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Auswanderer bei der Abreise in Triest auf einem Schiff der Austro-Americana. Auswanderer bei der Abreise in Triest auf einem Schiff der Austro-Americana.

Vaterlandslose Gesellen?

Historie

Viele ArbeiterInnen Österreich-Ungarns wanderten aus. Sie mussten "kosmopolitisch" sein, um zu überleben.

Das Hauptreferat des siebten Reichskongresses der Freien Gewerkschaften im Jahr 1913 hielt Karl Renner. Der spätere österreichische Staatskanzler ging mit der Wirtschaftspolitik der Donaumonarchie und mit ihrer Machtpolitik hart ins Gericht. Die Hochschutzzölle hätten zur Explosion der Lebensmittelpreise geführt und die Exportchancen gegen null reduziert, die Annexion von Bosnien-Herzegowina hätte Angst und Krisenstimmung erzeugt. Eine der negativen Auswirkungen sei die anhaltende Auswanderung:
Wir exportieren nicht mehr Waren, sondern Arbeitskräfte, und zwar nicht mehr so wie früher, kulturlose Landarbeiter, wir fangen an, unsere höchstqualifizierten Arbeiter aus dem Lande zu treiben. Es vollzieht sich hier auf der Höhe des 20. Jahrhunderts ein Menschenexport, ähnlich wie im 18. Jahrhundert, wo die Landesfürsten um bares Geld die tüchtigsten Menschen ihres Landes als Soldaten ins Ausland verkauften.

Karl Renner übertrieb nicht. In den Spitzenzeiten der Migrationsbewegung nach 1900 verlor die Habsburgermonarchie durch Auswanderung ein Drittel des Bevölkerungszuwachses. Vor 1890 beschränkte sich die Migration weitgehend auf die arme galizische Landbevölkerung und hatte nur die USA zum Ziel. Ein ganz anderes Bild bot sich im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, jetzt nahm die Donaumonarchie den Spitzenplatz unter den Auswanderungsstaaten ein: Mehr als eine Million Menschen verließen sie in Richtung USA, über eine halbe Million fanden Arbeit im benachbarten Deutschland, dessen boomende Großindustrie auf Zuwanderung angewiesen war. Hier gab es wenige Sprachbarrieren, die Menschen fanden sich rasch ein und viele kehrten nie mehr in die alte Heimat zurück. In den USA fassten die zunächst meistens jungen männlichen Auswanderer nicht so leicht Fuß, auch wenn sie später ihre Frauen und Kinder nachholten. Nicht wenige pendelten mehrmals in ihrem Leben zwischen den Kontinenten und fuhren wieder nach Europa, wenn sie mit der brutalen Fabrikarbeit genug verdient hatten, um ihr Haus zu renovieren oder Vieh zu kaufen.

Die große Wanderungsbewegung innerhalb der Habsburgermonarchie vom Land in die Industriezentren und in die wenigen städtischen Großräume Prag, Wiener Neustadt und Wien würfelte zudem Nationalitäten und soziale Gruppen des Vielvölkerstaats heftig durcheinander, was zu großen Spannungen im gesellschaftlichen Zusammenleben führte. Wegen ihrer Bereitschaft zur Migration bezeichnete man die Existenzsicherung suchenden Menschen damals oft abwertend als „vaterlandslose Gesellen“. Die Freien Gewerkschaften wiesen die Gleichsetzung von „Vaterlandstreue“ und Integrationsbereitschaft konsequent und scharf zurück. Ihr Sekretär Anton Hueber formulierte das Gegenkonzept:
Das sage ich vom Standpunkt des Lebens des Proletariers, der mit seiner Familie von einer Scholle zur anderen gehetzt wird, der ja gewiss nicht vaterlandslos ist, aber der, ob er nun Deutscher oder Tscheche ist, doch kosmopolitisch sein muss. … Weg mit dem Chauvinismus.

Ausgewählt und kommentiert von Brigitte Pellar
brigitte.pellar@aon.at

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