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Videodolmetschen im Gesundheitswesen An zwölf Gesundheitseinrichtungen in ganz Österreich konnten speziell geschulte DolmetscherInnen in österreichischer Gebärdensprache, Türkisch und BKS (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch) per Videokonferenz zugeschaltet werden - und zwar binnen zwei Minuten.

Risikofaktor Migration

Schwerpunkt Integration

Das Leben als MigrantIn kann in vielerlei Hinsicht die Gesundheit gefährden - auch ganz ohne Fluchterfahrung oder Kriegstrauma.

Wie inzwischen in jeder Arztpraxis steht auf dem Büro des Arztes in Wien-Liesing ein Bildschirm. Dieser ist allerdings nicht nur dem Arzt zugewandt, sondern via Internet ist eine dritte Person zugeschaltet, die mit Arzt und Patientin spricht: Es ist eine Dolmetscherin, die dabei helfen soll, eine richtige Diagnose und damit auch Behandlung für die Patientin zu finden. Woran man via ORF-Kamera hier ausnahmsweise teilnehmen kann, ist ein neues Projekt, das im Jahr 2013 gestartet wurde. Es nennt sich „Videodolmetschen im Gesundheitswesen“ und wurde sechs Monate lang getestet. An zwölf Gesundheitseinrichtungen in ganz Österreich konnten speziell geschulte DolmetscherInnen in österreichischer Gebärdensprache, Türkisch und BKS (Bosnisch, Serbisch, Kroatisch) per Videokonferenz zugeschaltet werden – und zwar binnen zwei Minuten. Dass Österreich ein Einwanderungsland ist, stellt auch das Gesundheitswesen vor Herausforderungen. Fast drei Viertel der Beschäftigten im Gesundheitsbereich sehen sich mehrmals pro Woche mit Sprachbarrieren konfrontiert. Ob im Spital, bei der Pensionsbegutachtung oder im Pflegeheim – Verständigungsschwierigkeiten sind das weitaus häufigste Problem bei der Versorgung fremdsprachiger PatientInnen. Das kann sogar dazu führen, dass Rehabilitationskuren abgebrochen werden müssen, um die Sicherheit der Genesenden nicht zu gefährden.

Mit Händen und Füßen
Die Interviews in der Projekt-Begleitstudie machten deutlich: Es besteht Handlungsbedarf, denn die alltäglichen Verständigungsprobleme kosten Zeit und Nerven. Eine typische Aussage in den Interviews, die für die Begleitstudie geführt wurden, lautet: „Dann macht man’s halt wie im Urlaub.“ Sprich, es wird mit Händen und Füßen geredet, gezeichnet, „zusammengepuzzelt“. Oder man behilft sich mit Laien-DolmetscherInnen, was aus vielen Gründen problematisch ist. Denn wenn der Einfachheit halber fremdsprachige KollegInnen herangezogen werden, werden diese in ihrer Arbeit gestört. Oft mangelt es zudem am Fachvokabular oder an medizinischem Basiswissen. Für Kinder und Jugendliche wiederum stellt das Dolmetschen im Grunde eine unzulässige emotionale Belastung dar. Und ohne entsprechend geschulte DolmetscherInnen weiß eigentlich niemand, ob korrekt übersetzt wurde. Nicht zuletzt stellen sich rechtliche Fragen. Vor allem aber fühlen sich die fremdsprachigen PatientInnen schlecht behandelt und sind frustriert, das wiederum führt beim Pflegepersonal zu Rätselraten, Gefühlen der Unzulänglichkeit und Frust – und das wiederum sind denkbar schlechte Bedingungen für die Heilung. Professionelle DolmetscherInnen kommen bis dato nur selten zum Einsatz. Zwar gibt es auch Apps, diese aber sind wegen des fehlenden Fachvokabulars (noch) nicht geeignet. Und Videodolmetschen ist derzeit nur punktuell möglich. Nach den – trotz geringer Sprachenauswahl und kleinen technischen Problemen – sehr positiven Erfahrungen im Videoprojekt will man jetzt grundsätzlich auf diese Technologie setzen.
Gesundheit und Langlebigkeit werden neben der ererbten Veranlagung auch vom Lebensstil, Bildungsgrad, Alter etc. wesentlich beeinflusst. Bei MigrantInnen sind zusätzlich die Erlebnisse während des Migrationsprozesses wie die Trennung von Angehörigen, Stress, Diskriminierung und Ähnliches entscheidend, dazu kommen die individuellen Erfahrungen und Lebensbedingungen im Herkunfts- und im Zielland. Je bedeutender das familiäre Netzwerk im Heimatland ist, desto eher können Menschen im Ausland, wo sie auf sich allein gestellt sind und die Familie als gesundheitliche Kontroll- und Unterstützungsinstanz wegfällt, gesundheitsschädigende Gewohnheiten entwickeln. Der akkulturative Stress der Eingewöhnungsphase kann jahrelang andauern und auch auf die nächste Generation nachwirken. Ein häufiger Stressfaktor ist auch der Arbeitsplatz. MigrantInnen sind oft unter ihrem Ausbildungsniveau beschäftigt und in vielerlei Hinsicht schlechtergestellt als ihre nicht migrantischen KollegInnen – egal, ob es um Leistungsdruck, Unterbrechungen oder körperliche Anstrengung geht. Entsprechend wichtig wäre es, MigrantInnen in Projekte der betrieblichen Gesundheitsvorsorge gezielt miteinzubeziehen.

Verbesserungsbedarf
In der Studie werden auch zahlreiche Projekte und Positivbeispiele aufgelistet, trotzdem bleibt noch viel zu tun. Menschen mit Migrationshintergrund sind keine homogene Gruppe, dementsprechend sind niederschwellige, nachhaltige und zielgruppengerechte Angebote und Informationen erforderlich. Zu diesem Ergebnis kam auch die Studie „Gesundheitskompetenz bei Personen mit Migrationshintergrund aus der Türkei und Ex-Jugoslawien in Österreich“. Die ExpertInnen waren sich einig, dass die bestehenden Angebote für MigrantInnen nicht ausreichen. Vor allem der Mangel an institutionalisierten Angeboten abseits von zeitlich begrenzten Projekten wurde kritisiert. Die Gesundheitskompetenz von MigrantInnen könnte u. a. durch verbesserte Bildungschancen und durch mehr auf Zuwanderer abgestimmte Infomaterialien erhöht werden. Außerdem wurde der Ausbau des muttersprachlichen Angebotes bei psychosozialer Betreuung, Psychotherapie und Psychiatrie urgiert.

Mainstreaming
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen, zurzeit fehlt es etwa auch an koordinierter Vernetzung. So kennen ÄrztInnen oft die bereits vorhandenen Zielgruppen-Angebote nicht. Ähnlich wie beim Gender-Mainstreaming stünde es einer offenen Gesellschaft gut an, dass in allen Lebensbereichen auch auf die Bedürfnisse nicht deutschsprachiger Menschen Rücksicht genommen wird. (Video-)DolmetscherInnen, mehrsprachige Broschüren, entsprechend gestaltete Webseiten usw. kosten Geld, aber alles andere würde bedeuten, die Gesundheit von PatientInnen und letztendlich auch die des Personals zu riskieren – ganz zu schweigen von den erhöhten Kosten für das Gesundheitswesen, die dies ebenfalls mit sich bringt. Die Zeit drängt, die GastarbeiterInnen-Generation kommt langsam in die Jahre. Noch wird der Großteil zu Hause gepflegt. Aber vermutlich werden bald immer mehr betagte TürkInnen, SerbInnen und andere Zugewanderte in die Spitäler und Pflegeheime kommen. Und auch wenn die Betroffenen vielleicht Deutsch sprechen: Mit fortschreitender Demenz verlernen viele Menschen die Zweitsprache. Man kann nur hoffen, dass bis dahin eine Software entwickelt wird, die den PatientInnen jeden Tag die sprachlich passenden Pflegekräfte zuteilt.

Linktipps:
Leitfaden zur Maßnahmengestaltung in Gesundheitsförderung und -versorgung
tinyurl.com/jtklr5z
Downloads zum Projekt Videodolmetsch
tinyurl.com/hu3jetr

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin afadler@aon.at oder die Redaktion aw@oegb.at

Gesundheit von MigrantInnen
Zwei Studien bieten einen Überblick über die Situation von MigrantInnen in Österreich – und damit wertvolle Hinweise, wo in der Gesundheits- und Aufklärungsarbeit anzusetzen wäre:

  • Deutlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund (42,5 Prozent) hatten „erhebliche Schmerzen im letzten Jahr“. Ohne Migrationshintergrund waren es 36,5 Prozent.
  • Männer mit Migrationshintergrund leiden häufiger an Migräne oder Kopfschmerzen, Wirbelsäulenbeschwerden sowie chronischen Angstzuständen und Depressionen. Migrantinnen haben im Vergleich zu Nicht-Migrantinnen ein höheres Risiko für Diabetes, Bluthochdruck, chronische Angstzustände, Depressionen sowie Gelenk- und Wirbelsäulenbeschwerden.
  • Bewegungsmangel und daraus folgende Probleme wie Übergewicht finden sich bei Migrantinnen auffallend häufig.
  • MigrantInnen entwickeln nur halb so oft Allergien wie Personen ohne Migrationshintergrund.
  • Der Zahnstatus ist bei allen migrantischen Altersgruppen schlechter als bei Nicht-Migrantinnen.
  • Angebote zur Prävention, Vorsorge und Gesundheitsförderung werden seltener genutzt. Mehrsprachige Info-Broschüren und spezielle Kampagnen für diese Zielgruppe (z. B. Brustkrebsfrüherkennungsprogramm) zeigen bereits erste Erfolge.
  • Psychosoziale und psychotherapeutische Beratungsangebote werden seltener in Anspruch genommen. Schuld sind nicht nur Informationsmangel und Schamgefühle, sondern auch Traditionen und kulturelle Gepflogenheiten: Viele MigrantInnen suchen zuerst ihre eigene Community auf und weniger  Beratungsstellen, das wird als Schwäche empfunden. Weiters: schlechte Erfahrungen mit Ämtern, Angst vor aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen, Diskriminierungserfahrungen, Angst vor Stigmatisierung durch Psychiatrie und vor Ausgrenzung im Alltag. Dadurch werden Alkoholabhängige oft erst in einem relativ späten Stadium professionell betreut.

Die Studien zum Download finden Sie hier: tinyurl.com/j9efer9

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