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Symbolbild zu: Mit Dogmen gegen Fortschritt Neoliberale ignorieren wie einst die Kommunisten Fakten, die nicht in ihr Weltbild passen. Vor allem verhindern sie durch stures Festhalten an veralteten Theorien viele sinnvolle Reformen.
GRafik: Lohnsummensteuern in Prozent des BIP, 2012 Zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken!

Mit Dogmen gegen Fortschritt

Schwerpunkt Neoliberalismus

Man könnte auch aus neoliberaler Sicht für eine Arbeitszeitverkürzung oder eine Wertschöpfungsabgabe argumentieren. Ein Kommentar von Sepp Zuckerstätter.

Die letzten dreieinhalb Jahrzehnte waren gekennzeichnet von einer Dominanz neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Wie viele lange dominante Denkrichtungen ist inzwischen auch der Neoliberalismus zum Dogma, also zum reinen Glaubenssatz, verkommen.

Stures Festhalten
Inzwischen ignorieren die Neoliberalen wie dereinst die Kommunisten Fakten, die nicht in ihr Weltbild passen. Sie vernachlässigen ihre eigenen logischen Grundprinzipien, wenn diese ihren GönnerInnen nicht ins politische Konzept passen. Und vor allem verhindern sie durch stures Festhalten an veralteten Theorien viele sinnvolle Reformen. Dieser Beitrag zeigt die Krisenerscheinungen des neoliberalen Denkens und seine Auswirkungen an einigen aktuellen Beispielen.
Als im Frühjahr des vergangenen Jahres die Gewerkschaften die Frage nach einer Arbeitszeitverkürzung neu stellten, kam eine reflexartige Ablehnung von Teilen der ÖVP sowie der IndustrievertreterInnen. Diese Ablehnung war zwar reich an starken Worten wie „Mottenkiste“ und „Uraltkonzepte“, jedoch arm an Fakten. Wenn überhaupt, dann wurde auf Frankreich verwiesen, was ganz eigenwillig ist, denn in der Phase der Arbeitszeitverkürzung zwischen 1997 und 2002 wuchsen Beschäftigung und Wirtschaft in Frankreich stärker als in Deutschland und in vielen anderen europäischen Staaten. Von daher ist die 35-Stunden-Woche in Frankreich eine Erfolgsgeschichte für die Arbeitszeitverkürzung.
Doch wenn es um neoliberalen Glauben geht, dann zählen Fakten nur, solange sie die eigenen Vorurteile bestätigen. Dass Interessenvertretungen von Unternehmen fortschrittliche Forderungen ablehnen, ist normal. Interessant für die Entwicklung des Neoliberalismus zur reinen Ideologie ist aber, dass sie sich dabei nicht die Mühe machen, Aussagen aus ihrer theoretischen Sicht zu begründen.
Aus rein neoliberaler Sicht sollte nämlich das Problem der Arbeitszeitverkürzung zunächst gar nicht existieren. In dieser theoretischen Welt einigt sich jeder und jede mit dem Arbeitgeber auf so viele Stunden pro Woche, wie es den beiden passt. Denn laut neoliberaler Weltsicht sind die VertragspartnerInnen gleichberechtigt und können immer einen guten Kompromiss finden.

Wunsch nach mehr Freizeit
Fragt man allerdings echte Menschen, wie viele Stunden sie gerne arbeiten würden, und zugleich auch, wie viel sie tatsächlich arbeiten, so sieht man, dass ein Drittel bis zur Hälfte der Erwerbstätigen mit den derzeitigen Arbeitszeiten unzufrieden ist. Manche würden lieber länger, noch mehr lieber kürzer arbeiten, und zwar auch dann, wenn es dafür keinen vollen Lohnausgleich gäbe. Sogar selbstständig Beschäftigte klagen über zu lange Arbeitszeiten.
Im richtigen Leben sind nämlich Arbeitgeber und ArbeitnehmerInnen nicht gleichberechtigt, ebenso wenig wie große AuftraggeberInnen und kleine Selbstständige. Arbeitgeber und Auftraggeber haben die Macht, ihre Bedingungen durchzusetzen. So nutzen die Arbeitgeber ihre Macht, indem sie bei jedem Wunsch nach Veränderung oder Verkürzung der Arbeitszeit mit Kündigung oder Verlagerung ins Ausland drohen. Damit blockieren sie aber auch jegliche Innovationen in der Arbeitszeitpolitik.

Mit geringem Aufwand viel erreichen
Bei der Neugestaltung der Arbeitszeiten könnte man jedoch mit geringem Aufwand viel erreichen. So zeigt sich, dass gerade Menschen mit gut bezahlten, langen Arbeitszeiten den Wunsch haben, kürzer zu arbeiten. Um den stetig zunehmenden Druck bei der Arbeit aus- und die längere Zeit bis zur Pension durchhalten zu können, wünschen sich viele Menschen mehr Freizeit bereits während des aktiven Arbeitslebens. Diese unfreiwillig zu viel gearbeiteten Stunden könnten von jüngeren Arbeitssuchenden, aber auch von Teilzeitbeschäftigten, die lieber mehr arbeiten wollen, übernommen werden.
Denn kaum ein Job wird je eins zu eins nachbesetzt. Immer wenn jemand eingestellt wird, werden auch Arbeiten neu verteilt. Dabei ergeben sich Möglichkeiten der Neuverteilung von Arbeitsstunden. So kann man Aufgaben der Senior-Konstrukteurin den Junioringenieuren übertragen, die Junioringenieure bekommen im Gegenzug einen weiteren Büromitarbeiter und der gibt seinen Telefondienst an die Teilzeit arbeitende Kollegin am Empfang ab. Ganz ohne Zauberei werden so aus den Stunden der Diplomingenieurin Stunden in der Portiersloge. Solche Umschichtungen werden von Tausenden Unternehmen laufend gemacht – und sie sind viel einfacher zu bewältigen, als der plötzliche Ausfall einer Chefkonstrukteurin bzw. eines Chefkonstrukteurs wegen Überarbeitung.

Zeit für neue Wege
Die neoliberale Theorie würde empfehlen, solche Einigungen zu befördern. Das Problem ist wie bei streng Gläubigen zu aller Zeit: Die Neoliberalen wissen selbst nicht mehr, warum und woran sie glauben, sie halten sich einfach an überlieferten Traditionen fest. Sie lehnen die Arbeitszeitverkürzung ab, weil dies schon ihre Vorfahren vor hundert Jahren bei der Einführung des Achtstundentages so gemacht haben. Und sie ignorieren, dass es aufgrund der veränderten technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse längst an der Zeit wäre, auch bei der Arbeitszeit neue Wege zu gehen.
Die Wertschöpfungsabgabe ist ein weiteres Beispiel, bei dem erkennbar wird, wie tief manche Reflexe inzwischen sitzen und wie sehr sie sich ohne Einbindung der höheren Hirnfunktionen in umgehender Ablehnung äußern. Obwohl es breiter Konsens ist, dass man die Abgaben auf Arbeit in Österreich senken sollte, wird schon die kleinste Maßnahme in diese Richtung abgelehnt.
Österreich hat derzeit einen relativ hohen Anteil an Abgaben, die allein von der Lohnsumme abhängen – also vor allem dort anfallen, wo Menschen beschäftigt sind. Zudem ist der Anteil jener Lohnabgaben hoch, die nichts mit den Beschäftigten zu tun haben. Während die Pensionsversicherung die Versorgung der Beschäftigten im Alter und die Arbeitslosenversicherung den Unterhalt bei Verlust des Jobs garantieren, ist dieser unmittelbare persönliche Anspruch weder bei der Kommunalabgabe noch bei den Beiträgen zum Familienlastenausgleichsfonds (FLAF) gegeben. Aus der Kommunalabgabe werden die Leistungen der Gemeinden finanziert, die allen zugutekommen, ob sie nun LandwirtInnen, Selbstständige oder PensionistInnen sind. Aus dem FLAF werden Familienbeihilfen, Kindergelder und Ähnliches bezahlt – auch sie bekommen alle.

Sinnvolle Umverteilung
Ein besonderer Fall ist die Krankenversicherung, die auch eine relevante öffentliche Leistung ist. Vor allem Familien mit vielen Kindern oder Personen, die das Pech haben, von schwerer Krankheit betroffen zu sein, erhalten dabei zu Recht mehr Leistungen zu gleichen Beiträgen. Bei privaten Krankenversicherungen müssten sie viel mehr zahlen. Diese Umverteilung von den Gesunden zu den Kranken ist absolut sinnvoll. Dabei ist auch aus neoliberaler Sicht nicht zu rechtfertigen, dass jene Gesunden, die ohne Arbeit von ihrem Vermögen leben können, nichts beitragen müssen.
Über lange Zeit waren Lohneinkommen eine stabile und stetig wachsende Einkommenskategorie, die zudem leicht zu erheben ist. Auch deshalb hat man in den Neunzigerjahren die früher noch vorhandenen gewinnabhängigen Abgaben an die Gemeinden abgeschafft und dafür die Abgaben von den Löhnen erhöht. In einer Zeit, in der die Einkommen aus Löhnen und Gehältern aber weniger und die Einkommen aus Besitz und Profiten mehr wachsen, muss diese Art der Finanzierung überdacht werden. Denn um die Gesundheitsvorsorge, die Gemeindeinfrastruktur, Familienleistungen und vieles andere mehr abzusichern, braucht man auch von Vermögenden Beiträge. Zugleich ist die unfaire und gerade aus neoliberaler Sicht verzerrende Verteilung der Lasten zu ändern.
Zudem führt eine Wertschöpfungsabgabe nicht dazu, dass „moderne“, hochtechnische Projekte teurer und altmodische, arbeitsintensive Projekte billiger werden. Sie führt dazu, dass jene Unternehmen, die mehr auf den Einsatz menschlicher Arbeitskraft angewiesen sind, einen geringeren Beitrag und jene, die nur Maschinen einsetzen, einen höheren Beitrag leisten müssen. Beispiele für ersteres sind ein Konstruktionsbüro, ein Softwareunternehmen oder eine Designfirma. Denn Know-how und Kreativität steckt nach wie vor in Menschen, nicht in Maschinen. Der klassische Fall für Letzteres dagegen ist ein Flusskraftwerk. Ab Fertigstellung ist es so gut wie menschenleer und verdient Geld für die AktionärInnen, einfach weil Wasser durch die Turbinen rinnt. Ein ernsthafter Vertreter des Neoliberalismus könnte also ganz klar sagen: Auch BezieherInnen dieser Gewinneinkommen sollten Abgaben leisten, denn damit gibt es weniger Verzerrungen.

Machtungleichgewicht
Was sowohl Arbeitszeitverkürzung als auch Wertschöpfungsabgabe vereint, ist, dass sie auch aus neoliberaler Sicht positiv gesehen werden können. Wenn man akzeptiert, dass nicht alle die gleiche Macht im Aushandeln von Verträgen haben, braucht es Regeln, um jene Reduktion der Arbeitszeit zu erreichen, die sich viele Unselbstständige und Selbstständige wünschen.
Wenn man akzeptiert, dass öffentliche Leistungen wie die Krankenversorgung oder die Unterstützung der Familien nur über Abgaben vernünftig finanziert werden können, dann sagt die neoliberale Theorie, dass nicht die Abschaffung des Sozialstaates, sondern eine andere, fairere und weniger verzerrende Finanzierung die beste Lösung ist.
Die reine neoliberale Theorievorstellung von fairen, freien Märkten mit gleichen Individuen und vollkommener Information gibt ein schönes theoretisches Modell ab. In der Realität trifft es aber nicht zu – und es kann auch nicht zutreffen. Es war das Verdienst der neoliberalen Ökonomie, genau angeben zu können, was alles an Voraussetzungen gegeben sein müsste, damit ein liberaler Markt zum allgemeinen Besten funktionieren kann. Seit damals weiß man aber auch, dass diese Voraussetzungen in der Wirklichkeit nie gegeben sind. Seit damals geht es höchstens noch um die Frage, wie man all die realen Probleme lösen kann, die es gibt, weil die Welt sich leider nicht an die Theorie hält.

Doch während wissenschaftlich lange klar ist, dass totale Deregulierung, umfassende Privatisierung und Wettbewerb in allen Lebensbereichen schlecht sind, hält sich diese Irrmeinung als politischer Glaubenssatz der Neoliberalen bis heute. Und das, obwohl es klare Anzeichen dafür gibt, dass eines der großen Projekte der Nachkriegszeit, nämlich die friedliche Einigung Europas, genau an diesem Dogma zerbrechen könnte.

Die derzeitige EU-Kommission hat den Neoliberalismus zumindest in der Wirtschaftspolitik unkritisch und absolut verinnerlicht. Dies zeigte sich ganz deutlich, als nach der schwersten Krise der deregulierten Finanzmärkte das europäische Sanierungsprojekt für die Krisenstaaten in der Zerschlagung des Sozialstaates und dem Abbau der Gewerkschaftsrechte bestand.
Das einzige Rezept, das diese Fundamentalisten zulassen, heißt: Die Wettbewerbsfähigkeit muss erhöht werden. Die Tatsache, dass dieses Rezept vielleicht für Firmen, aber keineswegs für Länder und schon gar nicht zur Bewältigung einer Finanzkrise zu gebrauchen ist, ist für sie dabei irrelevant. Das Problem der EU mit der Aufnahme der vielen Kriegsvertriebenen aus den Krisenherden dieser Welt ist eine direkte Folge dieser Wettbewerbsideologie. Indem die Europäische Kommission jedem Land, das Hilfe braucht, predigt: „Du musst wettbewerbsfähig sein“ und „Du darfst nichts für sozialen Ausgleich tun“, produzierte sie genau jene Haltung, mit der ein gemeinsames Lösen von Problemen unmöglich wurde. Diese Form von orthodoxem Neoliberalismus hat die Grundlage für eine europäische Krisenbewältigung zerstört. Europa zerbricht sicher nicht an den Flüchtlingen – wenn, dann zerbricht es an einer destruktiven neoliberalen Ideologie.

Wer zu spät kommt …
Nachdem sich die Sowjetunion unter dem Druck der realen Probleme vom orthodoxen Kommunismus verabschiedet hatte, sprach Michail Gorbatschow die berühmten Worte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Insofern ist zu hoffen, dass die EU sich nicht auch zu spät vom neoliberalen Dogma verabschiedet. Mit kompromissorientiertem pragmatischem und von Solidarität getragenem Handeln wäre eine Neuentwicklung einer solidarischen Union immer noch machbar.

Linktipps:
Ein Vergleich wirtschaftspolitischer Strategien mit und ohne Mindestlohn. Reihe: IMK Report, Nr. 31, September 2008, Düsseldorf. ISSN: 1861-3683, 25 Seiten
tinyurl.com/z9qxtfz
Philipp Poyntner (2016), Arbeitszeitverkürzung als Beschäftigungsmotor?
tinyurl.com/hg53qqw
Joseph E. Stiglitz (2002): Demokratische Entwicklungen als Früchte der Arbeit(-erbewegung), Wirtschaft und Gesellschaft Band 28, Nr. 1, S. 9–14
tinyurl.com/jnc2fb3
Georg Feigl, Sepp Zuckerstätter (2012): Wettbewerbs(des)orientierung, Wien: Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien (Materialien zu Wirtschaft und Gesellschaft, 117)
tinyurl.com/zassga5

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