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Grafik: Aggressionserlebnisse nach Berufsgruppen Zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken
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Gefährdetes Personal

Schwerpunkt Pflege und Gesundheit

KrankenpflegerInnen sind höchsten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Besonders betroffen sind Pflegende im psychiatrischen Bereich.

Kein anderer Berufsstand im multiprofessionellen Team verfüge über eine „vergleichbare ganzheitliche Perspektive auf den kranken und betreuungswürdigen Menschen wie die Pflege“. Keinem anderen Berufsstand würden sich so viele Möglichkeiten bieten, Betroffene zu beobachten und positiven Einfluss auf sie zu nehmen. Diese Worte stammen vom Wiener Psychiater Karl Purzner in einer Nachlese zu einem Kongress zum Thema „Pflege in der Psychiatrie“, der im Jahr 2012 in Wien stattfand.
Die tragende Rolle der Pflegenden im Gesundungsprozess psychisch kranker Menschen erhält jedoch nicht die verdiente Anerkennung. „Die Entlohnung steht nicht im Verhältnis zur geleisteten Arbeit“, erzählt Maria, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin an einer österreichischen Klinik für psychisch kranke Menschen. „Besonders nach einer Nachtschicht bin ich vollkommen ausgelaugt. Manchmal ertappe ich mich dabei, Patienten wie Dinge zu behandeln. Unlängst haben drei Kranke gleichzeitig meine Hilfe gebraucht. Für einen Moment habe ich überlegt, mich selbst in eines der Betten zu legen.“ Maria lächelt verschmitzt und ergänzt: „Aber es war keines frei.“  

Arbeitsbedingungen
Die diplomierten Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, vulgo „psychiatrische Krankenpfleger“, arbeiten im Hintergrund, in Spitälern, Arztordinationen, psychosozialen Einrichtungen, Behindertenzentren oder in der Hauskrankenpflege. Ihre genaue Anzahl ist in Österreich statistisch nicht erfasst. Erst seit einigen Jahren befassen sich Studien mit den Arbeitsbedingungen und Belastungen, denen das Pflegepersonal im Allgemeinen ausgesetzt ist. Alarmierende Zahlen liefert eine Erhebung aus dem Jahr 2010 über Aggressionserlebnisse von Berufsgruppen in stationärer und ambulanter Pflege. Am meisten betroffen sind Pflegekräfte (78 Prozent), gefolgt von ÄrztInnen (19 Prozent) und TherapeutInnen (3 Prozent). Besonders beunruhigend: 90 Prozent der KrankenpflegeschülerInnen sind verbalen Übergriffen ausgesetzt. Die Verfasser der Studie, Harald Stefan und Günter Dorfmeister, verweisen zudem auf eine deutsche Studie, wonach über 70 Prozent der Pflegenden Gewalt- und Aggressionshandlungen ihrer PatientInnen nicht dokumentieren.
„Gewalt durch Patienten war bislang ein Tabuthema“, heißt es in der im März 2016 von der Arbeiterkammer Oberösterreich herausgegebenen Broschüre „Beschäftigte in der Pflege vor Gewalt schützen“ – und zwar „obwohl Pflegende regelmäßig mit ihr konfrontiert sind. Die Folgen für die Opfer sind fatal und reichen von Krankenständen, Burn-out bis hin zum Berufsausstieg.“ Laut einer darin zitierten Erhebung an einer oberösterreichischen Krankenanstalt geschehen die meisten Übergriffe auf psychiatrischen Stationen.
Pflegende berichten von verbalen Übergriffen („Wenn man sich schon von so einer Dicken helfen lassen muss ...“), von sexuellen Belästigungen während der Körperpflege, von Aggressionshandlungen wie ins Gesicht spucken, kratzen, stoßen oder schlagen. Maria, „Pflegerin aus Leidenschaft“, wie sie sagt, seufzt beim Lesen der Broschüre. „Kommt mir bekannt vor“, lautet ihr Kommentar. „Nur, würde ich alles dokumentieren, käme ich mit der Arbeit nicht nach. Es ist ein ständiges Ausbalancieren zwischen Wahrung der Selbstachtung und Einfühlen in den Patienten. Man muss sich hier Strategien erarbeiten, sonst gehst du unter.“

Sehr gefährlich
Die „Nurses Early Exit Study“, eine von der Europäischen Kommission geförderte quantitative Längsschnittstudie, untersucht in zehn Ländern Europas die Arbeitsbedingungen und die Arbeitsmotivation in der professionellen Pflege. Sie geht der zentralen Fragestellung nach: Was bewegt professionell Pflegende dazu, frühzeitiger als andere Berufsgruppen den Beruf zu verlassen? Ihr zufolge werden 78 Prozent aller Pflegekräfte von PatientInnen oder Angehörigen verbal angegriffen oder beschimpft, 44 Prozent erleiden tätliche Angriffe, darunter gefährliche Attacken mit einem Messer oder anderen Gegenständen. 
„Pflegekräfte sind enormen körperlichen, seelischen und geistigen Anforderungen ausgesetzt“, sagt Gertrud Fribl, stellvertretende Pflegedirektorin und Standortleiterin der Pflege am Linzer Neuromed Campus. „Im psychiatrischen Bereich ereignen sich viele dramatische Geschehnisse, die man bearbeiten muss, damit sie die eigene Persönlichkeit nicht gefährden. Die Pflegenden müssen ihre Denkprozesse etwas anders anlegen als im allgemeinen Pflegebereich und im Sinne der eigenen Psychohygiene Stressbewältigungstechniken erlernen.“

Kooperation erforderlich
Laut einer Befragung am Kepler Universitätsklinikum ist die Zusammenarbeit mit dem medizinischen und therapeutischen Personal eines der Hauptanliegen der Pflegekräfte. „Ärzte und Therapeuten sind meist zwischen acht und 16 Uhr an der Klinik. Die Auswirkung ihrer Tätigkeit wird oft erst nachher wirksam. Und dann sind wir alleine mit den Patienten und Patientinnen. Da gibt es ganz viel Erkennen und Einsicht, und wir brauchen unsere professionellen Strategien und das Wissen, um die Befindlichkeit der kranken Menschen einschätzen zu können. Wir brauchen auch alle Informationen, um förderlich und sicher mit den Patienten arbeiten zu können“, betont Gertraud Fribl. „Schließlich betreuen wir viele hochkomplex kranke Menschen, die schwer einschätzbar sind und erhebliches Gewaltpotential haben.“
Neben der interdisziplinären Kooperation, der Gewalt und Aggression durch PatientInnen, mangelnden Erfolgserlebnissen, niedriger Entlohnung und sich ständig verändernden Rahmenbedingungen ist auch die Herkunft der PatientInnen eine steigende Herausforderung für das Pflegepersonal. „Migrations- und Asylpatienten beherrschen ja meist die Sprache nicht. Frauen dürfen nur in Begleitung ihres Ehemannes, eines Onkels oder Bruders kommen. Dann wird mithilfe eines Dolmetschers über Dritte über deren Probleme kommuniziert“, berichtet Fribl.  Trotz aller Bemühungen am Kepler Universitätsklinikum, die Arbeitsbedingungen der Pflegenden zu verbessern, steigt die Belastung „in der Nacht explosiv“, berichtet Pflegedirektorin Fribl. „Da wird die Präsenz des Pflegepersonals auf ein bis zwei Personen reduziert. Leider ist das in ganz Österreich beziehungsweise in ganz Europa so. Eine Nachbesetzung könnte da wesentlich zur Entspannung beitragen.“

Deutliches Gefälle
Wesentlich zur Verbesserung der Situation des Pflegepersonals beitragen könnte eine Erhöhung des Gehalts – da sind sich ExpertInnen und Betroffene einig. Laut statistischem Jahrbuch 2015 verdienten 25 Prozent der unselbstständig in Gesundheits- und Sozialberufen tätigen Personen weniger als 1.315 Euro brutto, 50 Prozent erhielten weniger als 1.946 Euro – mit deutlichem Gefälle zwischen weiblichem und männlichem Personal.
Laut dem im Juni 2016 veröffentlichten „Pflege-Führungskräftebarometer“ wird die herausfordernde Arbeit als weniger belastend erlebt als die ökonomischen Rahmenbedingungen und der geringe Personalstand. „Die Zahl der Patienten und Patientinnen steigt, viele Einrichtungen sind unterbesetzt. Oft müssen ‚Notlösungen‘ herhalten und Zusatzdienste verrichtet werden“, erklärte die Gewerkschaft vida, eine der vier Teilgewerkschaften, welche in Österreich das Pflegepersonal vertritt, im Juli des Jahres. Angesichts geschätzter 30 Prozent aller Pflegebediensteten mit Burn-out-Gefährdung müsse der Personalschlüssel an den österreichischen Einrichtung dringend vereinheitlicht und an die neuen Gegebenheiten angepasst werden.

Checklist zur Dokumentation von aggressivem Verhalten:
ooe.arbeiterkammer.at/pflege

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin gabriele.mueller@utanet.at oder die Redaktion aw@oegb.at

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