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Wider besseren Wissens

Schwerpunkt Europa

Die EU-Kommission sollte sich von ihren eigenen Analysen statt von einer widersinnigen politischen Werthaltung leiten lassen.

Was haben der Ageing Report 2018 und der Europäische Sozial- und Beschäftigungsbericht 2018 gemeinsam? Klingt wie ein Witz, ist aber weniger lustig, sondern eher verwunderlich: Beide Berichte sind Analysen der EU-Kommission, die diese bei der Formulierung ihrer politischen Empfehlungen aber de facto ignoriert und stattdessen ein „More-of-the-Same“ fordert. Am deutlichsten lässt sich dieser Befund am Beispiel Pensionen nachzeichnen, wonach Österreich aus Sicht der EU-Kommission das gesetzliche (!) Pensionsalter anheben sollte.
Diese Empfehlung entspricht weder den Bedürfnissen der Menschen, noch ist sie besonders innovativ. Schon gar nicht aber ist sie sachlich nachvollziehbar: Die Europäische Kommission selbst weist darauf hin, dass sich entsprechend der Prognosen der Altersquotient, also die Relation der 65-Jährigen und Älteren zu den 15- bis 64-Jährigen, bis 2070 nahezu verdoppeln wird – und entsprechend die relativen Pensionsausgaben in Österreich voraussichtlich um bloß 0,5 Prozent der Wirtschaftsleistung ansteigen werden (siehe Grafik „Basisszenario“).

Absurd: Tadel statt Lob!
Der österreichische Reformweg in der Alterssicherung bietet eigentlich ein sehr gutes Beispiel dafür, dass sich die – angeblich auch nach Auffassung der EU-Kommission – zentralen pensionspolitischen Zielsetzungen „Angemessenheit und Nachhaltigkeit“ gleichermaßen erreichen lassen, wenn man das auch wirklich will und dementsprechend die richtigen Schwerpunkte setzt. Denn das österreichische System ist nicht nur langfristig finanziell stabil, sondern es bietet mit seiner starken öffentlichen Säule auch weiterhin eine im internationalen Vergleich sehr gute Absicherung.

Fragwürdige Gebetsmühle
Der nur sehr moderate Zuwachs öffentlicher Pensionsausgaben trotz künftig guten Sicherungsniveaus hat mehrere Gründe. Dazu zählen vor allem der Fokus auf eine verbesserte Erwerbsintegration, die Anpassung der Leistungszusagen – im Durchschnitt gute Pensionen bei späterem (faktischen) Pensionsantritt – und die schrittweise Angleichung der großzügigeren Sondersysteme an die Pensionsversicherung.
Anstatt jedoch diese Perspektive als Beleg für eine nachhaltige soziale und finanzielle Entwicklung zu werten, empfiehlt die EU-Kommission gebetsmühlenartig eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters, bis vor kurzem zumeist in Form einer Koppelung an die Lebenserwartung. Damit sollen die relativen öffentlichen Pensionsausgaben zukünftig sogar deutlich unter (!) das aktuelle Niveau gedrückt werden, obwohl es dann wesentlich mehr Ältere geben wird (siehe Grafik „Szenario 2“). Es ist nicht nur ziemlich zynisch, mit welcher Gelassenheit über die damit einhergehenden finanziellen Einschränkungen der heute Jüngeren im Alter – und damit auch über die Entwertung ihrer Lebensleistung – hinweggesehen wird. Letztlich offenbart sich, welche Bedeutung die EU-Kommission einer angemessenen Alterssicherung tatsächlich einräumt: offensichtlich eine sehr geringe. Die eigentliche Zielsetzung scheint das Zurückdrängen öffentlicher Sicherungssysteme zu sein.
Jeden auch noch so moderaten Anstieg öffentlicher Pensionsausgaben als Ausdruck mangelnder „finanzieller Nachhaltigkeit“ zu diskreditieren, belegt letztlich nichts anderes als eine politische Werthaltung, die angesichts des Ausmaßes der demografischen Verschiebungen nur als widersinnig bezeichnet werden kann.

Vorgefertigtes Mindset
Die eigene Unbeirrbarkeit der EU-Kommission zeigt sich auch bei den diversen – oft eher künstlich wirkenden – Konsultations- und Einbeziehungsversuchen der heimischen Sozialpartner, wenn es um den Austausch über den Status quo in Österreich und die möglichen Politik- und Reformempfehlungen geht. Verstörend ist erfahrungsgemäß weniger, „was“ besprochen wird, sondern vielmehr die selektive Akzeptanz und Perzeption geäußerter Standpunkte: AK und ÖGB argumentieren stets mit offiziellen Statistiken – etwa von der EU-Kommission selbst oder vom Finanzministerium –, diese werden jedoch geflissentlich ignoriert. IV und WKO hingegen werden mit ihrem unangebrachten Alarmismus und ihrem Ruf zu massiven Einschnitten ins österreichische Pensionssystem „erhört“.
Führt man sich die Alternativen zur Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters vor Augen, dann zeigt sich eine Vielzahl an Stellschrauben, die direkt oder indirekt mit einer besseren Arbeitsmarktintegration und einer fairen Teilhabe der Menschen zu tun haben. Mehr als das, denn sie wirken weit über die Pensionsfinanzierung hinaus: verbesserte Einstiegschancen für Jüngere, Aus- und Weiterbildung für Geringqualifizierte, verbesserte Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Beseitigung der Benachteiligung von Frauen, Humanisierung der Arbeit, faire Verteilung der Arbeit statt gesundheitsschädliche Arbeitszeiten auf Abruf, Förderung benachteiligter Gruppen (inkl. MigrantInnen), alternsgerechte Arbeitsplätze und vieles mehr.
Letztlich ist klar: Je mehr Menschen durch ihre Erwerbsarbeit bei einer gerechten Entlohnung ins Umlagesystem einzahlen, umso besser steht es auch um die Finanzierungsperspektiven für das öffentliche Pensionssystem. Es geht nicht darum, dass die Menschen erst immer später in Pension gehen dürfen. Vielmehr geht es um gute Erwerbschancen während des gesamten Erwerbslebens und um eine faire Entlohnung!

Volle Verve für Vollbeschäftigung?
Wenn sich die EU-Kommission mit einer vergleichbaren Energie wie für ihr Mantra vom Zurückdrängen der öffentlichen Pensionen, für Vollbeschäftigung und gute Arbeitsbedingungen in Europa einsetzen würde, dann stünde Europa heute anders da. Stattdessen ist die Lage besorgniserregend, wie die EU-Kommission ganz leicht ihrem eigenen Sozial- und Beschäftigungsbericht entnehmen könnte: Manche Länder erreichen wirtschaftlich gerade einmal ihr Vorkrisenniveau oder liegen sogar noch darunter, die Armut bleibt erschreckend hoch, die Erwerbseinkommen bleiben deutlich zurück, die Ungleichheit steigt. Zudem sind die Arbeitsmärkte nachhaltig „beschädigt“: Die Zahl der Arbeitssuchenden und dauerhaft ausgegrenzten Personen ist weiterhin hoch, ebenso die der atypischen und oft nicht mehr existenzsichernden Beschäftigung. Davon betroffen sind oft Menschen und Familien, die es ohnedies schwer haben – allen voran Menschen mit gesundheitlichen und qualifikatorischen Einschränkungen, aber auch Menschen mit oft fürchterlichen Migrations- oder Fluchterfahrungen.

Inakzeptables Niveau
Daran ändern leider auch Jubelmeldungen wie: „Es gab noch nie so viele Beschäftigte in der EU“, oder über den Rückgang der Arbeitslosenquote (von einem vor kurzem noch unvorstellbar hohen Niveau) relativ wenig. Faktum ist, dass Beschäftigungsstatistiken, die bereits Personen, die eine Stunde (in der Referenzwoche) gegen Entgelt gearbeitet haben, als erwerbstätig zählen, nichts über die Qualität der Erwerbsintegration aussagen und dass das Ausmaß an Beschäftigungslosigkeit nach wie vor in Europa ein völlig inakzeptables Niveau erreicht.
Klar sollte sein: Es gibt kein Ruhekissen für die politisch Verantwortlichen. Vollbeschäftigung und gute Arbeit müssen bei der Millionenschar an Arbeitslosen, von Armut, Ausgrenzung, geringer Entlohnung und oft schwierigsten Arbeitsbedingungen betroffenen Menschen eigentlich ganz oben auf der Agenda stehen. Dem ist aber nicht so! Das ist geradezu fahrlässig, denn man könnte sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Eine zunehmende Verbesserung der Lebensrealität der Menschen und die nachhaltige Sicherung einer guten sozialen Absicherung trotz des fortschreitenden demografischen Wandels.

Europäischer Beschäftigungs- und Sozialbericht:
tinyurl.com/ybkfskj2
Länderspezifische Empfehlungen für Österreich:
tinyurl.com/ydhxzfqq

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autoren adi.buxbaum@akwien.at und erik.tuerk@akwien.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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