspruch auf entscheidenden Einfluss (…) in den Krankenkassen entrissen und in der UV (Unfallversicherung) und IV (Invalidenversicherung) vorenthalten wird.“

Zwingendes Gebot
Die – derzeit noch – bestehende Selbstverwaltung der Sozialversicherung steht in engem Zusammenhang mit dem Wiederaufbau von demokratischen Strukturen in der Zweiten Republik. Es wurde als „zwingendes Gebot“ angesehen, möglichst breite Kreise der Versicherten in die Selbstverwaltung einzubeziehen.
Genau das war in den von 1935 bis 1945 in Österreich herrschenden Dik­taturen nicht geschehen. Entsprechend hat man danach festgelegt, dass Verwaltungskörper der Sozialversicherungs­träger streng nach dem demokratischen Prinzip zu besetzen waren.
Seit es die Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in der gesetzlichen Krankenversicherung gibt – immerhin seit 1888 –, waren die Vorstände und Generalversammlungen immer mehrheitlich mit ArbeitnehmerInnen besetzt.
In der Monarchie lag das Verhältnis bei 2:1, in der Ersten und Zweiten Republik bei 4:1. Übrigens, selbst im autoritären Ständestaat lag das Verhältnis bei 2:1. Im Gegenzug hatten die Arbeitgeber immer in der Kontrollversammlung das Sagen und damit in wirtschaftlich bedeutenden Fragen (Gebäude, Stellenplan, Besoldung etc.) ein Vetorecht.
Die nun vorliegende Regierungsvorlage zur Kassenzentralisierung bringt ein undemokratisches Verhältnis von 1:1. Ohne Zustimmung und Wohlwollen der Arbeitgeber kann künftig in der Krankenversicherung der ArbeitnehmerInnen nicht einmal ein Pflaster bestellt werden. Das ist ein Rückschritt hin zu den Abhängigkeiten des 18. Jahrhunderts.

Literaturtipp:
Harald Steindl, Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte.
Blogtipp:
tinyurl.com/yc8ffqxf
 
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